Geschlechter-Schock in Pompeji: "Mutter mit Kind" war ein Mann
Pompejis Gipsabgüsse erzählen seit 160 Jahren vom Tod der antiken Stadt. Die versteinerten Körper galten als stumme Zeugen. Doch ihre DNA enthüllt nun eine überraschende Wahrheit.
Pompeji – die antike römische Stadt, die im Jahr 79 n. Chr. durch den Ausbruch des Vesuvs unter einer meterdicken Ascheschicht begraben wurde. Doch nicht nur Gebäude, Kunstwerke und Alltagsgegenstände blieben konserviert, sondern auch die Körper vieler Einwohner. Durch das Ausgießen der Hohlräume mit Gips schufen Archäologen ab 1863 detailgetreue Abgüsse der Toten in ihren letzten Momenten.
Um diese Pompeji-Opfer rankten sich seither viele Geschichten und Interpretationen, die vorwiegend auf der Haltung und Position der Figuren basierten. So ging man beispielsweise bei einer Erwachsenen mit einem Kind auf dem Schoß, die ein goldenes Armband trug, von Mutter und Kind aus. Zwei eng umschlungene Gestalten wurden als "Die zwei Mädchen" bekannt.
Doch jetzt stellt eine neue Studie, veröffentlicht im Fachmagazin Current Biology, viele der bisherigen Annahmen infrage. Ein internationales Forscherteam, zu dem David Reich, ein Genetiker der Harvard University und David Caramelli, ein Anthropologe der Universität Florenz, gehören, hat aus Knochenmaterial, das in den Gipsabgüssen steckte, DNA extrahiert und analysiert. Die gewonnenen genomischen Daten zeichnen ein ganz anderes Bild als bisher angenommen.
Schätzungsweise zehn Prozent der etwa 20.000 Einwohner Pompejis kamen beim Ausbruch des Vesuvs ums Leben. Die ersten systematischen Ausgrabungen begannen erst 1748 und kamen nur langsam voran, bis 1860 der Archäologe Giuseppe Fiorelli die Leitung übernahm.
Fiorelli war ein Pionier in der Entwicklung der Technik zur Herstellung von Gipsabdrücken. "Bis heute wurden 104 Abgüsse angefertigt", schreibt die New York Times, und weiter:
Vierzehn davon wurden im Rahmen der neuen Studie untersucht. Für Dr. Mittnik war eine der überraschendsten Erkenntnisse über die Bewohner Pompejis ihre genetische Vielfalt, die den kosmopolitischen Charakter des Römischen Reiches zu dieser Zeit unterstreicht. Sie führte dies auf Migration, Sklaverei, Eroberung und Handel zurück. Zum Zeitpunkt der Katastrophe erstreckten sich die Handelsrouten des Imperiums von Nordafrika bis nach Asien, und Menschen kamen freiwillig oder gezwungenermaßen nach Rom.
New York Times
Zwar bleibt vieles im Dunkeln, doch eines ist klar: Die bisherigen Theorien über Verwandtschaftsbeziehungen und Identität der Toten waren zu romantisch gefärbt und durch heutige Vorstellungen von Geschlechterrollen verzerrt. Die vermeintliche Mutter mit Kind entpuppte sich als Mann, der mit dem Jungen nicht verwandt war. Und mindestens einer der "zwei Mädchen" war genetisch männlich.
Wer waren diese Menschen wirklich? Diener, Sklaven, Geschwister? Die DNA-Analyse gibt darauf keine eindeutige Antwort. Doch sie ermöglicht faszinierende Einblicke in die genetische Vielfalt der Pompejaner, die auf starke Zuwanderung aus dem östlichen Mittelmeerraum hindeutet.
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"Einige der Menschen, von denen wir Daten des Gesamtgenoms erheben konnten, hatten eine eher östliche, mediterrane genetische Abstammung, die zu Bevölkerungsgruppen aus der Ägäis oder der Levante passen könnte", zitiert die New York Times Alissa Mittnik, Genetikerin im Harvard-Labor, das die Daten generiert hat. "Sie könnten also entweder kurz vorher eingewandert sein oder von Migranten aus diesen Regionen abstammen."
Die Studie zeigt eindrucksvoll, wie moderne Wissenschaft alte Narrative auf den Kopf stellen kann. Sie mahnt zur Vorsicht bei der Interpretation der Vergangenheit allein auf Basis visueller Eindrücke. Und sie wirft ein neues Licht auf das Leben und Sterben in einer römischen Stadt, deren letzte Stunden die Menschheit bis heute fesseln.