Gewalt ohne Ziel und Maß
Andreas Marneros über rechtsradikale Gewalttäter und ihre zufälligen Opfer
Wer die Biografien rechtsradikaler Gewaltverbrecher vergleicht, bekommt schnell das Gefühl, es mit einem einzigen Täterprofil zu tun zu haben. Die überwiegende Mehrheit stammt aus schwierigen familiären Verhältnissen, die von finanziellen Problemen, häufigen Trennungen, Gewalt und Alkoholsucht geprägt sind. In der Schule treten massive Probleme auf, Berufsausbildungen werden frühzeitig abgebrochen oder gar nicht erst angefangen, und irgendwann tritt eine Neonazigruppe an die Stelle von Familie und Gesellschaft. Die Neuankömmlinge brauchen hier weder detailliertes Hintergrundwissen noch ideologische Feinheiten – sie wollen nur dazugehören, die gleiche Musik hören, die gleichen Klamotten tragen, genauso viel Bier trinken und präzise wissen, für wen und gegen wen sie zu sein haben, um auf der richtigen Seite zu stehen. Das Weltbild von Menschen wie "Nick", der mit zwei Freunden Molotowcocktails auf einen türkischen Imbiss geworfen hat, gipfelt in der Selbstbeschreibung: "Gegen Ausländer und so. Und für Hitler und so."
Die meisten von ihnen "wissen" von Juden nur, dass sie vergast werden, und von Ausländern nicht mehr, als dass sie Deutschland so schnell wie möglich verlassen sollen. Das haben sie irgendwo gelesen, irgendwo gehört oder irgendeine ihrer Bands - die "Landser" vielleicht, die "Zillertaler Türkenjäger", "Stahlgewitter" oder die "Standarten" - hat es ihnen vorgesungen. In jedem Fall sind "die Anderen" schuld an der eigenen Misere, und "den Anderen" wird das mit aller Brutalität und Skrupellosigkeit heimgezahlt, wenn sich die Gelegenheit ergibt, ausnahmsweise einmal aus der Position des wenigstens physisch Stärkeren agieren zu können.
Ihre Opfer passen dagegen nicht in eine zusammenfassende Darstellung, denn der blinde Hass und die mörderische Aggression treffen keineswegs nur Menschen, die sich – allein in der Vorstellung der Rechtsextremen, aber dort umso hartnäckiger – zur Gruppe der Hauptfeindbilder versammelt haben. Bei den Opfern von Mordanschlägen und Raubüberfällen, Vergewaltigungen, Brandstiftungen und Gewaltorgien aller Art handelt es sich nicht unbedingt um "Juden, Schwarze und Ausländer", sondern mehrheitlich um Deutsche und auch um vermeintliche Gesinnungsgenossen aus der Neonazi-Szene.
Selbst wenn sie in einem eindeutigen ideologischen Gewand auftritt, ist rechtsradikale Gewalt ziel- und richtungslos. Deshalb kann sie sich prinzipiell gegen jeden Menschen richten, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Diese These vertritt der Psychiater Andreas Marneros, der vor drei Jahren mit der Studie "Hitlers Urenkel. Rechtsradikale Gewalttäter – Erfahrungen eines wahldeutschen Gerichtsgutachters" für Diskussionsstoff sorgte.
In seinem neuen Buch "Blinde Gewalt. Rechtsradikale Gewalttäter und ihre zufälligen Opfer" beschreibt Marneros, der einen Lehrstuhl an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg innehat und dort auch die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie leitet, anhand von Fallstudien und Psychogrammen, wie sich Verbrechen im neonazistischen Umfeld vor einem "negativen charakterologischen, soziologischen und psychologischen Hintergrund" entwickeln und immer wieder Menschen in Mitleidenschaft ziehen, die mit den ursprünglichen Feindbildern nicht das geringste zu tun haben. Rechtsradikale Kriminelle unterscheiden sich nicht grundlegend von anderen Gewaltverbrechern. Marneros spricht von einem "negativen Biotop", dessen Gewaltbereitschaft allgemeiner Natur ist und nicht in eine bestimmte Richtung fokussiert wird: "Ihre Wirkung ist keine begrenzte, sondern eine breite und generelle."
Gleichwohl wurzeln ihre Verbrechen in dem menschenverachtenden Weltbild, das sie sich tagtäglich zu eigen machen. Außerdem fallen Rechtsradikale durch besonders starke Persönlichkeitsdefizite, einen vollständigen Mangel an Mitleid und Empathiefähigkeit sowie ein außergewöhnlich großes Hasspotenzial auf. Die Musik, die in der Szene eine zentrale Rolle spielt, fungiert als stimulierendes, gemeinschaftsbildendes Element und damit ganz im Sinne der mittlerweile vom Bundesgerichtshof als kriminelle Vereinigung eingestuften Neonazi-Band "Landser", die sich selbst als "Terroristen mit E-Gitarre" bezeichneten und gerne den "Soundtrack zur arischen Revolution" liefern wollten.
Von den unmittelbaren Folgen berichtet das Buch: Als drei Neonazis "Herrn Weiland", der einem von ihnen vorübergehend eine Bleibe angeboten hatte, zwei Tage lang auf bestialische Weise zu Tode quälten, lief die ganze Zeit der CD-Player. Einer der Haupttäter gab im Gespräch mit Andreas Marneros anschließend zu Protokoll:
Das ist meine Lieblingsmusik. Die höre ich immer. Ich kenne natürlich nicht die ganzen Texte auswendig. Es geht hauptsächlich gegen Ausländer. Man sollte Afrikaner erhängen. Vergasen und so was. Aber auch gegen Drogen geht es. Die Afrikaner sollen wegen der Drogen vergast werden. (Dass viele Neonazis selbst ein handfestes Drogenproblem haben, irritierte den Befragten offensichtlich nicht, Anm. d. Verf.) (...) Die Lieder sind komplett gegen alles, was rumläuft. (...) In den Liedern geht es einfach darum, dass Juden hier nichts zu suchen haben. Man sollte sie also auch verbrennen, totschlagen oder abknallen. Das ist eben einfach so.
Textauszug "Blinde Gewalt"
Das Opfer der drei Neonazis war allerdings weder Jude noch Ausländer, und ihre rechtsradikale Einstellung hat die Mörder auch nicht daran gehindert, sich "zwischendurch" an einem Dönerstand zu stärken.
Marneros konnte bei rund 80% der Gewalttäter, die von ihm und seinem Team befragt wurden, keine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit feststellen. Nach weit über 50 Untersuchungen und Gerichtsgutachten geht er deshalb davon aus, "dass mache Persönlichkeitsstörungen, die unter bestimmten Umständen ein bestimmtes Niveau erreicht haben, nicht mehr therapierbar sind. Sie sind höchstens limitierbar." In vielen Fällen gäbe es deshalb keine Alternative zur "Gewaltisolation im Sinne von Strafe", sprich: zu einem langjährigen Gefängnisaufenthalt.
Über diese These darf ebenso kontrovers diskutiert werden, wie über andere Aspekte des streitbaren Buches, denn der Autor konzentriert sich auch diesmal auf bestimmte Abschnitte einer langen Gewaltspirale. Durch die Vielzahl der Täterbiografien und Fallbeispiele geraten Hintergründe bisweilen aus dem Blickfeld. Neben der detaillierten Schilderung persönlicher und familiärer Fehlentwicklungen wäre die Berücksichtigung politischer und gesellschaftlicher, aber auch weiterer sozialer und regionaler Aspekte sicher hilfreich gewesen, gerade wenn es darum geht, die strukturellen Voraussetzungen der verschiedenen Einzelfälle herauszuarbeiten. Andererseits ist es dem Autor in der nun veröffentlichten Weise eindrucksvoll gelungen, jedes einzelne Mitglied dieser Gesellschaft als potenzielles Opfer rechtsradikaler Gewalttäter in die Diskussion einzubeziehen.
"Wer Opfer wird, hängt oft vom Zufall ab"
Dass sich dieselbe nicht nur auf die Täter konzentrieren darf, weiß auch Andreas Marneros, der Telepolis für einige Nachfragen zur Verfügung stand.
Andreas Marneros Buch "Blinde Gewalt. Rechtsradikale Gewalttäter und ihre zufälligen Opfer" ist im April 2005 im Scherz-Verlag erschienen und kostet 19,90 .
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