Gescheiterte Staaten oder gescheiterte Statistik?

Failed States Index: Hat Deutschland mehr Vigilanten als die USA?

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Der Fund for Peace ist eine amerikanische Forschungsorganisation, die privat finanziert wird und unter anderem versucht, Ursachen und Gründe für das Scheitern von Staaten zu identifizieren. Dazu wird einmal im Jahr eine bunte Karte veröffentlicht, aus der sich der Zustand der Staaten der Welt ablesen lässt.

Die Karte verwendet vier Farben: rot für „Alarmstufe Rot“, mit Ländern wie Irak oder Afghanistan, orange für „Warnung“ (u.a. Russland und China), gelb für „mäßig gefährdet“ (Länder wie Panama, Mongolei oder Deutschland) und grün für „nachhaltig“, d.h. die Horte des Friedens (Schweiz, Niederlande oder Finnland). Manche Wertungen wirken schon prima facie merkwürdig: Sudan angeblich schlimmer als Irak oder Somalia, Moldawien schlimmer als Eritrea oder Guatemala etc. etc.

Die Karte kommt mit einer umfangreichen Tabelle, aus der ersichtlich wird, wie sie gewonnen wurde. Der Fund unterscheidet zwölf Kategorien (Probleme mit Demographie, Flüchtlingen, „Group Paranoia“, Emigration, ungleicher Reichtumsverteilung, Wirtschaftsentwicklung, Verlust der staatlichen Legitimation, staatliche Dienste, Menschenrechtsverletzungen, Sicherheitskräfte als Staat im Staat, Nationalismus, ausländische Interventionen) und vergibt pro Kategorie 0 bis 10 Punkte. Der "Highscore" liegt also bei 120, das Minimum bei 0 Punkten. Musterstaat Norwegen hat 17,1 Punkte, Sudan ist Failed-State-Tabellensieger mit 113,7 Punkten.

Deutschland im gelben Bereich

Die Kategorien werden gleich gewichtet - und schon hier zeigt sich, dass das System reichlich absurd ist. Angenommen, ein Land ist ein Musterstaat (überall sonst Note 1), entscheidet sich aber, eine Minderheit zu ermorden (10 Punkte für Gruppenparanoia, Emigration, Menschenrechtsverletzungen, Staat im Staat, Nationalismus). Damit wäre unser Land im gelben Bereich.

Auch die einzelnen Wertungen sind schwer nachvollziehbar. Nehmen wir Deutschland als Beispiel. Es hat in Sachen Demographie 3,9 Punkte, die offensichtlich aus Überalterung herrühren. Aber Italien, mit noch niedrigerer Geburtenrate, bringt es nur auf 3,6 Punkte. In Sachen Flüchtlinge gibt es 4,8 Punkte, der dritthöchste Wert überhaupt für Deutschland. Offensichtlich ist der Fund for Peace wenig begeistert vom liberalen deutschen Asylrecht, denn das in dieser Hinsicht sehr restriktive Finnland bekommt 1,6 Punkte. „Group Paranoia“ scheint etwas mit der Marginalisierung von Gruppen, internen Bruchlinien im Staat und Rachegelüsten für vergangene Verbrechen zu tun zu haben. Deutschland kommt auf 4,9 Punkte und schlägt damit Mozambique (4,7) oder Südafrika (4,7). Israel und Libanon, beide 9 Punkte, übertreffen sogar den offenen Bürgerkrieg von Somalia (8,5). In Sachen ungleicher Reichtumsverteilung/Wirtschaftsentwicklung steht Deutschland mit seinen 5,5 Punkten schlecht in Westeuropa da und bewegt sich erstaunlicherweise in der Nachbarschaft der USA (5,8), Ölmonarchien (Saudi-Arabien: 6,5, VAE: 5,2) und südamerikanischen Ländern (Argentinien: 5,2, Chile: 4).

Wenigstens in Sachen wirtschaftliche Entwicklung (Deutschland: 3) brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, solange wir vor Singapur (3,4) und China (4) führen. Außerdem sind wirtschaftlich noch erfolgreichere Staaten wie Frankreich (2,8) oder Schweden (1,3) so nah. Wirklich gut ist Deutschland mit 1,7 Punkten in Sachen staatliche Dienste - meint jedenfalls der Fund for Peace . Offensichtlich gingen der Ausfall von Schulstunden und die Freilassung von dringend Tatverdächtigen wegen Richtermangel nicht in die Bewertung ein. Noch besser bewertet werden der öffentlichen Dienst der USA (1,4) und das französische Staatswesen, wo die Angestellten bekanntermaßen selten streikenden (1,4). Da ist es beruhigend zu wissen, dass Länder wie Luxemburg (2,6) soviel mehr unter ihren Staatsapparat zu leiden haben.

Die nächsten beiden Punkte scheinen sich leicht zu überschneiden: Ausschaltung der Justiz/Menschenrechtsverletzungen/Eingriffe in Pressefreiheit/Politisch motivierte Gewalt sowie (2. Punkt) Polizei/Armee als Staat im Staat/Unabhängige bewaffnete Gruppen. Deutschland kommt auf 2,9/2,5. Zum Vergleich: Die USA bekommt 4,6/1,3, Schweden 1,4/0,9, Frankreich 3,2/1 und Rumänien 4,8/3,4.

Offensichtlich bewegen sich die politisch motivierten Übergriffe auf Minderheiten und die Eingriffe in die Pressefreiheit auf einem normalen Niveau, während wir hier in Deutschland ein Problem mit Eliteeinheiten, Privatmilizen und Vigilanten haben, und zwar ein fast doppelt so großes wie die USA. Oder meinen die Fund-for-Peace-Experten doch eher Antifa-Vigilanten und gewaltbereite sächsische Regionalliga-Fans?

Die nächste Kategorie betrifft die "fragmentierten Eliten" - d.h. es wird bewertet, ob es Bruchstellen innerhalb der führenden Klassen gibt. Dass der Irak mit 9,7 näher an Nigeria (9,5) als an Somalia (10) ist, gibt einem Hoffnung für die Zukunft. Der letzte Punkt schließlich ist der Einfluss oder die direkte Intervention fremder Länder. Da ist Deutschland mit 2,1 gesegnet, und muss sogar weniger fremden Einfluss erdulden als das neutrale Österreich (2,3).

Was ein Staat tun müsste, um sich zu verbessern

Das Mission Statement der Organisation ist „to prevent war & alleviate the conditions that cause war“. Man kann nun versuchen, aus den vorgestellten Daten abzuleiten, was ein Staat laut Fund for Peace tun müsste, um in den grünen Bereich zu kommen. Dazu fehlen Deutschland satte 9,5 Punkte. Zuerst die gute Nachricht: Zurücklehen dürfen wir uns in Sachen Demographie und Effizienz des Staatsapparates.

Vordringliche Aufgabe zur Milderung der Bedingungen, die Krieg verursachen, wäre nach den Fund-for-Peace-Kriterien eine (noch massivere) Wirtschafsförderung Ost, um die ungleiche Entwicklung zu bekämpfen. Durch eine drastische Anpassung des Ausländerrechts könnte man die Zahl der Flüchtlinge verringern und damit weitere Punkte gutmachen. Schließlich muss Deutschland noch sein virulentes Vigilantenproblem und seine straflos agierenden Prätorianer in den Griff bekommen.

Laut Fund for Peace entstand die Tabelle, indem „Hunderttausende von Artikeln aus globalen und regionalen Quellen zwischen Mai und Dezember 2006“ gesammelt wurden. „Wir verwendeten unsere CAST-Software für die Initialanalyse dieser umfangreichen Dokumente. Aufgrund einer Bewertung durch Experten errechneten wir die unten angegebenen Punkte.“

Wer als Journalist für Frauen-Medien arbeitet, muss gelegentlich Tests erfinden. „Bin ich romantisch?“ oder „Ist mein Freund zuverlässig?“. Merkmal solcher Tests ist, dass die Fragen ganz unterschiedlicher Relevanz gleiche Punktzahl, d.h. Ergebnisrelevanz, erhalten. Das weiß natürlich auch die moderne Frau, die den Test macht und über das Ergebnis lacht. Aber es geht dabei ja auch nur um den Spaß am Lesen - und nicht darum, das Ergebnis ernst zu nehmen. Genau an diese Tests, an ihre Machtart und an die Relevanz der Ergebnisse, erinnert die Forschungsarbeit des Fund for Peace .