German Angst reloaded
Die Corona-Proteste als Sammlungsbewegung politischer Empörung
Spätestens seit dem 29. August 2020 sind die Demonstrationen der selbsternannten "Corona-Skeptiker" in aller Munde. An diesem Tag mobilisierten ihre Proteste gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen und die gesellschaftspolitischen Folgen nach Angaben der Polizei mehrere zehntausend Menschen nach Berlin. Unter den Teilnehmenden aus dem gesamten Bundesgebiet und dem europäischen Ausland waren auch zahlreiche Anhänger der extremen Rechten.
Am Abend konnten mehrere hundert Teilnehmer einer parallelen Kundgebung vor dem Reichstagsgebäude die Absperrungen rund um das Parlament überwinden und für kurze Zeit die Treppen davor besetzen (Was ist eigentlich am Samstag am Reichstag passiert?). Die Bilder von wehenden schwarz-weiß-roten Reichsfahnen vor dem Sitz des Deutschen Bundestages sorgten für Entsetzen. Im Anschluss entzündeten sich heftige Diskussionen um die Corona-Proteste, ihre Akteure und ihr Verhältnis zu extremen Rechten.
Entwicklung der Corona-Proteste
Die Anfänge der gegenwärtigen Proteste liegen in Berlin und Stuttgart. Dort kam es jeweils seit Anfang April 2020 zu ersten Zusammenkünften gegen die staatliche Corona-Politik. Während die Kundgebungen in Berlin aufgrund der Eindämmungsverordnungen anfänglich verboten waren und regelmäßig von der Polizei aufgelöst wurden, erlaubte die Stadt Stuttgart die Versammlungen der Gruppe "Querdenken".
Als legales Angebot wurden sie zu einem bundesweiten Anziehungspunkt und die Organisierenden zu Stichwortgeber der Proteste. Daneben entstanden in vielen Städten thematisch vergleichbare Protestformate. Sie hatten jedoch nur selten Bestand und kaum eine erhöhte Mobilisierungskraft. Neben dem vor allem in Süddeutschland bestehenden Netzwerk von "Querdenken" sind die lokalen Strukturen eher lose miteinander verbunden. Versuche zum Aufbau überregionaler Vernetzungen, wie der Partei "Widerstand2020", scheiterten größtenteils, sodass Streit und Spaltungen die Entwicklung der Proteste maßgeblich begleiteten.
Dementsprechend heterogen waren auch die Demonstrationsteilnehmenden in Berlin. Die Corona-Proteste sind keine einheitlich agierende politische Bewegung mit einer verbindenden Programmatik. Vielmehr handelt es sich um eine Patchwork-Bewegung. Zusammengehalten wird sie hauptsächlich von der Empörung über die staatlichen Corona-Maßnahmen. Die konkreten politischen Zielvorstellungen variieren teilweise stark. So fordert die Redaktion der kostenlosen Zeitschrift "Demokratischer Widerstand" die "Wiederherstellung der Freiheitsrechte" nach der bundesdeutschen Verfassung, wohingegen andere Gruppen die Corona-Proteste nutzen, um Reichsbürgerideologie zu verbreiten.
Keine Unterwanderung von rechts
Diese politische Indifferenz geht mit einer deutlichen Unfähigkeit zur Abgrenzung gegenüber antidemokratischen Positionen einher. Insbesondere extrem rechte, verschwörungsideologische oder (rechts-)esoterische Kreise können nahezu ungehindert teilnehmen. Demokratietheoretisch ist das problematisch, da die entsprechenden Gruppe so als vermeintlich akzeptable politische Akteure normalisiert werden und ihren zuvor stark begrenzten Resonanzraum erweitern können.
Dazu trägt auch das unübersichtliche Demonstrationsgeschehen bei. Statt einer zentralen Demonstration gab es teilweise mehrere parallele Veranstaltungen unterschiedlicher Spektren sowie spontane Ansammlungen. Zwischen ihnen entsteht ein beständiger Fluss an Teilnehmenden. So können auch ideologisch weniger gefestigte Demonstrierende unkompliziert mit rechten Inhalten, wie den Reichsbürgerkundgebungen des ehemaligen NPD-Politikers Rüdiger Hoffmann vor dem Reichstagsgebäude, in Kontakt kommen. Eine klare räumliche wie ideologische Abgrenzung fehlt.
Wenn sich jetzt der Organisator der "Querdenken"-Demonstration, Michael Ballweg, von extrem rechten Akteuren, wie dem selbsternannten "Volkslehrer" Nikolai Nerling, distanziert, kommt das zu spät. Im Angesicht wahrscheinlich mehrfacher[1] Treffen[2] der beiden, die Ballweg mittlerweile abstreitet, wirkt der vermeintliche Kurswechsel wie eine strategische Abwehr der zunehmenden öffentlichen Kritik.
Bereits ein Blick auf die Homepage von "Querdenken" lässt an der Glaubwürdigkeit solcher Abgrenzungen zweifeln. Dort sind beispielsweise weiterhin zahlreiche Videos der verschwörungsideologischen Querfront-Plattform "KenFM" zu finden. Zu lange hatten Ballweg und seine Organisation zuvor kritische Stimmen ignoriert. Noch Anfang August konnte in Berlin beispielsweise ein Wagen der völkischen Gruppierung "Patriotic Opposition Europe" offiziell an der Demonstration teilnehmen oder rechte Verschwörungsideologen auf der Abschusskundgebung sprechen. Auch der Pressesprecher von "Querdenken", Stephan Bergmann, war lange in der Reichsbürgerszene aktiv und scheint deren Ideen weiterhin zu unterstützen.
An diesem Punkt ist auch der inzwischen weit verbreiteten Annahme, die "Corona-Proteste" wären von rechts unterwandert, zu widersprechen. Rechte und rechtsaffine Personen waren seit Beginn bundesweit auf den Versammlungen vertreten. Sie haben sie unterstützt oder in einigen Städten teilweise mitorganisiert. Protestformate, wie die sonntäglichen Kundgebungen an der Bundesstraße 96 in Sachsen, sind Sammelbecken für Reichsbürger und Neonazis und Gruppierungen, wie die bundesweiten Zusammenschlüsse der selbsternannten "Corona-Rebellen" verfügen vielfältige Schnittpunkte zur extremen Rechten. Von beiden Strukturen waren Vertreter bei den Protesten in Berlin anwesend.
Insgesamt wären die Proteste in ihrer jetzigen Form ohne eine andauernde Unterstützung von rechts nicht möglich gewesen. Diese stillschweigende Akzeptanz liegt unter Umständen in gewissen ideologischen Schnittmengen begründet, denn die Kritik an den staatlichen Maßnahmen im Umgang mit der Corona-Pandemie ist mitnichten exklusiv von rechts besetzt.
Rechte Anschlusspunkte
Im Gegensatz zu einer linken Perspektive vernachlässigen die gegenwärtigen Corona-Proteste jedoch soziale Fragen nach einem solidarischen Umgang mit der Krise, der über eine eigene Betroffenheit hinaus geht. Sie sind größtenteils der Ausdruck egoistischer Einstellungen, beispielsweise als individueller Unwillen, eine Maske zu tragen, oder nationalistisch-chauvinistischer Vorstellungen, die die weltweiten Gefahren des Virus allein auf den "Standort Deutschland" verengen.
Zudem sind die Corona-Proteste stark von autoritär-demokratischen Vorstellungen durchzogen. Das heißt, die Teilnehmenden verstehen sich größtenteils als Vertreter einer gesellschaftlichen Mehrheit. Daraus leiten sie einen nahezu exklusiven Anspruch auf politische Repräsentation ab.
Solchen Vorstellungen liegt ein vereinfachtes Bild von Demokratie zu Grunde. Es verkennt die Notwendigkeit eines demokratischen Aushandlungsprozesses als Widerstreit unterschiedlicher Positionen, der Minderheiten mit einschließt. Extrem rechte Vorstellungen einer politisch homogenen "Volksgemeinschaft" können an dieses antiplurale Demokratieverständnis eher anschließen als Ideale einer diversen Einwanderungsgesellschaft.
Dies könnte auch erklären, warum seit Beginn der Proteste kaum Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten auf den Versammlungen oder in den Chatgruppen anwesend sind. Selbst ohne Reichsfahnen als unmittelbare Ausgrenzungsmarker denkt der vorherrschende weiß-deutsche Mehrheits-Habitus sie nicht mit und spricht sie nicht direkt an. So sind beispielsweise die Repräsentant der Proteste überwiegend weiß und die Reden, Flyer oder Homepages sind nahezu ausschließlich auf Deutsch verfasst. Andere Demonstrationsformate, nicht nur im antirassistischen Bereich - wie Pride-Paraden sowie stadt- oder umweltpolitische Proteste - sind wesentlich diverser.
So dienen die bundesweit mobilisierten Massendemonstrationen der Corona-Proteste einer öffentlichen Präsentation der imaginierten politischen Mehrheit, um als Verkörperung des deutschen "Volks"-Souveräns politischen Druck aufzubauen. Vor diesem Hintergrund sind die teilweise tausenden Demonstrierenden aus dem Spektrum der extremen und völkischen Rechten eine willkommene "Füllmasse". Ihre Akzeptanz wird dadurch erleichtert, dass sie zwar mit rechten oder geschichtsrevisionistischen Symboliken auftreten, aber auf die Ausstellung eines aggressiven Rassismus größtenteils verzichten.
Eine weitere Empörungsbewegung
In diesem Sinne gehen die sich nicht selbst als rechts betrachtenden "Corona-Skeptiker" und Anhänger der extremen Rechte eine Symbiose ein: Präsenz im Tausch gegen öffentliche Akzeptanz. Den Hintergrund davon bilden geteilte Vorstellungen eines nach autoritären Maßstäben geordneten gesellschaftlichen Zusammenlebens. Obwohl sie sicher nicht in jedem Detail übereinstimmen, verfügen sie über ausreichende Schnittmengen.
Vergleichbare Dynamiken gab es in den vergangenen Jahren unter anderem bei den "Montagsmahnwachen für den Frieden" oder PEGIDA. Die Corona-Proteste schließen bewegungswissenschaftlich betrachtet mit einem neuen Thema an diese Tendenz an. Sie sind Teil einer besorgniserregenden Entwicklung, wonach immer größere Teile der bundesdeutschen Bevölkerung autoritäre Einstellungen - nicht nur empirisch nachweisbar - teilen, sondern auf der Straße eine entsprechende Politik einfordern.
Die jeweiligen Gründe für diese gesellschaftspolitische Wende ins Autoritäre, die weltweit zu beobachten ist, sind vielfältig. Dabei zeigt der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen den schwindenden Rückhalt von Regierungshandeln in relevanten Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung.
Der Vertrauensverlust als Krise politischer Repräsentation ist auch der Effekt langfristiger gesellschaftspolitischer Verschiebungen. Diese zeichnen sich durch eine verstärkte Ausrichtung staatlichen Handelns an den ökonomischen Vorgaben einer neoliberalen Verwaltungslogik aus. Politische Entscheidungen in einer solchen "marktkonformen" Demokratie, in den Worten Angela Merkels, werden als vermeintlich alternativlos präsentiert und zugleich als entsprechend intransparent wahrgenommen. Wenn diese dann soziale Einschnitte, den Verlust von Privilegien oder Lebensqualität bedeuten, entsteht bei den Betroffenen aus der fehlenden demokratischen Vermittlung ein Empörungsreservoir.
Dieses diffuse Gefühl, von "denen da oben" alleine gelassen zu werden, sprechen die Proteste, wie PEGIDA oder die Demonstrationen der "Corona-Skeptiker", an und kanalisieren es. So treffen selbst gesundheitspolitisch nachvollziehbare und notwendige Entscheidungen auf einen erbitterten Widerstand. Die bundesweiten Corona-Proteste gehen somit über das Kernthema hinaus und verweisen auf vielfältige demokratietheoretische Probleme. Die Akzeptanz rechter Akteure ist in diesem Kontext leider nur ein Symptom.
Sebastian Sommer ist Theaterwissenschaftler mit einem protestwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt. Momentan promoviert er an der Freien Universität Berlin zu den PEGIDA-Demonstrationen in Dresden als performative Ausdrucksform eines völkisch-autoritären Populismus. Er ist Ko-Moderator des Arbeitskreises "Rechte Protestmobilisierungen" am "Institut für Protest- und Bewegungsforschung" in Berlin. Die Corona-Proteste verfolgt er seit ihrem Aufkommen kritisch.