Gerechtigkeit im befreiten Irak

Da der Internationale Strafgerichtshof von der US-Regierung boykottiert wird, sucht sie jetzt nach einer Möglichkeit, nach dem Sieg Hussein und andere Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen

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Nachdem die Bush-Regierung mit allen Konsequenzen nicht nur den Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof verweigert, sondern auch versucht, durch bilaterale Abkommen mit einzelnen Staaten für alle US-Bürger und Bürger befreundeter Staaten Immunität zu garantieren, und mit dem "American Servicemembers' Protection Act" sogar mit militärischer Gewalt gegen den ICC droht, entsteht im Fall Irak eine Lücke. So wie mit (angeblichen) al-Qaida-Mitgliedern und Taliban-Kämpfern wird man mit Hussein und anderen Angehörigen des Regimes nicht mehr verfahren können (Das Recht auf Willkür im Krieg). Sollten diese bei einem Krieg in Gefangenschaft geraten, so müsste zu ihrer Verurteilung ein Verfahren vor einem Gericht stattfinden, um nicht den Vorwurf der Willkür Tür und Tor zu öffnen.

Eine F-16CG der US-Luftwaffe über dem Nordirak

While there are many dangers in the world, the threat from Iraq stands alone - because it gathers the most serious dangers of our age in one place.... By its past and present actions, by its technological capabilities, by the merciless nature of its regime, Iraq is unique.

Präsident Bush am 7.10.2002

Eigentlich haben die Amerikaner mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nach der Niederschlagung des Nazi-Deutschlands eine vorbildliche Konsequenz für einen vollzogenen "Regimewechsel" vollzogen, wie die Bush-Regierung dies auch völkerrechtlich fragwürdig nun ziemlich unverhohlen unter dem Deckmantel der angeblichen Entwaffnung und der Durchsetzung der UN-Resolutionen mit dem Irak machen will. Die Nürnberger Prozesse leiteten die Geburt eines neuen Völkerrechts ein, das nicht sehr konsequent, aber doch direkt zu den Ad-hoc-Tribunalen für Jugoslawien und Ruanda und schließlich zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs. Im Unterschied zu den anderen nichtpermanenten Gerichtshöfen soll dieser allerdings nur zuständig sein, wenn die nationale Rechtssprechung schwere Straftaten (Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) nicht wirklich verfolgen kann und will.

So problematisch die bislang äußerst lückenhafte Verfolgung von Kriegsverbrechen bislang gewesen ist, so hat die US-Regierung mit dem Rückzug aus dem Statut von Rom und dem Versuch, sich durch bilaterale Verträge Immunität zu sichern, doch das selbst in Gang gesetzte neue Völkerrecht untergraben. Das ist umso bedenklicher, als die Bush-Regierung nunmehr vermehrt eine mögliche Entmachtung des Diktators durch einen Krieg mit oder ohne Unterstützung der UN auch mit den Menschenrechtsverbrechen im Unrechtssystem zu legitimieren sucht.

Schwere Kriegsverbrechen und Vergehen gegen die Menschlichkeit sind Hussein in der Tat reichlich vorzuwerfen. Allerdings werfen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty oder Human Rights Watch der US-Regierung und anderen westlichen Ländern schon seit Jahren vor, bislang auch vor den Vergehen vor dem Golfkrieg die Augen geschlossen zu haben. So geschahen die Angriffe mit chemischen Waffen gegen iranische Soldaten und gegen irakische Dörfer, bei denen 1988 Zehntausende von Menschen umkamen, noch zu der Zeit, als Hussein ein befreundeter Staatsmann der damaligen US-Regierung war. Selbst Bestandteile für chemische und biologische Waffen wurden von den USA und anderen Ländern an den Irak geliefert.

Iraq has longstanding ties to terrorist groups, which are capable of and willing to deliver weapons of mass death. And Iraq is ruled by perhaps the world's most brutal dictator who has already committed genocide with chemical weapons, ordered the torture of children, and instituted the systematic rape of the wives and daughters of his political opponents.

Präsident Bush am 5. 10. 2002

Wie Human Rights Watch berichtet, habe die Organisationen in den 90er Jahren parallel zu den Ad-hoc-Tribunalen für Jugoslawien und Ruanda versucht, Saddam Hussein der internationalen Gerichtsbarkeit zu unterziehen, vornehmlich wegen der im Jahr 1998 geschehenen Verbrechen. Russland, China und Frankreich hätten damals mit einem Veto im Sicherheitsrat gedroht. Klage vor dem ICC aber könne nur ein Staat einreichen, den aber habe man aus verschiedenen Gründen nicht gefunden, während die USA ausgefallen ist. Allerdings ist die Hürde beim ICC, dass es nur solche Fälle verhandeln kann, die nach seiner Gründung geschehen sind. Das schloss die Verbrechen von 1988 also aus, Kenneth Roth von HRW kritisiert gleichwohl, dass man keine Klage wegen Kriegsverbrechen vor einer militärischen Aktion durchgeführt habe.

Kriegsverbrecherprozesse aber will die US-Regierung offenbar zumindest nach einem Sieg über Hussein stattfinden lassen. Auch die Vorbereitung darauf weist darauf hin, dass ein "Regimewechsel" vorgesehen ist. Jetzt sollen nach jahrelanger Versäumnis vom Außenministerium, dem Pentagon und den Geheimdiensten Beweise für die Kriegsverbrechen, Massenhinrichtungen, ethnischen Säuberungen, Vergewaltigungen, Folterungen und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Hussein-Regimes gesammelt werden, wie die Los Angeles Times berichtet, um Prozesse gegen Hussein und die "dirty dozen" führen zu können. Dazu gehören zwei Söhne, drei Halbbrüder und ein Cousin Hussein oder Ali Hassan Majid, der für den Einsatz der chemischen Waffen 1988 verantwortlich war.

Wir müssen unseren Teil zur Dokumentation der Verbrechen leisten und die Beweise sammeln, die darauf hinweisen, wer dafür verantwortlich ist. Wir sind der Meinung, dass man die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen muss. Man kann den Tod von mehr als 100.000 Menschen nicht beiseite wischen.

Pierre-Richard Prosper

Prosper, der Gesandte der amerikanischen Regierung für Kriegsverbrechen, hatte bereits zur Begründung der Ablehnung des ICC erklärt, dass "souveräne Staaten in ihrem Geltungsbereich Recht sprechen" sollen, wenn dies durchführbar ist und glaubwürdig geschieht. Ganz der Post-Hussein-Regierung im befreiten Irak will die US-Regierung die Gerichtsbarkeit offenbar aber nicht überlassen. Die höchsten Regimeangehörigen sollen in einem "freien Irak" vor ein Gericht mit irakischen und ausländischen Richtern, wozu wahrscheinlich auch US-amerikanische zählen, gestellt werden. Die Frage ist, welche Legitimität ein solches Gericht besitzt, wenn es nicht von der UN eingesetzt wird. Zur Rechenschaft gezogen werden sollen die Angeklagten wegen der Verletzung nationalen und internationalen Rechts. Die Verfahren wegen Kriegsverbrechen gegen andere Iraker sollen dann nationalen Gerichten überlassen werden, die viel zu verhandeln haben werden, nachdem Hussein bereits seit 1979 an der Macht ist. Diese Prozesse sollen das Rechtssystem wieder beleben und im Irak verankern. Die größte Gruppe der Menschen soll nicht vor Gericht gestellt werden. Geplant ist dafür eine Wahrheitskommission einzurichten, die eine Amnestie aussprechen kann, wenn die begangenen Verbrechen gestanden werden.

Bei den Kriegsverbrechen auf der ganzen Welt haben wir gelernt, dass es unmöglich ist, jeden Täter zu verfolgen, da die Zahl dafür zu groß ist. Man muss sich mit den führenden Personen beschäftigen, um ein starkes Signal zu setzen, dass das Recht sich durchsetzen wird. Doch der Umgang mit der Balance der Fälle ist flexibler und hängst von den gesellschaftlichen Bedürfnissen ab.

Pierre-Richard Prosper

Michael Amitay vom Washington Kurdish Institute ist ebenso wie die Menschenrechtsorganisationen der Meinung, dass es besser gewesen wäre, schon früher gegen die bekannten Menschenrechtsverletzungen des Regimes rechtlich vorzugehen:

Die ganzen Jahre haben die USA es verpasst, eine führende Rolle dabei einzunehmen, das Regime zur Rechenschaft zu ziehen. Das hätte auch geschehen können, ohne es zu stürzen. Die USA hätte ein Verfahren anschieben können, das die Kriminalität des Regimes aufgezeigt und es weiter von anderen Ländern isoliert hätte, so dass jeder irakische Regierungsangehörige, der den Irak verlässt, festgenommen und ausgewiesen worden wäre. Wenn man etwas gemacht hätte, dann wären wir wahrscheinlich nicht da, wo wir jetzt stehen."

Manche aus der irakischen Opposition befürchten auch, dass die USA sich nach einem Militärschlag, wenn er nicht zum Sturz von Hussein führt, wieder zurückziehen könnten. Dann könnten womöglich Hussein oder andere Angehörige des Regimes blutige Rache an der Opposition nehmen, so wie dies 1991 nach dem Aufstand von Schiiten und rebellierenden Soldaten in Basra und anderen Städten im Süd-Irak sowie nach dem Kurdenaufstand geschehen ist. Sie wurden von Regierungstruppen niedergeschlagen, als abzusehen war, dass die USA und die Alliierten nicht weiter gegen das Regime vorgehen werden. Bis zu zwei Millionen Kurden sind in den Iran oder in die Türkei geflohen.

Dass auch schon ein Krieg gegen den Irak mit der Absicht eines "Regimewechsels" völkerrechtlich nicht in Ordnung geht, darauf haben Lord Goldsmith und Harriet Harman, die britische Generalstaatsanwältin, dem Bush-Getreuen Tony Blair klar gemacht. Anders als die USA hat Großbritannien aber das Statut von Rom unterzeichnet. Bei einem Angriff, der nicht vom Sicherheitsrat gedeckt wird, könnte daher Blair - zumindest theoretisch - vor den ICC zitiert werden. Ob dann bereits Präsident Bush aufgrund des "American Servicemembers' Protection Act" einschritten würde, dürfte eine interessante Frage sein, auch wenn sie hypothetisch bleibt - was wiederum auf die Macht des ICC ein Licht wirft.