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Geschlechterrollen: Alles ist fließend

Reinhard Jellen

Bild: Clem Onojeghuo/ Unsplash

Wie es dazu kommen konnte, dass Frauen überhaupt um Gleichberechtigung kämpfen mussten. Gespräch mit dem Evolutionsbiologen Carel van Schaik und dem Historiker Kai Michel

In ihrem Buch "Die Wahrheit über Eva" [1] zeichnen Carel van Schaik und Kai Michel sowohl die Geschichte der Geschlechterbeziehungen wie auch deren Legitimationsdiskurse nach. Telepolis sprach mit den Autoren.

"Die Wahrheit über Eva" - ist das nicht ein vermessener Titel?

Carel van Schaik und Kai Michel: Um Missverständnissen vorzubeugen: Das ist kein Buch über Frauen, sondern eine andere Geschichte der Menschheit, zumindest eines Teils davon. Es geht um das Verhältnis der Geschlechter - und was dieses ins Ungleichgewicht brachte. Mit unserer "Wahrheit" wollen wir nur die Lüge über Eva aus dem Weg räumen. Nämlich die, dass Frauen selbst schuld sind an ihrer Schlechterstellung.

Und diese Lüge existiert gleich in zwei Ausführungen: Die erste lautet, Gott habe die Frauen dazu bestimmt, den Männern untertan zu sein wegen der Lappalie damals im Paradies. Die zweite behauptet, es liege an der Biologie, Frauen seien nun mal von "Natur" aus das "schwache" Geschlecht.

Wir möchten dagegen zeigen: Weder Gott noch Biologie sind für die Schlechterstellung verantwortlich. Wir haben es mit einer kulturellen Verirrung zu tun. Deshalb lautet der Untertitel "Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern".

"Solange es an einer korrekten Diagnose fehlt, besteht die Gefahr, nur an Symptomen herumzudoktern"

Sie behaupten also Frauen und Männer seien gleich?

Carel van Schaik und Kai Michel: Es geht uns um die Erfindung der sozialen Ungleichheit. Wir wollen verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Frauen überhaupt um Gleichberechtigung kämpfen mussten. Das ist eine Frage, die in den allermeisten Diskussionen heute ausgespart wird. Solange es aber an einer korrekten Diagnose fehlt, was für das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern verantwortlich ist, besteht die Gefahr, nur an Symptomen herumzudoktern.

Das führt zumeist wenig produktiven Stellvertreterdiskussionen, etwa der über die Frage nach den Geschlechterunterschieden. Mangels besseren Wissens fürchten viele, hinter der männlichen Dominanz könnte etwas "Biologisches" stecken - und die Vorherrschaft der Männer damit irgendwie "natürlich" sein. Deshalb wird oft mit solcher Vehemenz gegen die Existenz biologischer Geschlechterunterschiede argumentiert.

Also gibt es biologisch verifizierbare Geschlechterunterschiede? Falls ja: Warum haben diese im Laufe der Geschichte so durchgeschlagen, dass sie es bis zum heutigen Tag noch tun?

Carel van Schaik und Kai Michel: Da einer von uns beiden Biologe ist und ein Lehrbuch [2] mit dem Titel "Primate Origins of Human Nature" geschrieben hat, wird es Sie nicht überraschen, dass unsere Antwort auf Ihre erste Frage "Ja, natürlich" lautet. Auf die zweite Frage dagegen würden wir mit einem "Nein, haben sie nicht" allenfalls indirekt antworten.

"Menschen sind nicht nur biologische Wesen, sondern auch kulturelle"

Dann also der Reihe nach: Gibt es biologisch verifizierbare Geschlechterunterschiede?

Carel van Schaik und Kai Michel: Ja, in verschiedenen Abstufungen. Es gibt etwa jene, die das Feld Reproduktion und Schwangerschaft betreffen oder Muskelkraft. Dann gibt es solche, die eher biologisch bestimmt sind, wie die Prädispositionen, welche Männer im Durchschnitt stärker auf Konkurrenzsituationen reagieren oder eher zu Gewalt neigen lassen.

Doch wir dürfen hier einige Aspekte nicht vergessen: Menschen sind nicht nur biologische Wesen, sondern auch kulturelle. Wir müssen immer Kultur und Biologie gemeinsam betrachten und deren Interaktion, das ist nicht zu trennen. Zumal die Rolle, welche die Kultur dabei spielt, in vielen Fällen die größere ist.

Außerdem sind all diese Unterschiede Durchschnittswerte. Auf der Ebene der Individuen kann es sich immer anders verhalten. Deshalb sehen wir auch gewalttätige Frauen und deshalb ist es so schwer, jeweils zu entscheiden, welchen Anteil nun die Biologie spielt.

Schließlich: Bei allem, was erlernt und sozialisiert wird, ist die Frage nach biologischen Geschlechtsunterschieden weniger relevant, weil wir es hier mit enorm plastischen Phänomenen zu tun haben.

Da ist der Einfluss der kulturellen Geschlechterrollen - Gender also - viel entscheidender. Wichtig auch hier: Alles ist fließend, wir haben es mit Kontinuitäten zu tun. Es ist verkehrt, daraus allein zwei legitime Positionen zu extrapolieren und diese mit normativen Attributen zu verknüpfen.

Es gibt auch keinen genetischen Determinismus, dafür ist unsere Empfänglichkeit für Kultur zu mächtig. Viel zu viele glauben, dass etwas, was "natürlich" sei, eine Verbindlichkeit für uns besitze. Das ist der naturalistische Fehlschluss, quasi-religiöses Denken, als habe die Evolution die Welt irgendwie vernünftig eingerichtet und wir müssten ihr folgen. Doch der Evolution ist völlig egal, wie wir leben. Anders als ein Gott ist sie keine moralische Instanz, die Menschen irgendetwas vorschreibt. Und selbst wenn wir ausssterben wollten, steht uns das von "der Natur" her frei.

Carel van Schaik. Foto: (C) Ruben Hollinger

"Menschen sind eine höchst kooperative Spezies"

Aber warum sollten sich die biologischen Unterschiede nicht durchgeschlagen haben? Muskelkraft etwa?

Carel van Schaik und Kai Michel: Weil Stärke nicht alles ist. Wir kennen aus der Primatologie einige Beispiele von Affenarten, in denen körperlich schwächere Weibchen die Männchen dominieren. In diesen Arten sind die Weibchen autonom. Sie schließen Allianzen, haben einen verborgenen Eisprung und sind in Sachen Nahrung von den Männchen unabhängig. Das sind Faktoren, die wir auch in unserer Gattung finden. Und schauen Sie sich doch mal um: Ein Arnold Schwarzenegger als politischer Führer ist nun mal die Ausnahme!

Es spuken noch viel zu viele sozialdarwinistische Ideen in den Köpfen herum, dass alles ein Kampf ums Dasein sei, in dem sich die stärksten durchsetzen. Nicht wenige glauben, der Philosoph Thomas Hobbes habe Recht gehabt, als er den Menschen als des Menschen Wolf charakterisierte. Sie nehmen an, dass sich unsere Vorfahren als Steinzeitmachos mit ihren Keulen gegenseitig den Kopf einschlugen und der Sieger dann die Frau an den Haaren in seine Höhle zog. Nichts könnte verkehrter sein. Menschen sind eine höchst kooperative Spezies.

Das Cooperative Breeding - wie es Sarah Blaffer Hrdy, aber auch einer von uns beiden, erforscht hat -, also die gemeinsame Jungenaufzucht, an der sich Geschwister, Großmütter, aber eben auch Väter oder andere Frauen beteiligten, ist ein Hauptfaktor unseres Erfolgs gewesen. Das machte uns im Primatenvergleich zu einer erstaunlich netten Affenart - zumindest innerhalb der eigenen Gruppe.

Erst dank Kooperation und strikter Reziprozität, also Gegenseitigkeit, war es möglich unter den harschen Bedingungen zu überleben. Wäre es anders, wäre Stärke wirklich alles, würden wir überall und zu allen Zeiten die entsprechenden Hierarchien sehen, mit einem Muskelprotz als Alpha an der Spitze und wir würden uns kein bisschen darüber wundern, sondern alle klaglos fügen.

Das aber ist nicht der Fall. Die Diversität menschlicher Gesellschaften zeigt, was alles möglich ist. Kurz: Wer Menschen verstehen will, muss biologische und kulturelle Evolution gemeinsam betrachten.

Kai Michel. Foto: (C) Ruben Hollinger

Männer sind in der Tendenz stärker motiviert, Eigentum anzuhäufen als Frauen"

Sie sagten aber indirekt...

Carel van Schaik und Kai Michel: Für Jahrhunderttausende haben unsere Vorfahren in kleinen mobilen Gruppen als Jäger und Sammler gelebt. Soweit wir das rekonstruieren können, waren das in aller Regel sehr egalitäre Gesellschaften, auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern war weitgehend ausgeglichen, wenn es auch meist eine delikate Angelegenheit war. Die Kooperation war entscheidend. Da man keine dauerhaften Vorräte anlegen konnte, waren die guten Beziehungen zueinander unsere Lebensversicherung.

Das aber änderte sich mit dem Sesshaftwerden vor rund 12.000 Jahren, mit der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, das ja zunächst nur in wenigen Regionen der Welt geschah. Die folgenden Entwicklungen führten zu einem neuen kulturellen Setting.

Und hier kommen wir zu dem "indirekt": Unter diesen grundlegend veränderten kulturellen Bedingungen spielten biologische Faktoren eine neue Rolle. Einmal führte die neue Lebensweise aus einer Reihe von Gründen zum starken Anstieg der Schwangerschaften und der Arbeitsbelastung der Frauen. Das brachte sie gesundheitlich in die Defensive.

Andererseits gewann jetzt die physische Stärke der Männer an Relevanz. Wo die Landwirtschaft Überschüsse produzierte, mussten die verteidigt werden. Wachsende Bevölkerungen schürten die Konkurrenz, man konnte nicht einfach mehr wie zu Jäger und Sammlerzeiten wegziehen.

Auch wenn es vorher schon Gewalt und Konflikte zwischen Gruppen gab, ist Krieg im engeren Sinne ein Ergebnis des Neolithikums, der Sesshaftigkeit. Deshalb behielten die Familien die Söhne zuhause und die Frauen für diese mussten anderswoher kommen. Die verloren damit ihre angestammten Netzwerke, ihre Position in den neuen Familien war dadurch geschwächt.

Hinzu kam, dass die neue Erfindung des Privateigentums die Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens radikal veränderte. In diesem komplett veränderten kulturellen Setting gewinnt ein weiterer biologischer Faktor an Bedeutung: Männer sind in der Tendenz stärker motiviert, Eigentum anzuhäufen als Frauen.

"Erst im Laufe des 'Zivilisationsprozesses' treten 'Alphamännchen' auf"

Warum sollte das so sein?

Carel van Schaik und Kai Michel: In der Biologie wird vom Bateman-Prinzip gesprochen: Ein Säugetiermännchen kann, wenn es sich nicht um Nachwuchs kümmern muss, mit vielen Weibchen nun mal mehr Nachwuchs zeugen, während das umgekehrt für Weibchen kum möglich ist.

Deshalb hat sich in der Evolution in der Tendenz bei Männchen ein stärkerer psychologischer Drang ausgebildet, andere zu dominieren.

Der konnte bei uns früher weniger zum Ausdruck kommen, weil es für mobile Jäger, die noch über keine Ressourcen verfügten, nur ganz selten möglich gewesen wäre, mehrere Ehefrauen und deren Kinder zu versorgen. Insofern ging es eher darum, die anderen in Sachen Reputation zu übertreffen.

Nun, unter den neuen Bedingungen von Sesshaftigkeit und Privatbesitz führte das bei uns Menschen zu einer stärkeren Motivation der Männer, Reichtümer anzuhäufen und Machtpositionen zu erringen – und letzten Endes auch mehrere Frauen ihr Eigen zu nennen.

Erst im Laufe dieses so gerne als "Zivilisationsprozess" titulierten Entwicklungen treten, wenn man so möchte, "Alphamännchen" auf. Die sind es dann, welche dank ihrer Ressourcenkontrolle die neuen gesellschaftlichen Maximen setzen, unter denen Frauen leiden, aber auch der Großteil der Männer, die leer ausgehen im Kampf um Macht und Ressourcen. Doch das geschieht, wie gesagt, eben erst unter den neuen kulturellen Bedingungen, als überhaupt die Möglichkeit bestand, Besitz anzuhäufen, und in den größer und anonymer werdenden Gesellschaften die alten Kontrollmechanismen wegfielen.

Das ehemalige Gleichgewicht kollabierte zu schnell, als dass etwa Frauen effektive Gegenstrategien entwickeln konnten. Aber auch die meisten Männer fielen diesen heute so gerne als „Hochkulturen“ gefeierten frühen Staaten – Despotien ist sicher treffender – zum Opfer.

"Menschheitsgeschichtlich betrachtet gab es 99 Prozent mehr oder minder Gleichberechtigung"

Also gab es nicht schon immer unter Menschen Alphamänner? Gerade in der populären Literatur ist oft von der zentralen Rolle von Anführern die Rede.

Carel van Schaik und Kai Michel: Nein, die Gruppen der Jäger und Sammler besaßen ein etabliertes System der Checks and Balances, um Egoismen unter Kontrolle zu halten und auch das Bateman-Prinzip in produktive Bahnen zu lenken. Anführer gab es allenfalls in Konfliktsituationen, die danach aber wieder ihre Position aufgaben.

Der Anthropologe Christopher Boehm hat gezeigt, wie jene, die über die Stränge schlugen, diszipliniert wurden. Das konnte bis zum Gruppenausschluss gehen - oder sogar schlimmeren. Das ist ja das besondere an unserer Vergangenheit, dass wir die Alphas und Bullys, die sich bei anderen Primatenarten durchaus finden, hinter uns gelassen haben.

Wir haben die zum Teil gewaltigen ökologischen Herausforderungen bewältigt, weil wir die kooperativen Affen wurden. Dass in allen Individuen noch jede Menge Egoismen stecken, weiß jeder aus eigener Erfahrung. Aber denen setzten die Gruppen effektive Grenzen; schließlich konnte man nur gemeinsam überleben. Doch diese Gruppenstrukturen lösten sich im massiven Bevölkerungswachstum der sesshaften Welt über die Jahrtausende hinweg auf.

Zugespitzt gesagt, erwies sich dann der unkontrollierte Egoismus, das Monopolisieren von Ressourcen als neues Erfolgsrezept. Denn mit Überschüssen ließ sich Unterstützung und Gefolgschaft erkaufen. Reichtum und die daraus resultierende Macht konnten bald vererbt und damit immer mehr akkumuliert werden.

Herrschaft entstand. Männliche Herrscher bestimmten die Regeln, schrieben sie später in Gesetzen fest und hielten sich Harems. Kurz: Entscheidend war, dass mit der intensiven Nahrungsproduktion die Lebensgrundlage und die kulturellen Rahmenbedingungen sich massiv geändert hatten. Damit veränderten sich die gesellschaftlichen Spielregeln immer mehr zugunsten von Männern.

Und im Prozess der kumulativen, sich immer mehr anreichernden kulturellen Evolution, entstand dann das, was wir die Patrix, die patriarchale Matrix nennen, eine falsche Welt, in der es normal erscheint und in Gesetzen, Wissens- und Glaubenssystemen festgeschrieben wird, dass Frauen das zweite Geschlecht seien, weil Gott oder die Natur es so eingerichtet hätten.

Aber diese Geschlechterhierarchie ist eine erst vor relativ kurzer Zeit aufgetretene Anomalie. Sie erscheint allein deshalb total, weil wir uns meist nur - nicht zuletzt aus Angst vor Biologie und Evolution - auf die letzten drei, vielleicht fünf Jahrtausende konzentrieren und die waren nun mal schon patriarchal. Menschheitsgeschichtlich betrachtet gab es 99 Prozent mehr oder minder Gleichberechtigung. Psychologisch haben Menschen also keine Probleme damit. Warum sollten sie das heute haben?

(Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde an einigen Stellen nach der Veröffentlichung korrigiert.)

In Teil 2 des Interviews widmen sich Carel van Schaik und Kai Michel u. a. den Geschlechterverhältnissen aus der Sicht der Bibel, der Verteufelung weiblicher Sexualität und der Genderforschung.

Über die Autoren:

Carel van Schaik, geboren 1953 in Rotterdam, ist Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe. Er erforscht die Wurzeln der menschlichen Kultur und Intelligenz bei Menschenaffen. Er war Professor an der Duke University in den USA und von 2004 bis 2018 Professor für biologische Anthropologie an der Universität Zürich, wo er als Direktor dem Anthropologischen Institut und Museum vorstand. Unlängst legte er das Standardwerk "The Primate Origins of Human Nature"vor. Carel van Schaik ist ein korrespondierendes Mitglied der Royal Netherlands Academy of Sciences. Er lebt in Zürich.

Kai Michel, geboren 1967 in Hamburg, ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Er hat von GEO über Die Zeit bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung für die großen deutschsprachigen Medien geschrieben. Gemeinsam mit Carel van Schaik las er die Bibel aus einer evolutionären Perspektive als "Tagebuch der Menschheit", mit dem Archäologen Harald Meller legte Kai Michel den Bestseller "Die Himmelsscheibe von Nebra" vor. Er lebt als Buchautor in Zürich und im Schwarzwald.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.rowohlt.de/buch/carel-van-schaik-kai-michel-die-wahrheit-ueber-eva-9783498001124
[2] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/book/10.1002/9781119118206