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Gewalt und Staatsferne: Was der Verfassungsschutz als extremistisch einstuft

Claudia Wangerin

ZustĂ€ndig fĂŒr den Verfassungsschutz: Das Bundesinnenministerium in Berlin. Bild: C. MĂŒller / CC-BY-SA-3.0

Jahresbericht: Geheimdienst sieht grĂ¶ĂŸtes Gewaltpotenzial in der rechten Szene. Er registriert aber auch mehr "Mischszenen". Als gefĂ€hrlichste Klima-Initiative gilt nicht die "Letzte Generation".

Der Inlandsgeheimdienst nimmt in Kreisen, die er als extremistisch einstuft, eine hohe Gewaltbereitschaft wahr. Das geht aus dem aktuellen Verfassungsschutzbericht [1] hervor, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Zugleich verschwimmen aus der Sicht des Bundesamts fĂŒr Verfassungsschutz die Grenzen zwischen den "PhĂ€nomenbereichen".

14,5 Prozent mehr Rechtsextreme: AfD-Mitglieder erstmals mitgezÀhlt

Die Zahl klassischer Rechtsextremisten ist aber offiziell auch deshalb gestiegen, weil in dieser Kategorie erstmals Angehörige der AfD mitgezÀhlt wurden. Deren Einstufung als Verdachtsfall hat das Kölner Verwaltungsgericht im MÀrz 2022 bestÀtigt. Das Verfahren ist allerdings noch nicht abgeschlossen, weil die AfD dagegen Berufung eingelegt hat.

Angesichts der "inhaltlichen HeterogenitĂ€t innerhalb der AfD" können laut Verfassungsschutz "nicht alle Parteimitglieder als AnhĂ€nger der extremistischen Strömungen betrachtet werden." Das Bundesamt schĂ€tzt, dass rund 10.200 Mitglieder der AfD und ihrer Nachwuchsorganisation junge Alternative diesen Strömungen zuzurechnen sind. Das rechtsextreme Spektrum insgesamt umfasst nach Angaben der Behörde rund 38.800 Menschen – ein Anstieg um 14,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresbericht. Etwa 14.000 Akteure dieses Spektrums gelten als gewaltorientiert.

Als linksextremistisch werden 36.500 Personen eingestuft – hier stellte das Bundesamt einen Anstieg um 5,2 Prozent im vergangenen Jahr fest. Mehr als jede vierte Person dieses Spektrums wird als gewaltorientiert angesehen. Allerdings ist die Zahl der Straftaten, die Linken zugeschrieben werden, im Berichtsjahr deutlich gesunken, nĂ€mlich um 37,4 Prozent – die Zahl der Gewaltdelikte im Bereich "Politisch motivierte KriminalitĂ€t (PMK) links" sank um 39 Prozent.

Zweistelliger Anstieg von Straftaten: "ReichsbĂŒrger und Selbstverwalter"

Bei den Rechten wurde hier jeweils ein Anstieg festgestellt, allerdings jeweils im einstelligen Bereich – das könnte aber daran liegen, dass der PhĂ€nomenbereich "ReichsbĂŒrger und Selbstverwalter", in dem sich auch Rechte tummeln, vom Verfassungsschutz separat gezĂ€hlt wird. Denn hier gab es jeweils einen zweistelligen Anstieg: 34,3 Prozent mehr Straftaten, wĂ€hrend die Teilmenge der Gewaltdelikte sogar um 55,4 zunahm.

Trotz dieser irritierenden Unterteilung, die auf den ersten Blick wirkt, als solle rechte Gewalt kleingerechnet werden, stufen der Verfassungsschutz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Rechtsextremismus weiterhin als grĂ¶ĂŸte Gefahr fĂŒr die Demokratie ein.

Was eigentlich sonst noch genau extremistisch ist, davon hat der Verfassungsschutz zumindest andere Vorstellungen als mancher CDU-Politiker [2] oder die Bild-Zeitung [3].

Antikapitalistische Gruppen nur "vorgeblich" fĂŒr Klimaschutz?

Was die Klimagerechtigkeitsbewegung angeht, hat der Inlandsgeheimdienst nĂ€mlich nicht primĂ€r die Gruppe im Visier, die zuletzt mit bundesweiten Razzien konfrontiert war und von bĂŒrgerlichen Parteien und Boulevardmedien am grĂŒndlichsten verdammt wird: Die "Letzte Generation" taucht im Jahresbericht des Bundesamts fĂŒr Verfassungsschutz fĂŒr das 2022 erwartungsgemĂ€ĂŸ nicht als "extremistische" Gruppierung auf.

Viele fanden zwar deren Straßenblockaden, die ihnen die Bezeichnung "Klimakleber" einbrachten, besonders nervig und verwerflich – VerfassungsschutzprĂ€sident Thomas Haldenwang hatte aber bereits deutlich gemacht, dass er das streng inhaltlich sieht: Diese "spezielle Gruppe" begehe zwar auch Straftaten, aber das mache sie noch nicht extremistisch [4], hatte Haldenwang im November 2022 [5] gegenĂŒber dem SWR erklĂ€rt.

Die "Letzte Generation" sage im Grunde: "He, Regierung, ihr habt so lange geschlafen, ihr mĂŒsst jetzt endlich mal was tun", so der Verfassungsschutzchef. "Also, anders kann man eigentlich gar nicht ausdrĂŒcken, wie sehr man dieses System eigentlich respektiert, wenn man die FunktionstrĂ€ger zum Handeln auffordert."

Eine Gefahr sieht der Verfassungsschutz dagegen in erklĂ€rt antikapitalistischen Gruppen, die das aktuelle Wirtschaftssystem fĂŒr unfĂ€hig halten, die Klimakatastrophe einzudĂ€mmen. Diese stuft der Inlandsgeheimdienst als "linksextremistisch" ein und unterstellt ihnen, sich nur "vorgeblich" fĂŒr den Klimaschutz einzusetzen, um in AktionsbĂŒndnissen Einfluss auf die Proteste nehmen zu können:

Mit ihrem vorgeblichen Engagement fĂŒr den Klimaschutz versuchen Linksextremisten, demokratische Diskurse zu verschieben, sie um ihre eigenen ideologischen Positionen zu ergĂ€nzen, gesellschaftlichen Protest zu radikalisieren und den Staat und seine Institutionen zu delegitimieren.


Verfassungsschutzbericht 2022, Kurzzusammenfassung, S. 28

Eine maßgebliche Rolle spiele hier das BĂŒndnis "Ende GelĂ€nde", das von der "Interventionistischen Linken" (IL) beeinflusst sei. Dessen Aktionskonsens sei etwa fĂŒr eine "Massenaktion zivilen Ungehorsams" im August 2022 in Hamburg geöffnet worden und beinhalte "nun auch ausdrĂŒcklich Sabotagehandlungen".

In die Kategorie "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" sortiert der Inlandsgeheimdienst Personenkreise ein, die fĂŒr ihn nicht klar links oder rechts zu verorten sind, aber aus seiner Sicht darauf abzielen "wesentliche VerfassungsgrundsĂ€tze außer Kraft zu setzen oder die FunktionsfĂ€higkeit des Staates oder seiner Einrichtungen zu beeintrĂ€chtigen". EingefĂŒhrt wurde diese Kategorie 2021 im Zuge der "Querdenker"-Proteste gegen die Corona-Maßnahmen.

In linken Kreisen wurde dieses Milieu hÀufig als rechtsoffen oder als Versuch einer "Querfront" kritisiert. Haldenwang teilte dazu an diesem Dienstag mit:

Wir stellen fest, dass Grenzen innerhalb von PhÀnomenbereichen verschwimmen und sich Mischszenen bilden.


Thomas Haldenwang, PrĂ€sident des Bundesamts fĂŒr Verfassungsschutz

Im aktuellen Verfassungsschutzbericht heißt es, dem "Delegitimierungsspektrum" seien bundesweit etwa 1.400 Personen zuzurechnen, davon etwa 280 gewaltorientiert. Hinzu kommt auch der PhĂ€nomenbereich "auslandsbezogener Extremismus", in dem linke und rechte Gruppen aufgelistet werden. Islamistische Gruppierungen werden allerdings separat gezĂ€hlt.

Linke und rechte Haltungen zum Ukraine-Krieg

Im nichtreligiösen Bereich "auslandsbezogener Extremismus" sei 2022 ein besonders deutlicher Anstieg von Straftaten festgestellt worden, heißt es in dem Bericht: 776 Delikte dieser Art habe es 2021 gegeben, 2022 seien 1.974 solcher Straftaten aktenkundig geworden – ein Anstieg um 154,4 Prozent. Ein Großteil dieser Straftaten soll im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stehen.

Zu dessen Bewertung durch Rechte und Linke schreibt der Verfassungsschutz:

Nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine differenzierten Rechtsextremisten ihre zuvor mehrheitlich prorussische Haltung. In weiten Teilen zeigte sich die Szene befĂŒrwortend und verstĂ€ndnisvoll fĂŒr das russische Vorgehen. Teile des neonazistischen Spektrums positionierten sich jedoch proukrainisch.


Verfassungsschutzbericht 2022, Kurzzusammenfassung, S. 11

Diese unterschiedlichen Sichtweisen hĂ€tten aber im Berichtsjahr nicht zu Bruchlinien innerhalb der rechtsextremistischen Szene gefĂŒhrt.

Im Kapitel ĂŒber "Linksextremismus" heißt es:

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird in der linksextremistischen Szene ĂŒberwiegend scharf verurteilt. Teilweise wird jedoch nicht ausschließlich Russland als Aggressor dafĂŒr verantwortlich gemacht, sondern vielmehr der "Imperialismus". . So seien sowohl die "imperialistischen" Bestrebungen Russlands als auch die der Nato, der USA sowie "des Westens" insgesamt ursĂ€chlich fĂŒr den Angriff auf die Ukraine.


Verfassungsschutzbericht 2022, Kurzzusammenfassung, S. 28

Analog zu ihrer Weltanschauung wĂŒrden "dogmatische Linksextremisten" diesen Krieg als "Geschwisterkrieg" verurteilen, "da Arbeiterinnen und Arbeiter die Waffe aufeinander richteten, anstatt den eigentlichen Hauptfeind, die 'eigene herrschende Klasse', zu bekĂ€mpfen und die Eskalation imperialistischer Interessen zwischen Russland, der Ukraine und der Nato zu beenden", schreibt der Inlandsgeheimdienst.

Ausnahmsweise hat er hier tatsĂ€chlich das Wesentliche erfasst, wĂ€hrend nicht wenige grĂŒne Ex-Pazifisten Linke mit dieser Haltung völlig undifferenziert als "Putin-Freunde" beschimpfen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9193024

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2023-06-20-verfassungsschutzbericht-2022-fakten-und-tendenzen-kurzzusammenfassung.html
[2] https://www.deutschlandfunk.de/letzte-generation-plant-grossaktionen-in-berlin-cdu-generalsekretaer-czaja-spricht-von-extremisten-100.html
[3] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/klima-extremisten-aehnlich-wie-die-taliban-spd-und-gruene-rechnen-mit-ihnen-ab-83102394.bild.html
[4] https://www.bmi.bund.de/DE/themen/sicherheit/extremismus/extremismus-node.html
[5] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/letzte-generation-verfassungsschutzpraesident-stuft-klimaaktivisten-nicht-als-extremistisch-ein-a-39e52dc0-ef10-4ebd-83f1-9545b669d553