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Gerangel um Studienplätze

Trotz der anhaltenden Probleme des deutschen Bildungssystems will über die Hälfte aller Hochschulzugangsberechtigten ein Studium aufnehmen. Viele fragen sich allerdings: Wo und wie?

Von der viel zitierten Bildungsrepublik ist Deutschland noch weit entfernt. Doch die Hoffnung, über eine qualitativ hochwertige Ausbildung einen (nicht nur) finanziell attraktiven Berufsweg einschlagen zu können, wächst kontinuierlich.

2010 haben nach Angaben [1] des Bundesministeriums für Bildung und Forschung 441.800 Menschen ein Studium aufgenommen. 46 Prozent eines Altersjahrgangs entschieden sich damit für eine akademische Laufbahn. Glaubt man den jüngsten Zahlen [2] der Hochschul-Informations-System GmbH (HIS), ist ein Ende dieser Entwicklung noch nicht in Sicht. Ob Politik und Hochschulen darauf vorbereitet sind, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Unterschiede zwischen Männern und Frauen

30.000 Schülerinnen und Schüler wurden von einer Forschergruppe des HIS im Dezember 2009 befragt. 55 Prozent von ihnen waren "weitgehend sicher", dass sie nach dem Abschluss ein Studium aufnehmen wollten. Weitere 22 Prozent konnten sich diese Variante immerhin vorstellen. Die Studierbereitschaft nahm damit innerhalb von nur zwei Jahren um 5 Prozent zu.

Gleichwohl diagnostizierten die Wissenschaftler einige geschlechtsspezifische Unterschiede. Schon beim Erwerb der Studienberechtigung sollen bei Männern häufiger als bei Frauen "extrinsische Motivlagen" deutlich werden. Das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung (15 Prozent bei Männern vs. 13 Prozent bei Frauen) oder die Hoffnung, in einem bereits erlernten Beruf Karriere zu machen (8 Prozent vs. 6 Prozent), sind bei den potenziellen Nachwuchsakademikern offenbar etwas stärker ausgeprägt.

Projektleiter Markus Lörz macht dafür nicht nur individuelle Faktoren, sondern auch familiäre, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verantwortlich.

Eine tiefer gehende Analyse der Daten zeigt, dass sich Frauen geringere Erträge von einem Studium versprechen. Außerdem trauen sie sich trotz guter Noten seltener ein Studium zu und lassen sich stärker von den erwarteten Studienkosten verunsichern. Hinzu kommt, dass die Eltern eher von den Söhnen als von den Töchtern erwarten, dass sie an die Hochschule gehen. Zusammengenommen führt dies dazu, dass Frauen anteilsmäßig seltener ein Studium in Betracht ziehen.

Markus Lörz

Intergenerationale Statusreproduktion

Es gibt viele Erklärungsversuche für die soziale Auslese im deutschen Bildungssystem. Das Wortungeheuer "intergenerationale Statusreproduktion" gehört zu den sprachlich anspruchsvollsten, allerdings fanden die HIS-Forscher nur wenige Schülerinnen und Schüler, die ihre Absicht, demnächst ein Hochschulstudium aufzunehmen, tatsächlich mit der Fortsetzung ihrer Familientradition begründeten (5 Prozent).

Adel und Großbürgertum verpflichten also nur noch bedingt, doch der Unterschied zwischen Kindern aus Akademikerfamilien und ihren "bildungsfernen" Altersgenossen ist nach wie vor offenkundig. Jene haben laut Studie "eine wesentlich größere Wahrscheinlichkeit", ohne Umwege die Hochschulreife zu erlangen und anschließend zu studieren. In der Studierneigung drücken sich die unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in einer Differenz von 10 Prozent aus.

Doch immerhin: Die Bereitschaft, eine Universität oder Fachhochschule zu besuchen, stieg in beiden Herkunftsgruppen. Bei Studienberechtigten aus einem hochschulfernen Elternhaus wuchs das Interesse um 7 Prozentpunkte (insgesamt 72 Prozent), Akademikerkinder kamen im Vergleich zum Jahr 2008 auf einen Zuwachs von 4 Prozentpunkten (insgesamt 82 Prozent).

Die herkunftsspezifischen Disparitäten in der Studierneigung haben sich beim aktuellen Jahrgang somit um 3 Prozentpunkte reduziert, sind aber nach wie vor beachtlich.

Markus Lörz/Heiko Quast/Andreas Woisch: Bildungsintentionen und Entscheidungsprozesse

Überflüssig zu erwähnen, dass die wachsende Studierbereitschaft nicht unbedingt eine Reaktion auf eine Qualitäts- oder auch nur Attraktivitätssteigerung des Bildungssystems und seiner Hochschulen bedeutet. In der Mehrheit der Fälle wird die Hochschulreife vor allem erworben, um nach der Schule über "möglichst viele Optionen" zu verfügen.

Mitautor Heiko Quast sieht hier "eine relativ große Unsicherheit der Schulabgänger mit Blick auf ihren weiteren Werdegang". Probleme bereiteten den Studienberechtigten insbesondere die unsichere, schwer zu kalkulierende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Vermutlich pflegen die Schüler auch deshalb eine fast schon obligatorische Vorliebe für wirtschaftswissenschaftliche Fächer und Lehramtsstudiengänge.

Ermutigendes Signal?

Wie die Bundesregierung auf die HIS-Studie reagieren würde, war absehbar. "Das ist ein ermutigendes Signal gegen den Fachkräftemangel und für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes", wollte Bildungsministerin Annette Schavan festgestellt wissen. Keine Überraschung angesichts der Tatsache, dass ihr Ministerium die Untersuchung finanziert hat.

Doch tendenziell positive Nachrichten nimmt auch der Rest der Republik gerne mit, auf dass kommende Generationen ihr Geld nicht doch als Spaghettiträger [3], Seelenverkäufer [4], Milchwächter [5] oder Brotmesser [6] verdienen müssen.

Damit die eventuellen Nachwuchsakademiker überhaupt die Chance haben, ein möglichst hochwertiges Studium aufzunehmen, wurde der von Bund und Ländern finanzierte Hochschulpakt [7], der jeden neuen Studienplatz mit 22.000 Euro subventioniert, verlängert und aufgestockt. Doch selbst tendenziell regierungsfreundliche Einrichtungen wie das Bertelsmann nahe Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) gehen längst davon aus, dass die bereitgestellten Mittel nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken.

Es fehlen 50.000 Studienplätze

Neben dem gewachsenen Interesse an einer Hochschulausbildung könnten die Aussetzung der Wehrpflicht und doppelte Abitur-Jahrgänge entscheidend dazu beitragen, dass die Prognosen der Politik allein bis 2015 um mehr als 200.000 Studienanfänger übertroffen werden.

Schon im kommenden Wintersemester 2011/12, für das sich derzeit geschätzte 500.000 Studienanfänger bewerben, fehlen "mindestens 50.000 Studienplätze", warnt [8] CHE. Ab 2012 soll sich das Defizit auf 25.000 Plätze pro Jahr belaufen. Geschäftsführer Christian Berthold fordert deshalb, die Deckelung des Hochschulpakts endlich aufzuheben und die Ausstattung nicht länger an Planzahlen, sondern an der tatsächlichen Nachfrage zu orientieren.

Dass der Start eines vollmundig angekündigten Systems der Studienplatzbewerbung für örtlich zulassungsbeschränkte Fächer um ein Jahr verschoben [9] werden musste, passt in das Bild vielfach überforderter Bildungspolitiker. Gut möglich also, dass Spezialisten wie die Rechtsanwaltskanzlei Naumann zu Grünberg [10] in den kommenden Monaten wieder reichlich zu tun haben …

Betreuungsverhältnisse

Fehlende Studienplätze und steigende Kosten sind freilich nur zwei Konsequenzen der Gesamtmisere. Auf die möglichen inhaltlichen Folgen überlasteter Hochschulen wies [11] vor wenigen Tagen wiederum das CHE hin. Mit der Bemerkung, dass die Zunahme der Studierenden von 2007 bis 2010 bereits "in wesentlichem Umfang durch Lehrbeauftragte" kompensiert worden sei.

Das Verhältnis von Professoren, deren Unterrichtsdeputat in zehn Bundesländern erhöht wurde, und Studenten hat sich in diesem Zeitraum weiter verschlechtert (2007 – 1:51, 2010 – 1: 53,5). Dafür wurden 30 Prozent mehr Lehrbeauftrage zum vielerorts gängigen Billigtarif beschäftigt. Ihre Anzahl wuchs auf 84.000, und die wissenschaftlichen Hilfskräfte mit Zeitverträgen verdoppelten sich gar auf rund 28.000.

Inwiefern mit dieser Strategie Aspekte der Qualitätssicherung in der akademischen Lehre einerseits und qualifikationsadäquate Beschäftigungsperspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs andererseits verbunden sind, kann die übergreifende Datenanalyse nicht zeigen. Dies muss aber diskutiert werden.

Christian Berthold, Geschäftsführer von CHE Consult

Vielleicht hätten diese Aspekte auch schon längst diskutiert werden sollen.

Eignungstest und Abschluss-Bonus

Die SPD ist in den letzten Jahren kaum irgendwo als Ideengeber aufgefallen, doch der verfahrene Bildungsstreit hat selbst die Genossen aus dem programmatischen Tiefschlag geweckt. Sie plädieren – noch nicht besonders lautstark, man ist schließlich in einer Arbeitsgruppe, aber immerhin - für einen "Hochschulpakt Plus" [12], der neben einer finanziellen Ausweitung und zeitlichen Verlängerung den Ausbau von Master-Studienplätzen vorsieht, der bis dato nur schleppend vorangeht.

Darüber hinaus soll ein "Abschluss-Bonus" gezahlt werden. Leider nicht für die Studierenden, die es trotz allem zum Bachelor oder Master gebracht haben, sondern als "Anreiz für gute Lehre".

Wir schlagen deshalb vor, zusätzlich einen "Abschluss-Bonus" als neue Säule des Hochschulpaktes einzurichten. Dieser soll den Hochschulen beim Studien-Abschluss eines/r Studierenden gewährt werden, wenn sie ein Bachelor-, Diplom-, Magister- oder Masterstudiengang erfolgreich absolviert bzw. ein erstes Staatsexamen abgelegt haben. Dafür sollen ab 2012 vom Bund ansteigend Mittel zur Verfügung gestellt werden, die ab 2016 2000 Euro für jeden Studien-Abschluss ausmachen. Ab 2016 wären dies nach der oberen Variante der Vorausberechnungen der Absolventenzahlen des Bildungsberichtes 2010 zusätzliche Mittel für bessere Betreuung und Beratung an den Hochschulen von jährlich bis zu einer Milliarde Euro, die dann nach dem Bund-Länder-Finanzierungsschlüssel 50:50 getragen werden müssten.

SPD-Arbeitsgruppe Bildung und Forschung – April 2011

Für die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen könnte sich dieses Konzept lohnen, denn die Hochschule will [13] auf absehbare Zeit 75 Prozent aller Studienanfänger auch zum regulären Abschluss führen.

Davon ist man derzeit weit entfernt. Die Abbrecherquote soll in den Geistes- und Naturwissenschaften bei deutlich über 50 Prozent liegen. Bundesweit bleibt durchschnittlich jeder vierte Studienanfänger ohne Abschluss [14] – das ist die immer noch überraschende Kehrseite des vermeintlich hohen Interesses an Hochschule und Studium.

Die RWTH setzt ab sofort auf einen verpflichtenden Online-Eignungstest [15], der mit einer anonymisierten Ergebnisrückmeldung beantwortet wird.

Ziel des Online-Tests ist es, dass die Interessenten die Anforderungen des Studiums kennenlernen und die eigenen Neigungen und Eignungen selber prüfen.

RWTH Aachen

Die Selbsterforschung kann unter Umständen zwei Stunden dauern. Zu lang, meinte der eine oder andere AStA-Vertreter, doch die künftige Akademikergeneration ließ sich davon offenbar nicht abschrecken. "Aufgrund von sehr hohen Zugriffszahlen" empfahl die Hochschule ihren möglichen Studierenden Anfang der Woche, die "SelfAssessments" nicht in den späten Abendstunden, sondern lieber am Vormittag durchzuführen. Zeitweise musste der Betrieb sogar ausgesetzt werden.

In diesem Fall kann immerhin mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Verantwortlichen die Probleme in den Griff bekommen. Was die zeitnahe Behebung vieler anderer Baustellen angeht, ist Skepsis angeraten.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3390830

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bmbf.de/press/3138.php
[2] http://www.his.de/pdf/pub_fh/fh-201114.pdf
[3] http://www.tastethecake.de/tl_files/tastethecake/content/bilder/bilder_berufe/berufe-01.jpg
[4] http://www.tastethecake.de/tl_files/tastethecake/content/bilder/bilder_berufe/berufe-02.jpg
[5] http://www.tastethecake.de/tl_files/tastethecake/content/bilder/bilder_berufe/berufe-03.jpg
[6] http://www.tastethecake.de/tl_files/tastethecake/content/bilder/bilder_berufe/berufe-04.jpg
[7] http://www.bmbf.de/de/6142.php
[8] http://www.che-concept.de/cms/?getObject=5&getNewsID=1304&getCB=398&getLang=de
[9] http://hochschulstart.de/fileadmin/downloads/presse/PM-hochschulstart_2011_04_12.pdf
[10] http://www.uni-recht.de
[11] http://www.che.de/downloads/CHE_Bericht_HSPI_Betreuung_1317.pdf
[12] http://www.swen-schulz.de/fileadmin/pdf/HochschulpaktPlusSwenSchulzApril2011.pdf
[13] http://www.wdr.de/wissen/wdr_wissen/themen/schule_beruf/aktuell/2011/08/online_hochschultest.php5
[14] http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2011/06/PD11__225__213,templateId=renderPrint.psml
[15] http://www.global-assess.rwth-aachen.de/rwth/tm/