zurück zum Artikel

"Gezielte Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme in Europa"

Jürgen Roth rechnet mit der europäischen Krisenpolitik ab, die einem kalten Staatsstreich gleicht

In Europa gibt es einen stillen Putsch, einen kalten Staatsstreich. Er erfolgt aus dem Innern diskreter wirtschaftspolitischer Machtnetzwerke und er ist gegen die Bevölkerung Europas gerichtet. So lautet die Kernthese im neuen Buch des Investigativjournalisten Jürgen Roth mit dem Titel "Der stille Putsch" [1].

Das klingt nach Verschwörungstheorie, aber wer das Buch von Roth liest, bemerkt schnell: Zentrale Akteure, die in der Euro-Krise die Weichen stellen, agieren nicht im luftleeren Raum oder bedienen sich etwa bei ihren Entscheidungen einer über jeden Zweifel erhabenen "freischwebenden Intelligenz". Weichensteller der europäischen Krisenpolitik sind eingebunden in verschwiegene Machtzirkel, sie haben fragwürdige biographische Hintergründe, die bei einer Analyse ihres Handelns in der Euro-Krise berücksichtigt werden müssen. An dieser Stelle setzt Roth an. Er richtet das Schlaglicht auf die Strukturen der Machtelite und verdeutlicht, dass die derzeitigen Umwälzungen in Europa im Hinblick auf die Sozial-, Gesundheits-, und Bildungssysteme Bestandteil einer Agenda sind. Einer Agenda, die gegen die Interessen der breiten Bevölkerung gerichtet ist.

Das Buch von Jürgen Roth kann man mit einem Medikament vergleichen. So wie bei Medikamenten auf die Dosierung zu achten ist, so sollte auch dieses Buch mit Vorsicht "eingenommen" bzw. gelesen werden. Das gilt insbesondere für jene, die ihr politisches Wirklichkeitsverständnis in Sachen Euro-Krise aus den politischen Talk-Shows oder den Leitartikel der großen Medien beziehen.

Roth macht das, was er in der Vergangenheit bei seinen vielen anderen Büchern auch schon getan hat und was er sicher kann: Er zeigt Verflechtungen zwischen Politik und Kapital auf, dass es dem unbedarften Leser, der sich der Lektüre ernsthaft stellen will, nur so schwindelig wird. Indem Roth die schweren Verwerfungen in Europa, wie sie derzeit zu erkennen sind, als das Ergebnis eines "stillen Putschs" bezeichnet, bietet er dem Leser eine Art begriffliches Instrumentarium, mit dem es möglich ist, die Euro-Krise aus einer herrschaftskritischen Sicht zu benennen und folglich zu betrachten. Und damit wirkt das Buch von Roth im Vergleich zu den oberflächlichen "Analysen" der politischen Talk-Shows und Leitartikel der großen Medien, wie ein Kontrastmittel.

Deutlich wird: Die Wirklichkeitskonstruktion, wie sie von Politik und Medien aufgebaut wurde, ist unzureichend, die Totenwinkel sind zahlreich. Auch wenn man gewiss nicht immer der Argumentation des Autors folgen muss, so sind die Fakten und Sachverhalte, die er anführt, nicht so einfach vom Tisch zu wischen.

"Der Putsch wurde von der Machtelite geplant und durchgeführt"

Sie sprechen in Ihrem neuen Buch von einem "stillen Putsch" und einer Art "kalten Staatsstreich", der in Europa stattgefunden hat. Was meinen Sie damit?
Jürgen Roth: Der in Europa regierenden neoliberalen Elite in Politik und Wirtschaft ist es in den letzten vier Jahren unter dem Vorwand notwendiger Reformen (Schuldenbremse etc.) gelungen, ein wirtschaftliches und soziales Ordnungssystem durchzusetzen, bei dem es ausschließlich um die Machterhaltung, Besitzstandwahrung und Vermögensvermehrung einer globalen Elite geht und zwar durch die gezielte Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme in Europa. Es ist ein klarer Systemwechsel durch einen Putsch, bei dem die Menschenrechte in Spanien, Portugal oder Griechenland, laut des Menschenrechtsbeauftragten des Europarates Nils Muiznicks, mit Füßen getreten werden, die Europäische Sozialcharta ausgehebelt wurde. Es ist ein Putsch, der seit 2009 mehreren tausend Menschen das Leben gekostet hat, durch fehlende Krankenversorgung, Hunger oder Selbstmorde aus Verzweiflung. Wir hier in Deutschland wollen das anscheinend nicht wahrnehmen, weil wir kein Blut oder kein Militär sehen wie bei einem klassischen Putsch.
Sie sehen also in der gegenwärtigen "Europa-Krise" nicht einfach nur das Produkt einer Zusammenreihung von, sagen wir: "unglücklichen Entscheidungen" der politischen Elite und schwer zu kontrollierenden äußeren Faktoren, sondern Sie gehen davon aus, dass skrupellose Machteliten planvoll vorgehen. Wie untermauern Sie diese These?
Jürgen Roth: Nein, das waren keine "unglücklichen Entscheidungen", sondern der Putsch wurde von der Machtelite geplant und durchgeführt. Wobei die Troika dabei eine führende Rolle spielte. Das ist keine These, sondern die Realität.
Wir brauchen uns nur Griechenland und Portugal anzusehen, was ich ja näher untersucht habe. Wolfgang Hetzer, ehemaliger Berater des verstorbenen Generaldirektors von OLAF in Brüssel, fragt, ob sich im Bereich der modernden Finanzgesetzgebung eine arbeitsteilige Kultur des kalten Staatsstreichs etabliert hat. Und Ulisses Garrido, der Direktor der Abteilung für Bildung des Europäischen Gewerkschaftsbundes, diktierte mir ins Mikrophon: "Das ist keine Verschwörungstheorie. Für mich ist es ein Putsch, weil es die Synthese dessen ist, was wir hier in Europa erleben, eine Attacke auf den Sozialstaat. Was erreicht werden soll, ist eine komplette Veränderung der Gesellschaft, ohne dass die Bevölkerung darüber mitentscheiden kann. Es ist eine ideologische Revolution, ein stiller Putsch - zweifellos."
Und ich könnte noch mehr Beispiele anbringen, zum Beispiel Portugal. Dort hat die Troika genau das an sozialem und gesellschaftlichem Kahlschlag durchgesetzt, was die konservative Regierung auf demokratischem Weg nicht erreichen konnte. Ich weise nach, dass die Regierung in Lissabon der Troika sogar diktiert hatte, was alles an sozialen Errungenschaften zerschlagen werden muss. Und genau das wurde dann von der Troika umgesetzt.
In Ihrem Buch zeigen Sie auf, in welches (unheilvolle) Beziehungsgeflecht zentrale europäische Entscheider eingebunden sind. Nehmen wir Mario Draghi, den Präsidenten der Europäischen Zentralbank.
Jürgen Roth: Nicht nur Mario Draghi, sondern auch Manuel Barroso. Beide verbindet etwas Grundsätzliches - sie waren integrierter Teil jener politischen neoliberalen Elite, die verantwortlich für die tiefe Korruption in ihren Ländern waren, die zu den enormen Schulden geführt haben. Und sie - sowie ihre politischen Freunde - sollen jetzt einen radikalen Kurswechsel herbeiführen?
Bei Mario Draghi ist das besonders deutlich. Bereits im Jahr 1992 war er der Verantwortliche im italienischen Schatzamt für die Privatisierung von Staatsbetrieben. Damals traf er sich im Juni 1992 in Sardinien mit internationalen Investoren, um über die Privatisierung der meisten italienischen Staatsunternehmen zu diskutieren.
War das ein geheimes Treffen?
Jürgen Roth: Ja, es war natürlich ein vollkommen geheimes Treffen - wie es sich gehört. Es ging um eine Privatisierung, von der nur internationale Finanzhaie profitierten. Und es geschah genau in der Zeit, als in Mailand, mit der Aktion Mani Pulite (saubere Hände) der größte Korruptionsskandal der politischen Elite aufgedeckt wurde. Danach begann der unaufhaltsame Aufstieg des Medienmoguls Sivio Berlusconi, ein Günstling der italienischen Cosa Nostra.
In dieser Zeit und in diesem System stieg auch Mario Draghi weiter auf. Unter seiner Ägide wurde der Finanzmarkt derart liberalisiert, dass massive Spekulationen, Geschäfte mit Derivaten und andere undurchsichtige Finanzgeschäfte ermöglich wurden. Dann ging Draghi 2002 zu Goldman Sachs. Nach vier Jahren kehrte er nach Rom zurück und wurde Präsident der italienischen Zentralbank. Und zwar unter Berlusconi. Und seine Freunde waren Männer, die der berüchtigten Loge P 2 [2] angehörten, wie der Unternehmer Elia Valori.
Was bedeuten diese Zusammenhänge im Hinblick auf die gegenwärtige Krise?
Jürgen Roth: Mario Draghi, darum geht es mir in meinem Buch, ist beispielhaft dafür, aus welchem politischen korrupten Milieu die Männer kommen, die heute in Europa das Sagen haben und mitverantwortlich für den Putsch sind, weil sie die Sachwalter einer neoliberalen Elite waren und deren Interessen bis heute umsetzen. Interessanterweise wird auch dieser Aspekt in der öffentlichen Wahrnehmung bei uns vollkommen ausgeblendet.
Beschreiben Sie doch mal, wie Draghi sich in Sachen Griechenland verhalten hat und warum Sie darin ein Problem sehen.
Jürgen Roth: Es geht unter anderem um das Jahr 2001. Griechenlands Beitritt zum Euro stand zur Debatte. Doch Griechenland wies bekanntlich ein extrem hohes Staatsdefizit aus. Da kam Goldman Sachs zur Hilfe, bot eine Eurofinanzierung in Höhe von 2,8 Milliarden Euro an. Das würde es ermöglichen die Maastrich-Kriterien zu erfüllen. Es war ein komplizierter Derivate Swap, der den Staatshaushalt hoch belastete. Goldman Sachs bestand auf einer Geheimhaltungsklausel und Draghi war damals bei Goldman Sachs für diese undurchsichtigen Geschäfte als Vizepräsident verantwortlich für die Verhandlungen mit den Regierungen. Er bestritt zwar, für den Griechenland-Deal verantwortlich gewesen zu sein - doch ähnliche Initiativen hatte er mit anderen europäischen Regierungen besprochen, so die New York Times.

Geheime Zirkel sind die neoliberale Speerspitze der globalen Wirtschaft

In ihrem Buch richten Sie die Aufmerksamkeit nicht nur auf einzelne Akteure, sondern auch auf die Netzwerke. Sie führen Organisationen wie die Bilderberg-Gruppe, den European Round Table of Industrialists oder die Baden Badener Unternehmergespräche an. Was hat es damit auf sich?
Jürgen Roth: Besonders weise ich ja auf den "Entrepreneur Roundtable" in der Schweiz und Deutschland hin. Über den hatte bislang in Deutschland kein einziges Medium berichtet. Dort versammeln sich hochkarätige Banker, Wirtschaftsmagnaten und Medienmogule zu "informellen" Besprechungen, 7 bis 8 Mal im Monat. Es ist ein geheimes Bündnis. Und ich zeige, wer aus der Schweiz und Deutschland dazu gehört. Die deutschen Teilnehmer habe ich alle um Auskunft gebeten. Der einzige, der geantwortet hatte, war Martin Blessing, der CEO der Commerzbank. Die Antwort der Pressestelle: "Dazu können wir nichts sagen." Geheime Zirkel wie die Bilderberg-Gruppe oder der European Round Table of Industrialists sind die neoliberale Speerspitze aus der globalen Wirtschaft, die erfolgreich die Politik beeinflussen, ob in Berlin oder Brüssel. Sie sind diejenigen die vom stillen Putsch profitieren, und die ihre Interessen mit allen Mitteln durchsetzen und zwar über die Troika.
Die Machtstrukturforschung verweist seit Jahrzehnten darauf, dass sich anhand solcher Elite-Zirkel ein vorgelagerter politischer Formationsprozess erkennen lässt, demokratische Strukturen unterlaufen werden. Wie sehen Sie das?
Jürgen Roth: Man ist ja gerne schnell bei der These, dass sei alles Verschwörungstheorie. Wer sich jedoch die Liste dieser geheimen, vollkommen intransparenten Elite-Zirkel ansieht, wird sehr schnell sehen, dass - von wenigen Ausnahmen abgesehen - ihnen nur die kleine Elite der neoliberalen Machtstrukturen angehört - von Goldman Sachs über Deutsche Bank und Commerzbank bis hin zu McKinsey, Daimler oder Siemens. Und wenn dann - wie bei den Bilderbergern - einmal ein Politiker wie Jürgen Trittin eingeladen wird, dann ist er allenfalls so eine Art nützlicher Idiot für die Elite-Zirkel. Hingegen passen in diese Strukturen Männer wie Manuel Barroso oder Mario Draghi. Und genau die waren ja dort, ebenso wie die Chefin des IWF. Prachtexemplare konservativer Gralshüter.
Was meinen Sie: Warum werden diese Zusammenhänge von den großen Medien gar nicht, oder teilweise nur verharmlost, thematisiert?
Jürgen Roth: Das ist mir auch ein Rätsel. Entweder werden die Journalisten von ihren Herausgebern, die ja häufig Teilnehmer dieser Elitezirkel sind, ausgebremst, oder es ist einfach die Angst, in eine bestimmte Ecke gedrängt zu werden, eben der Verschwörungstheoretiker. Und manchmal ist Recherche, insbesondere was die Vergangenheit bestimmter Politiker und Wirtschaftsführer angeht, ziemlich aufwendig.
Zur Euro-Krise gab es viele Leitartikel, Kommentare und Talk-Shows. Von einem "stillen Putsch" war da, wenn ich mich recht erinnere, keine Rede. Woran liegt das?
Jürgen Roth: Dazu gibt es zwei Ursachen. Zum einen weil das Wort Putsch oder stiller Putsch ausschließlich mit einem Militärputsch verbunden ist. Und das Wort Putsch hört und liest sich so abenteuerlich an, dass der Zusammenhang zwischen dem eindeutigen Systemwechsel in Europa, hin zur neoliberalen autoritären Staatsform, anscheinend nicht begriffen wird. Und zum anderen denken auch die Leitartikelschreiber, die Kommentatoren, ganz zu schweigen von den Talkshow-Redakteuren, ausschließlich national. Sie sehen nicht den europäischen Gesamtzusammenhang. Das ist für sie alles viel zu kompliziert.

Die Prekarisierung der Gesellschaft ist noch nicht abgeschlossen

Was bedeutet es für die Bürger und die Bevölkerung Europas, wenn Leitmedien die Realität bei einem so wichtigen Thema so unzureichend abbilden?
Jürgen Roth: Die Bürger und Bürgerinnen werden einfach weiterhin für dumm verkauft. Aufschlussreich ist doch, dass im Zusammenhang mit der sogenannten Schuldenkrise niemand davon spricht, dass die korrupte politische Elite die für diesen Zustand verantwortlich war, heute immer noch an der Macht ist und sie die einzigen sind, die von dem Systemwechsel profitieren.
Die Recherchen für ihr Buch haben Sie in verschiedene europäische Länder geführt. Sie waren unter anderem in Griechenland, Spanien und Portugal. Was haben Sie dort erlebt?
Jürgen Roth: Absolute Hoffnungslosigkeit auf der einen Seite, insbesondere bei den jungen Menschen, eine Generation ohne eine Zukunft. Und auf der anderen Seite, das unterscheidet sich von Deutschland, heftiger Widerstand gegen die Troika und die korrupte politische Elite. Ob in Portugal, Spanien, Italien oder Griechenland, da gehen Hunderttausende auf die Straße - hier in Deutschland herrscht überwiegend Friedhofsruhe, obwohl diese Länder ein Modell für uns alle sind.
In ihrem Buch vertreten Sie die These, dass "der Putsch" weitergehen wird. Was heißt das?
Jürgen Roth: Das bedeutet, dass die Prekarisierung der Gesellschaft noch nicht abgeschlossen ist, dass die Privatisierungsorgie weitergehen und der demokratische Sozialstaat noch weiter ruiniert werden wird.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um der Entwicklung entgegenzutreten?
Jürgen Roth: Ich weiß es wirklich nicht. Es gibt glücklicherweise viele Aktivitäten, von ATTAC, über Blockupy, einzelnen Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, dem Alter Summit (eine Allianz von mehr als 150 Organisationen). Sie sind zumindest bereit dafür zu kämpfen, dass die herrschende Elite nicht so unbehindert wie bislang agieren kann. Ob es Erfolg bringen wird? Ich bezweifle es - leider. Und bei den Europa-Wahlen wird sich ja zeigen, welche Partei die meisten Stimmen bekommen wird. Sicher nicht diejenige, die gegen den stillen Putsch opponiert.

Mehr Gespräche mit Jürgen Roth: "Das Rechtsstaatsprinzip bröckelt gewaltig", Gazprom als politische, wirtschaftliche und geheimdienstliche Waffe der Kreml-Kleptokratie und "Dummheit schützt nicht vor Komplizenschaft".


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3364733

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.randomhouse.de/Buch/Der-stille-Putsch/Juergen-Roth/e421130.rhd
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Propaganda_Due