Gibt es versteckte Botschaften in der Bibel?
In der Bibel sind Botschaften versteckt, die schon vor Jahrtausenden die Terroranschläge vom 11. September 2001 und andere Ereignisse voraussagten
Das jedenfalls behauptet seit über zehn Jahren der US-Buchautor Michael Drosnin, der 1997 mit seinem Buch „Der Bibel Code“ einen Bestseller landete. Man muss angeblich nur die Buchstaben des hebräischen Bibel-Originaltexts auf die richtige Weise anordnen, und schon treten die interessantesten Prophezeiungen zutage. Eine genauere Betrachtung lässt jedoch erhebliche Zweifel aufkommen.
Die Idee, in der Bibel nach verborgenen Botschaften zu suchen, geht auf den jüdischen Rabbi Chaim Weissmandl zurück. Dieser suchte in den vierziger Jahren im Text der Thora (entspricht etwa dem Alten Testament) nach etwaigen Mitteilungen, indem er so genannte äquidistante Buchstabenfolgen bildete. Eine solche Folge entsteht, wenn man in einem Text nicht alle Buchstaben, sondern beispielsweise nur jeden dritten oder jeden zehnten betrachtet und dabei Wortzwischenräume und Satzzeichen ignoriert. In der Regel entsteht auf diese Weise eine sinnlose Aneinanderreihung von Buchstaben, in der höchstens per Zufall das eine oder andere sinnvolle Wort enthalten ist. Ergeben sich dagegen in einer äquidistanten Buchstabenfolge mehrere sinnvolle Wörter, die sich zu einer Nachricht zusammenfügen, dann spricht dies dafür, dass der Urheber bewusst eine versteckte Botschaft in den Text kodiert hat.
Der Rips-Code
Die scheinbar positiven Ergebnisse von Chaim Weissmandl regten 1983 den israelischen Mathematiker Eliyahu Rips dazu an, sich mit den angeblichen Codes in der Thora zu beschäftigen. Rips galt damals wie heute als genialer Mathematiker, der sich im Bereich der Gruppentheorie weltweites Ansehen erworben hatte. Der in Lettland aufgewachsene gläubige Jude galt bereits in jungen Jahren als mathematisches Ausnahmetalent, eckte jedoch mit seinen politischen Ansichten an. 1969 musste er ins Gefängnis, nachdem er versucht hatte, sich selbst in Brand zu stecken, um gegen das Eingreifen sowjetischer Truppen im Prager Frühling zu demonstrieren. Selbst während seiner Inhaftierung gelangen Rips bedeutende mathematische Entdeckungen. Nach heftigen Protesten westlicher Mathematiker wurde Rips 1972 freigelassen und nach Israel abgeschoben, wo er seine Karriere fortsetzte.
Für seine Suche nach versteckten Nachrichten in der Thora engagierte Rips einen Physiker namens Doron Witztum. Nachdem erste Untersuchungen äquidistanter Buchstabenfolgen positive Resultate erbracht hatten, beschlossen Rips und Witztum, auf diese Weise in der Thora nach den Namen bedeutender Juden sowie deren Geburts- und Sterbedatum zu suchen. Sie wollten wissen, in wie vielen Fällen ein gesuchter Name in räumlicher Nähe zum zugehörigen Geburts- oder Sterbedatum auftauchte. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung ließen erwarten, dass es den einen oder anderen Treffer geben würde. Rips und Witztum hofften jedoch auf eine besonders hohe Trefferzahl. Eine solche hätte darauf hingedeutet, dass die Thora einen unbekannten Code in sich barg.
Die Liste der gesuchten Namen und Daten stellten Rips und Witztum mit Hilfe einer jüdischen Enzyklopädie zusammen. Sie berücksichtigten insgesamt 66 prominente jüdische Personen, jeweils mit Geburts- und Sterbetag. Da jeder hebräische Buchstabe einem bestimmten Zahlenwert zugeordnet ist, mussten die beiden nicht zwischen Zahlen und Buchstaben unterscheiden. Als nächstes entwickelten Rips und Witztum ein statistisches Modell. Dieses definierte ein Maß für den Abstand zweier Buchstabenfolgen in einer äquidistanten Buchstabenfolge. Außerdem legte es eine Formel fest, aus der sich der Mittelwert mehrerer Abstände bestimmen ließ. Die Software zur Durchführung der Suche sowie zur Berechnung von Abständen und Mittelwerten steuerte der Computer-Experte Yoav Rosenberg bei.
Das Ergebnis der Code-Suche war höchst erstaunlich: Nach den Berechnungen von Rips und Witztum erschien der mittlere Abstand zwischen Name und Geburts- oder Sterbedatum signifikant kleiner als erwartet. Dies deutete darauf hin, dass der Urheber der Thora bewusst die Namen der berühmten Juden samt ihrer Lebensdaten in den Text eingebracht hatte. Da alle fraglichen Personen erst nach Niederschrift der Thora lebten, schien dieses Resultat mit wissenschaftlichen Argumenten nicht erklärbar. Rips, Witztum und Rosenberg diskutierten ihre Ergebnisse mit anderen Wissenschaftlern. Mehrere Verfeinerungen ihrer Suchverfahren änderten angeblich nichts am überraschenden Ergebnis.
Schließlich reichten die drei Wissenschaftler einen Aufsatz über ihre Entdeckungen bei der renommierten Fachzeitschrift Statistical Science ein. Da auch die Fachlektoren dieser Publikation keinen Fehler in der Argumentationskette fanden, erschien in der Ausgabe 3/1994 der Statistical Science der Artikel „Equidistant Letter Sequences in the Book of Genesis“ von Witztum, Rips und Rosenberg1. Darin erklärten die Autoren ihre statistischen Berechnungen und gaben für die entdeckten geringen Abstände zwischen Name und Datum eine Signifikanzstufe von 0,00002 an. Dies schien den Zufall als Erklärung auszuschließen.
Vom Insider-Thema zum Bestseller
Die Reaktionen auf den von Rips vermeintlich entdeckten Bibel-Code waren zunächst nicht so umfangreich, wie man es im Nachhinein vermuten würde. Die meisten Experten sahen in den angeblichen Thora-Botschaften eher ein Kuriosum als ein ernsthaftes Betätigungsfeld. Die Öffentlichkeit nahm vom Rips-Code ohnehin kaum Notiz. Dies sollte sich ändern, als der US- Journalist Michael Drosnin von den Untersuchungen Rips’ hörte. Drosnin hatte zuvor als Reporter bei der Washington Post und dem Wall Street Journal gearbeitet und 1987 die erfolgreiche Howard-Hughes-Biografie „Citizen Hughes“ veröffentlicht. Die Sache mit dem Thora-Code faszinierte Drosnin so sehr, dass er Eliyahu Rips besuchte, um sich ausführlich darüber zu informieren.
Trotz aller Faszination erschien es Michael Drosnin offensichtlich nicht spektakulär genug, dass in der Thora nur irgendwelche Prominente aus der Welt des Judentums mit ihren Geburts- und Sterbedaten zu finden waren. Daher machte sich der US-Journalist selbst an die Arbeit und durchsuchte äquidistante Buchstabenfolgen aus der Thora nach weiteren Botschaften. Im Gegensatz zu Rips verzichtete Drosnin dabei auf eine wissenschaftlich exakte Vorgehensweise und suchte stattdessen nach Gutdünken nach allerlei Begriffen, die ihm gerade einfielen. Bei entsprechender Variation der Suchparameter wurde er in den 304.805 Buchstaben der Thora meist auch fündig.
Wie zuvor Rips suchte auch Drosnin vor allem nach Fällen, in denen im äquidistanten Buchstaben-Gewirr mehrere sinnvolle Wörter in räumlicher Nähe zueinander auftauchten. Auf die Definition eines Abstandsmaßes und ähnliche mathematische Spitzfindigkeiten verzichtete er jedoch. Auf diese Weise stieß Drosnin beispielsweise auf Buchstabenkombinationen, die sich auf Hebräisch als „Jitzhak Rabin“ und „Mörder der morden wird“ lesen ließen und die sich obendrein überkreuzten. Dies interpretierte der Journalist als Hinweis auf den Mord am israelischen Ministerpräsidenten Rabin im Jahr 1995.
Weitere „Entdeckungen“ dieser Art veranlassten Michael Drosnin 1997 schließlich, sein Buch „The Bible Code“ (deutscher Titel: „Der Bibel Code“) zu veröffentlichen2. Darin berichtete er über zahlreiche angebliche Prophezeiungen in der Bibel. Diese bezogen sich auf Ereignisse zu Personen wie Jitzhak Rabin, Winston Churchill, Stalin, Adolf Hitler und Napoleon sowie auf andere Begebenheiten der Weltgeschichte. Außerdem schrieb Drosnin, er hätte nach Auswertung der biblischen Botschaften vergeblich versucht, Yitzhak Rabin vor dem bevorstehenden Attentat zu warnen.
Bei seinen Ausführungen verwischte Drosnin geschickt, dass die von ihm gefundenen angeblichen Prognosen zur Weltgeschichte nicht mehr viel mit den Arbeiten von Rips zu tun hatten – weder von den Ergebnissen noch vom wissenschaftlichen Niveau. Stattdessen schilderte „das wichtigste Buch, das je über das Buch der Bücher geschrieben wurde“ (Eigenwerbung) Rips als Helden und Erfinder des Bibelcodes, während sich Drosnin selbst bescheiden im Hintergrund hielt. Diese ebenso clevere wie dreiste Strategie verfehlte ihre Wirkung nicht. „Der Bibel Code“ wurde ein Weltbestseller, der sich weltweit über 20 Millionen Mal verkaufte. In Deutschland hielt sich das Werk stolze 39 Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste. Damit überflügelte „Der Bibel Code“ sogar den ebenfalls 1997 erschienenen Bestseller „Die Akte Astrologie“ von Gunter Sachs.
Die Reaktionen
Während zahlreiche Laien die Code-Spielereien in Drosnins Buch für bare Münzen nahmen, schüttelten Fachleute nur den Kopf. Statistiker und Code-Experten waren sich einig, dass man mit der Drosninschen Methode beliebige Botschaften in nahezu jedem Buch finden konnte, wenn man nur lange genug danach suchte. Im Fall der Rabin-Prognose hatte Drosnin eine Schrittweite von 4.772 eingestellt, wobei völlig unklar ist, nach welchen Begriffen Drosnin sonst noch suchte und wie groß dabei die Erfolgsquote war. Da der Autor auch rückwärts und schräg geschriebene Wörter zählte, erhöhte sich die Trefferzahl natürlich. Nicht zuletzt kam Drosnin entgegen, dass im Original der Bibel keine Vokale enthalten sind. Der Name Jithzak Rabin besteht daher nur aus acht und „Mörder, der morden wird“ aus elf Buchstaben. Eine weitere Vereinfachung ist, dass es im Hebräischen nur 22 Buchstaben gibt. Da jeder Buchstabe einer Zahl entspricht, fand Drosnin auch zahlreiche Jahreszahlen in seinen äquidistanten Folgen.
Drosnin ließ sich jedoch nicht beirren. Er forderte seine Kritiker im Nachrichtenmagazin Newsweek dazu auf, im Text von Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ vergleichbare Botschaften zu finden. Gelänge dies, so die Argumentation, dann wäre die Beliebigkeit des Bibel-Codes belegt. Der australische Mathematiker Brendan McKay ließ sich angesichts dieser Offerte nicht lange bitten und zeigte, dass sich auch in „Moby Dick“ vermeintliche Prophezeiungen aufspüren ließen. Obwohl im Englischen im Gegensatz zum Hebräischen die Vokale nicht fehlen, fand McKay die Morde an Indira Gandhi, Leo Trotzkij, Martin Luther King und John F. Kennedy in der bekannten Wal-Geschichte. Darüber hinaus stieß McKay auf die Wörter „MDrosnin“, „nail“, „killed“ und „liar“, die nahe beieinander lagen. Sollte dies ein Hinweis auf das Schicksal Drosnins sein?
Der Phyiker David E. Thomas machte sich ebenfalls auf die Suche nach versteckten Prophezeiungen und wurde in einer englischen Bibelübersetzung sowie einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA fündig. Auch die Skeptiker-Organisation GWUP nahm sich des Themas an. GWUP-Mitglied Wolfgang Hund nahm sich 1999 das Märchen Rotkäppchen vor und „entdeckte“ darin eine auf den Mentalmagier Uri Geller gemünzte Prophezeiung: „Uri is in LA in march tu meet US CIA men on old UFO“. Offenbar wussten die Gebrüder Grimm seinerzeit schon von einem Treffen zwischen Uri Geller und der CIA, das sie in Form einer äquidistanten Buchstabenfolge in ihr Märchen kodierten.
Angesichts dieser Sachlage erntete Drosnin in den seriösen Medien reihenweise hämische Kommentare. „Wer suchet, der findet“, spottete Christoph Drösser in der Zeit3. Der Spiegel bezeichnete Drosnins Buch als „Esoterik-Schwarte“ und sprach von einen „Code ohne Zukunft“4. Die Neue Zürcher Zeitung resümierte: „Der geheime Code ist nur eine Laune des Zufalls.5“ Lediglich der Focus widmete Drosnins Bibel-Code 1997 einen ausführlichen Artikel, der eine abschließende Bewertung vermied6. Man muss dem Autor jedoch vorwerfen, dass er den Unterschied zwischen dem Rips-Code und dem Drosnin-Code nicht hervorhob. Nach dieser Veröffentlichung war das Thema Bibel-Code dem Münchener Nachrichtenmagazin nie wieder eine Berichterstattung wert – abgesehen von einigen Leserbriefen. Einer davon begann mit den Worten: „Was für ein Schwachsinn!“
Eine Masche läuft sich tot
Natürlich distanzierte sich auch Eliyahu Rips von Drosnins Buch. Er erklärte, er habe nicht mit Drosnin zusammengearbeitet, er stütze dessen Schlussfolgerung nicht und halte Versuche für zwecklos, dem Bibelcode Prophezeiungen zu entnehmen. Das alles störte Drosnin offenbar nicht im Geringsten. 2002 zog er mit einem weiteren Buch nach, das unter dem Namen „Der Bibel Code II: Der Countdown“ in den deutschen Handel kam7. Dieses Werk ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Drosnin macht darin weiterhin keinen Unterschied zwischen dem von ihm beschriebenen Bibel-Code und den Arbeiten Rips’. Über die Kritik an seinen Code-Fantasien verliert der Autor kein Wort, sondern geht lediglich auf Kritik an den Behauptungen des israelischen Wissenschaftlers ein. Natürlich verschweigt Drosnin auch, dass sich Rips längst von seinem Bestseller distanziert hat und stellt den Mathematiker stattdessen erneut als seinen Partner dar, mit dem er bei seinen Recherchen angeblich regelmäßig telefonierte und den er häufig besuchte.
Inhaltlich bot das zweite Bibelcode-Buch wenig Neues. Unvermeidlicherweise wollte Drosnin zwischenzeitlich auch die Anschläge auf das World Trade Center im Jahr 2001 in der Bibel entdeckt haben, nebst einigen anderen bedeutenden Ereignissen der Weltgeschichte. Der wissenschaftliche Anspruch des Werks tendiert erneut gegen Null. So sind dem Buch keine statistischen Einzelheiten zu entnehmen, die den Zufall als Ursache der Fundstellen ausschließen. Offensichtlich hatte Drosnin jedoch zwischenzeitlich gelernt, was schon Nostradamus wusste: Bei Prophezeiungen zum Weltgeschehen sollte man nicht mit Schreckensszenarien sparen. Drosnin präsentiert im „Bibelcode II“ daher einen bevorstehenden „atomaren Holocaust“ für das Jahr 2006, wodurch sich auch der Untertitel „Der Countdown“ erklärt. Die genannte Katastrophe ist bisher allerdings nicht eingetreten.
Mit seiner zweiten Bibel-Code-Veröffentlichung musste Drosnin die Erfahrung machen, dass sich eine Masche nicht zu Tode reiten lässt, und so blieben die Verkaufszahlen von „Der Bibel Code II“ weit hinter dem Vorgänger zurück. In Deutschland schaffte das Werk nicht den Sprung in die Spiegel-Bestsellerliste. Dafür wurde Drosnin 2003 eine andere Ehre zuteil: Er erhielt eine Einladung ins Pentagon, wo ihn Geheimdienstmitarbeiter zum Aufenthaltsort von Osama Bin Laden befragten. Allerdings fand sich für diese äußerst interessante Frage bisher keine passende Bibelstelle.
Schon vor Jahren kündigte Drosnin den dritten Teil „Bible Code III: The Quest“ an. Die für April 2007 geplante Veröffentlichung verschob sich jedoch, und so müssen sich Fans und Skeptiker bis heute gedulden. Aktuell ist der Oktober 2010 als Erscheinungsdatum angekündigt. Die Neue Zürcher Zeitung hielt sich schon im Voraus mit kritischen Worten nicht zurück:
Darin [im dritten Bibel-Code-Buch] die Wortpaare ‚zu viel’ und ‚Fantasie’ zu finden, wird nur eine Frage von Fleiß und Rechenkraft sein.“
Gibt es wenigstens den Rips-Code?
Während die Fachwelt für Drosnins Bibel-Code nur Spott übrig hatte, erfuhren die etwas weniger spektakulären Arbeiten von Rips und Witztum deutlich weniger Widerspruch. Dennoch gab es auch gegenüber diesen fundierte Kritik. Als diesbezüglich wichtigste Arbeit gilt eine Veröffentlichung des bereits erwähnten Mathematikers Brendan McKay und vier weiterer Autoren in der Statistical Science8. Die fünf Wissenschaftler wiesen vor allem darauf hin, dass die von Rips und Witztum gewählte Vorgehensweise bei der Code-Suche zwar schlüssig, jedoch keineswegs ohne Alternative war. Schon bei der Auswahl der Rabbis hatten Rips und Witztum einige Freiheiten; gleiches galt für die Schreibweise der Namen, für die es fast immer mehrere Varianten gab. Auch bei der Definition des statistischen Modells – insbesondere des Abstandsmaßes – gab es Spielräume. Diese umfangreichen Freiheiten konnten Rips und Witztum nutzen, um die Parameter so zu wählen, dass die Trefferquote möglichst groß wurde. In der Tat zeigten die Untersuchungen von McKay und seinen Kollegen, dass nahezu jede andere Parameterwahl als die von Rips zu einem weniger spektakulären Ergebnis führte. Die Experten um McKay vermieden jedoch eine Aussage darüber, ob Rips und Witztum absichtlich günstige Parameter gewählt hatten oder ob es sich um einen Zufall oder ein Versehen handelte.
Abgesehen von statistischen Argumenten wiesen McKay und seine Kollegen auf ein weiteres Problem hin: Rips und Witztum nahmen für sich in Anspruch, ihre Experimente mit dem Originaltext der Thora durchgeführt zu haben. Damit meinten sie eine 1962 veröffentlichte Ausgabe des Koren-Verlags. Es gibt jedoch von allen Thora-Texten unterschiedliche Versionen, und daher ist es praktisch unmöglich, einen Originaltext anzugeben. So stimmt die Koren-Version beispielsweise nicht in allen Einzelheiten mit den Schriftrollen aus den Qumran-Höhlen überein, die als älteste Thora-Quelle gelten. Dabei ist klar: Sollte es den Bibel-Code wirklich geben, dann könnte ihn schon ein einziger fehlender Buchstabe zum Einsturz bringen.
Es gibt neben McKay noch weitere Rips-Code-Kritiker. 2003 produzierte die BBC eine Reportage, in deren Rahmen eine Wiederholung des Rips-Witztum-Versuchs durchgeführt wurde. Das Signifikanzniveau lag dieses Mal nur zwischen 0,3 und 0,5 statt bei 0,00002. Aus dem „statistischen Beweis eines Wunders“ (McKay und Kollegen) war damit eine Banalität geworden. Während Rips und Witztum bis heute an ihrer Code-Theorie festhalten, kamen die BBC-Redakteure zu einem eindeutigen Schluss:
[Solange der wissenschaftliche Befund nicht wasserdicht ist], können Skeptiker mit Recht bezweifeln, dass die Wissenschaft die Existenz des Bibel-Codes je belegen kann.
Inzwischen hat Rips mit einer neuen Veröffentlichung nachgelegt. Darin behauptet er, dass in der Thora ein Code enthalten sei, der Hinweise auf die Terroranschläge auf das World Trade Center im Jahr 2001 enthält9. Diese Behauptung kam überraschend, denn bis dahin hatten sich Rips‘ Code-Funde nur auf die Namen und Lebensdaten prominenter Juden bezogen. Mit Drosnins Spielereien hatte die neue Rips-Theorie dennoch wenig zu tun, da es sich bei letzterer um eine wissenschaftlich deutlich fundiertere These handelt. Da das Interesse am Bibel-Code inzwischen generell nachgelassen hat, gab es bisher nur wenige Reaktionen auf den neuen Rips-Code. Auffällig ist, dass es für die Code-Suche erneut zahlreiche Stellschrauben gibt, die sich auf ein möglichst spektakuläres Ergebnis optimieren lassen. Man darf also weiterhin Zweifel am Wunder haben.
Am Ende wird sich der Bibel-Code voraussichtlich in eine lange Reihe anderer spektakulärer Codes einreihen müssen, die allesamt wohl nur in der Einbildungskraft einiger Zeitgenossen existieren. Dazu gehören beispielsweise versteckte Botschaften im Koran, in den ägyptischen Pyramiden, in den Werken Shakespeares, im Voynich-Manuskript, auf dem Turiner Grabtuch, in Kompositionen Johann Sebastian Bachs und in den Nazca-Scharrbildern – um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen10. Vielleicht sucht demnächst auch jemand nach einem Telepolis-Code. Es gibt sicherlich genug Möglichkeiten, einen solchen zu entdecken.
Der Text erschien in ähnlicher Form erstmals in der Zeitschrift Skeptiker (3-2006). Klaus Schmeh ist Autor des Telepolis-Buchs „Versteckte Botschaften“, in dem auch der Bibel-Code eine Rolle spielt, sowie Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP).