Gewaltsame Proteste gegen Steuergesetze erschüttern Kenia: Mindestens 53 Tote
In Kenia eskalieren Proteste gegen neue Steuergesetze. Bei Zusammenstößen mit der Polizei sterben mindestens 53 Menschen. Wird die Regierung stürzen? Bericht aus Kenia.
Dicke, schwarze Rauchwolken hängen über der Innenstadt von Nairobi, dem Central Business District, CBD. Schon von Weitem sind sie zu sehen, denn sie steigen hoch auf, viel höher als die beeindruckend glitzernden Wolkenkratzer der ostafrikanischen Fünf-Millionen-Metropole. Man sieht sie von Juja aus, einer Stadt mit mehr als 150.000 Einwohnern, 30 Kilometer nördlich von Nairobi.
Und wie die Farbe der dicken, hoch aufsteigenden Rauchwolken war auch der gestrige Tag für das junge afrikanische Land: Schwarz. Denn es brannten nicht nur Reifen auf den Straßen des Central Business District Nairobi, nicht nur Straßenstände und Geschäfte, nicht nur Müll und Polizeitransporter: Gestern brannte das Rathaus. Der Oberste Gerichtshof. Gestern brannte das Parlament.
Zentren der Demokratie brennen: Rathaus, Gericht und Parlament
Damit standen die Zentren der demokratischen Institutionen Kenias in Flammen. Und morgen wollen sich die Demonstranten um das State House versammeln, den Sitz des kenianischen Präsidenten. Das ist seit dem 13. September 2022 William Ruto. Er ist erst der fünfte Präsident der Republik Kenia.
Vielleicht nicht mehr lange. Denn Ruto muss weg. Das forderten gestern Hunderttausende, die in die Innenstadt strömten: "Ruto must go!" riefen sie, entschlossen und wütend, tausendfach. Ihr Protest entzündete sich an den neuen Steuergesetzen.
Junge Generation protestiert: Wütend und entschlossen
Es waren vorwiegend die Jungen, die gut Ausgebildeten, die gestern friedlich auf die Straßen Nairobis gingen. Die Generation Z protestiert. Sie sind wütend und entschlossen, denn sie haben nichts zu verlieren. Sie haben nicht nur viel Zeit in ihre Ausbildung investiert, sondern vor allem auch viel Geld.
Bildung ist teuer: Familien kämpfen für Schulabschlüsse
Denn Bildung ist in Kenia nicht umsonst zu haben. Zwar schießt der Staat Geld zu, doch der Restbetrag ist für viele junge Menschen und deren Familien nur unter größten Mühen zu bezahlen.
Die Schüler können die Schule zwar bis zum Ende besuchen und auch abschließen, aber sie bekommen kein Abschlusszeugnis. So wie Mercy. Sie ist 18 Jahre alt und hat vor ein paar Monaten die Highschool abgeschlossen, die hier in Kenia mit der "Form Four" endet.
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Aber sie bekommt es nicht, weil sie die 23.000 Kenianischen Schilling nicht bezahlen kann, die sie der Schule noch für das Essensgeld schuldet. 23.000 Schilling, das sind knapp 170 Euro – unerschwinglich für Mercys Familie, die Subsistenzlandwirtschaft betreibt. Und so kann sich Mercy nicht bewerben, weil sie ihr "Form Four" nicht ausgehändigt bekommt.
Oder Delta, eine 22-jährige Studentin aus Kakamega. Sie studiert Betriebswirtschaft, ihr Vater und ihr Bruder haben ihr gemeinsam das erste Studienjahr finanziert. Dann erkrankte der Vater an Diabetes. Die meisten Menschen in Kenia haben keine Krankenversicherung.
Und so muss das Geld, das eigentlich für das zweite Studienjahr gedacht war, stattdessen für überlebenswichtige Medikamente ausgegeben werden. Das College kostet knapp 300 Euro im Jahr, Studien- und Prüfungsgebühren. Das ist ein ganzes Monatsgehalt und für viele unerschwinglich.
Da ist Jose aus Kisumu, 25 Jahre alt. Er ist Ingenieur. Sein Studium hat ihm der Staat komplett bezahlt, dafür hat er sich in einer paramilitärischen Organisation ausbilden lassen. Jetzt fährt er Motorradtaxi und schlägt sich so durch, um seine kleine Familie zu ernähren, sein Kind ist erst wenige Monate alt.
Denn obwohl sich viele junge Menschen durch eine wenig förderliche Bildungslandschaft kämpfen und einen Abschluss erreichen: Ihre Opfer und Mühen sind oft umsonst, sie finden nach dem Abschluss keine Arbeit, müssen sich mit Hilfsjobs durchschlagen.
Steuergesetz als Auslöser: Zerbrochene Träume treiben auf die Straße
Es sind diese zerbrochenen Träume und nicht eingelösten Versprechen auf wirtschaftliche Teilhabe, es ist dieser Kampf ums tägliche Überleben, der die Menschen auf die Straße treibt. Viele können sich nur eine Mahlzeit am Tag leisten, auch weil die Inflation hoch ist und Grundnahrungsmittel immer teurer werden.
Und das neue Steuergesetz wird viele Produkte verteuern, denn Importe sollen höher besteuert werden, zudem werden Spezialkliniken neu besteuert, was die Gesundheitskosten verteuern kann.
Umstrittene Steuererhöhungen wie auf Brot, Speiseöl und Damenbinden wurden zwar zurückgenommen. Doch gerade die geplante Besteuerung von Grundnahrungsmitteln brachte das Fass zum Überlaufen. Denn Präsident Ruto war vor zwei Jahren auch mit dem Versprechen angetreten, kostenlose Damenbinden an Minderjährige zu verteilen. Das hat er nicht eingelöst, stattdessen sollten sie besteuert werden. Für viele ein Affront.
Viele Menschen in Kenia würden eine höhere Besteuerung verstehen, wenn sie dafür etwas bekämen. Straßen zum Beispiel. Gesundheitsversorgung, Bildung, eine soziale Grundsicherung. Öffentliche Verkehrsmittel. Doch für all das sind die neuen Steuern nicht gedacht.
IWF verordnet Austerität: Kenia als "wichtigster Umsatzbringer"
Stattdessen wurde das neue Steuerpaket dem Land vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verordnet, der eine klassische neoliberale Austeritätspolitik durchsetzen will. Kenia hat Schulden beim Internationalen Währungsfonds. 180 Millionen Euro allein an Zinsen und Gebühren waren bis April für die letzten 12 Monate fällig, schreibt die kenianische Business Daily und führt aus:
Der Kreditgeber [der Internationale Währungsfond] hat bekannt gegeben, dass er davon ausgeht, im Geschäftsjahr 2024 rund zwei Prozent seiner Krediteinnahmen in Kenia zu erwirtschaften, womit das Land zu einem seiner wichtigsten Umsatzträger wird.
Und damit Kenia seine Zinsen und Gebühren zahlen kann, hat der IWF dem Land die klassische Austeritätspille verordnet, die Präsident Ruto geschluckt hat: Steuern hoch, Staatsausgaben runter. Auf Kosten der kenianischen Bevölkerung, denn diese Politik würgt die Wirtschaft ab, stürzt die Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut.
Kenia als "wichtigster Umsatzbringer" für den IWF – so sehen das auch viele Protestierende. Und so ist der Hashtag auf X #REJECTFİNANCEBILLKENYA2024 oft mit antikolonialistischen Forderungen verbunden. Auch auf der Straße gibt es Proteste gegen den IWF, dokumentiert auf X, jemand hält ein Schild hoch "Kenya is not IMF’s Labrat", also "Kenia ist nicht die Laborratte des IWF".
So twitterte auch Steven Hanke, Professor für Angewandte Wirtschaftswissenschaften an der renommierten Johns-Hopkins-Universität:
Demonstranten werden von der kenianischen Polizei während einer Steuerrevolte tot geschossen. Die Revolte wurde durch Kenias jüngsten IWF-Deal ausgelöst. Wie Harvard-Professor Robert Barro es ausdrückt: "Der IWF löscht keine Brände, er zündet sie an".
Die Publikation Kenyan Wall Street analysiert:
Die Umsetzung der IWF-Ideen, wie Kenias Wirtschaft funktionieren sollte, dezimierte den öffentlichen Dienst, führte zu weit verbreiteten Arbeitsplatzverlusten und rasanter Inflation. Das soziale Gemetzel, das den Rezepten des IWF für Entwicklungsländer folgte, ist einer der häufigsten Kritikpunkte an der Institution, aber es ist klar, dass sich die Denkweise in den Chefetagen überhaupt nicht geändert hat.
Proteste beginnen friedlich: Polizei schießt mit Tränengas
Das sehen auch viele der jungen Protestierenden so. Twitter, jetzt: X, ist ihre wichtigste Plattform. Die Proteste gegen die Steuergesetze, gegen den IWF, haben gestern friedlich begonnen.
Scarlett, eine junge Journalistin, 21 Jahre alt, berichtet: "Wir waren friedlich, wir hatten keine Waffen, aber plötzlich hat die Polizei mit Tränengasgranaten auf uns geschossen". Als in den sozialen Netzwerken die Nachricht verbreitet wurde, das Steuergesetz sei vom Parlament verabschiedet worden, eskalierte die Situation.
Eine Menschenmenge stürmt das Parlament, durchbricht die Polizeisperren. Vandalismus in der Lobby, in der Kantine, in der Lounge, im Garten. Ein Feuer bricht aus. Ein Teil des Parlaments steht in Flammen. Bilder, die die junge Nation erschüttern.
Sogar die "Mace" des Parlaments, eine goldene Keule, eine Art Zepter, Verkörperung der legislativen Autorität, wichtiges Symbol der kenianischen parlamentarischen Demokratie, wird entwendet, hier ein Bild auf X. Ohne sie ist eine parlamentarische Arbeit theoretisch nicht möglich.
Aufstand breitet sich aus: Regierungsgebäude und Geschäfte angegriffen
Andere Gebäude brennen, das Rathaus, der Oberste Gerichtshof. In Windeseile breitet sich der Aufstand über das ganze Land aus, in 34 der 47 Bezirke Kenias kommt es zu Protesten und Unruhen.
Demonstranten greifen Regierungsgebäude an, in Embu wird das Finanzamt gestürmt und völlig geplündert, die Beamten fliehen in Panik, alle Computer werden gestohlen. In Mombasa, der zweitgrößten Stadt Kenias, versuchen die Demonstranten, das Statehouse zu stürmen.
Eine Besonderheit ist, dass die Protestierenden die Häuser oder Firmen von Abgeordneten angreifen, die für die Steuergesetze gestimmt haben. Die Handynummern und Privatadressen der Abgeordneten und ihrer Frauen und Kinder werden auf X verteilt.
In Nyeri wird der Supermarkt des Abgeordneten Njoroge Wainaina niedergebrannt. In Eldoret wird der Timba Xo Club des Abgeordneten Oscar Sudi geplündert und verwüstet. Außerdem brennen Privathäuser und Büros von Abgeordneten.
Diese hatten sich bei der Erstürmung des Parlaments in unterirdische Tunnel geflüchtet und wurden mit Hubschraubern evakuiert. Einigen gelingt es nicht, sich in Sicherheit zu bringen, der Abgeordnete Chikati Murumba wird niedergeschlagen. Parlamentspräsident Moses Francis Masika Wetangula flieht sogar mit einem Krankenwagen vor den Demonstranten.
Chaos in der Innenstadt: Plünderungen und Verletzte
Ganze Geschäftsstraßen wie die Wabera Street und die Ronald Ngala Road in Nairobi werden geplündert. Große Supermärkte werden von Demonstranten ausgeräumt, die Menschen greifen nach Lebensmitteln.
Die Regale sind buchstäblich leer – Maismehl, Reis, die hier beliebten Mungbohnen – Grundnahrungsmittel werden in Windeseile aus den Läden getragen. Es gibt mehrere Videos und Fotos, die Polizisten in voller Kampfmontur beim Plündern zeigen, hier sind es Elektrogeräte.
Gestern herrschte in der Innenstadt Anomie, Unordnung, Chaos. Verschiedene Organisationen haben in der Innenstadt Save Spaces eingerichtet. Freiwillige Helfer des nahe gelegenen Kenyatta-Krankenhauses errichten auf dem Gelände der Basilika der Kathedrale "Heilige Familie" einen Verbandsplatz, um die zahlreichen verletzten Demonstranten zu behandeln. Die Polizei schießt eine Gasgranate unter die dort behandelnden Ärzte, es gibt Verletzte.
Regierung droht Medien: Sender fürchten Abschaltung
Die Regierung versucht, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken, blockiert teilweise X. Politische X-Influencer werden seit Tagen entführt und verschwinden spurlos, Suchaufrufe werden auf X geteilt.
Gestern drohte die Regierung, die Medien abzuschalten, der kenianische Nachrichtensender KTN unterbricht seine Live-Sendung, um über die Abschaltdrohungen der Regierung zu informieren. Der Sender kündigt an, über seine Website und soziale Medien weiter berichten zu wollen.
Alle Medien stellen sich auf die Seite der Protestierenden. Das Land ist vereint gegen die neuen Steuergesetze.
Nachdem das Parlament von den Aufständischen besetzt worden war, begann die Polizei, scharfe Munition aus ihren Sturmgewehren statt Tränengasgranaten abzufeuern. Im Stadtzentrum soll es mindestens zehn Tote gegeben haben. Es gibt Videos, die zeigen, wie die Polizei Munition verteilt und mit ihren Gewehren auf Menschen schießt.
Polizeigewalt eskaliert: Scharfschützen gegen friedliche Demonstranten
Beobachter sprechen übereinstimmend von friedlichen Protesten, die in Gewalt umschlugen, als die Polizei ohne Provokation Tränengasgranaten auf friedliche Demonstranten abfeuerte. Es gibt auch Berichte über Scharfschützen, die auf friedliche Demonstranten geschossen haben sollen. Einer dieser Scharfschützen wurde von einer aufgebrachten Gruppe von Demonstranten gefangen genommen und den Medien vorgeführt, wie hier auf X zu sehen ist.
In der Nacht sollen nach unbestätigten Berichten weitere 22 Menschen durch Polizeigewalt gestorben sein, als sich im Armenvorort Githurai Proteste formierten. Auf Videos ist das Krachen der Schnellfeuergewehre der Polizei zu hören. Doch keiner der Demonstranten ist bewaffnet.
Präsident schürt Hass: Demonstranten als "Kriminelle" beschimpft
Der Protest in Githurai hatte sich nach 21 Uhr formiert, nachdem sich Präsident Ruto in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung gewandt hatte. Darin bezeichnete er die Demonstranten als Kriminelle und Verräter und bedrohte sie.
Ein Schlag ins Gesicht der in ihrer überwältigenden Mehrheit friedlichen Protestierenden angesichts der Polizeigewalt, die im Laufe des Tages eskalierte. Allein 120 Demonstranten sollen mit Schussverletzungen ins Kenyatta-Krankenhaus eingeliefert worden sein. Jüngste Berichte sprechen von 53 Toten am gestrigen Tag, davon allein 30 durch Polizeigewalt im Armenviertel Githurai.
Sorge um Demokratie: "Das geht alles in Richtung Diktatur"
Scarlett, die Journalistin, ist wütend: "Wie kannst du die Leute Verbrecher nennen, wenn du selbst mit Waffen kommst und friedliche Demonstranten tötest, das ergibt keinen Sinn." Sie will morgen nicht mehr protestieren, sie hat Angst um ihr Leben, Angst, auch erschossen zu werden.
Auch Jeff, IT-Spezialist und 30 Jahre alt, kann nicht fassen, was passiert: "Der Präsident sollte ein Symbol der nationalen Einheit sein, aber jetzt erklärt er friedliche Demonstranten zu Verrätern und Kriminellen und bedroht sie. Was ist los mit ihm? Das wird zu seinem Sturz führen", ist sich Jeff sicher. "Die Menschen sind schon lange verzweifelt und wütend, die Steuergesetzgebung war nur der Auslöser für die Proteste".
Wütend ist er auch über die neue Haiti-Mission der Regierung. Kenia ist der neueste Verbündete der USA, erst gestern berichteten die Medien über die Ernennung Kenias zu einem "wichtigen Nicht-Nato-Verbündeten". Unter US-Führung hat Kenia 400 Polizisten nach Haiti geschickt. Diese würden nun in Kenia fehlen und viel Geld kosten. Statt der Polizei habe der Präsident jetzt die Armee gegen die Demonstranten mobilisiert: "Das geht alles in Richtung Diktatur, bald haben wir hier Verhältnisse wie in Uganda".