Gil Ofarims Geständnis führt den Vorverurteilungs-Journalismus vor
Bild (2018): © Superbass / CC-BY-SA-4.0 (via Wikimedia Commons).
Der Sänger ist über seine Lügengeschichte gestolpert. Für die Fallhöhe aber haben Medien gesorgt. Erregung zählte, ein Orientierungsangebot fehlte von Anfang an, beobachtet unser Autor.
Nach einem Geständnis hat das Landgericht Leipzig das Strafverfahren gegen Gil Ofarim vorläufig eingestellt. Der Sänger hatte vor zwei Jahren einen Hotelmitarbeiter beschuldigt, ihn antisemitisch diskriminiert zu haben. Nun räumte er ein, damals die Unwahrheit gesagt zu haben.
Ein zweiminütiges Selfie-Video, das Gil Ofarim im Oktober 2021 auf Instagram veröffentlicht hatte, beschäftigte seinerzeit die deutsche und zum Teil auch internationale Öffentlichkeit. Ofarim schildert darin, im Westin Hotel Leipzig aufgefordert worden zu sein, seine Kette mit David-Stern wegzupacken, andernfalls könne er nicht einchecken.
"Ich bin gerade sprachlos, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll", beginnt Ofarim seinen Monolog und endet nach der Schilderung seines angeblichen Erlebnisses mit den Worten: "Deutschland 2021."
Das Video ging viral, und alsbald stürzten sich die Medien auf den Vorwurf. "Gil Ofarim antisemitisch angefeindet", titelte die Bild-Zeitung am 6. Oktober 2021 auf Seite 3.
"Große Welle an Sympathie- und Solidarisierungsbekundungen"
Johannes Boie kommentierte in der Welt am 7. Oktober 2021: "Zum Glück erzeugte Ofarims Bericht eine große Welle an Sympathie- und Solidarisierungsbekundungen. Auch das Hotel reagierte. Zwei Mitarbeiter sind beurlaubt."
Es folgten wechselseitige Strafanzeigen: gegen den Hotelmitarbeiter "wegen aller in Betracht kommender Delikte", wie Ofarims Managerin Yvonne Probst seinerzeit zur Bild-Zeitung sagte, und gegen Ofarim wegen Verleumdung.
Die Justiz ermittelte umfangreich, Leipziger Kripo-Beamte sollen eigens zur Vernehmung Ofarims nach München gereist sein, die Aufnahmen der Hotelüberwachung wurden gesichtet, Gutachter beauftragt.
Die Ermittlungen gegen den Hotelmitarbeiter wurden schließlich eingestellt, dafür Anklage gegen den Sänger erhoben. Nach einer langen Verschiebung startete der Prozess nun am 7. November vor dem Landgericht Leipzig, u.a. wegen Beleidigung, Verleumdung, falscher Versicherung an Eides statt und Betrugs. Zehn Verhandlungstage waren angesetzt.
In einem Interview mit der Welt sagte Gil Ofarim kurz vor Prozessbeginn: "Ich freue mich, dass dem Ganzen endlich ein Ende gesetzt wird und habe auch das Vertrauen in die Justiz, dass das passiert." Auf die Frage "Haben Sie in Ihrem Instagram-Video die ganze Wahrheit gesagt und nichts weggelassen oder dazu erfunden?" antwortete er:
Ich habe, so wie es war, alles gesagt. Drohungen und Beleidigungen gehören zwar zu meinem Alltag. Aber ich glaube mittlerweile, dass Antisemitismus nicht stärker, aber salonfähiger geworden ist. (...)
Ich weiß, was mir passiert ist. Es ging mir nicht um den Mitarbeiter, sondern um Antisemitismus. Ich bin froh, dass jetzt viel herauskommen wird, was bisher nicht gesagt oder geschrieben worden ist.
Gil Ofarim, Interview vor Prozessbeginn, Die Welt
Die 180-Grad-Wende
Am gestrigen sechsten Verhandlungstag kam die 180-Grad-Wende. Ofarim räumte die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft ein, wider besseres Wissen die Unwahrheit über den Vorfall im Westin-Hotel verbreitet zu haben.
Bei dem betroffenen Hotelmitarbeiter entschuldigte er sich. Das führte dazu, dass das Gericht das Verfahren gegen eine Geldauflage vorläufig einstellte. Ofarim soll 10.000 Euro zugunsten der Jüdischen Gemeinde zu Leipzig und dem Trägerverein des Hauses der Wannseekonferenz zahlen, danach wird das Strafverfahren endgültig eingestellt.
Dem fälschlich öffentlich beschuldigten Hotelmitarbeiter zahlt Ofarim ein Schmerzensgeld, dessen Höhe nicht genannt wurde.
Das Landgericht Leipzig erklärte, in seinem Schlusswort habe der Vorsitzende Richter darauf hingewiesen, der Angeklagte habe mit seiner Entschuldigung den guten Ruf des Hotelmanagers wiederhergestellt und könne so seinen eigenen wiedererlangen. Die Einstellung des Verfahrens ermögliche ihm jetzt einen befreiten Neustart.
Medien: Ausführliche Verdachtsberichterstattung
Wie so oft bei ausführlicher Verdachtsberichterstattung steht vor allem die Frage im Raum, wie gut die Medien ihren Job erledigt haben. Zwar fand Ofarims Instagram-Post im Netzwerk große Verbreitung - doch eine Verpflichtung der Medien, es von dort in die weitere Welt hinauszutragen, gab es nicht.
Wie Die Zeit in einem durchaus Ofarim gewogenen Beitrag bereits am 14. Oktober 2021 schrieb:
Zugleich warnen jene, die mit den Ermittlungen befasst sind, vor zu schnellen Schlüssen: Es sei längst nicht alles so klar, wie es bislang scheine. Das öffentliche Urteil sei gesprochen gewesen, ehe der erste Polizist mit den Befragungen von Zeugen beginnen konnte.
Niemand außer Gil Ofarim redet derzeit öffentlich, weder der Hotelkonzern noch dessen Mitarbeiter in Leipzig, auch die Ermittlungsbehörden nicht. (...)
Ermittler fürchten, dass es immer schwieriger wird, Zeugen unbefangen zu vernehmen und den Fall aufzuklären. Die Stimmung sei so aufgeheizt, dass man sich um alle Beteiligten nur noch Sorgen mache.
Anne Hähnig und Martin Machowecz, Zeit
Außer dem Vorwurf von Gil Ofarim gab es zu Beginn der Berichterstattungswelle nichts. Doch mit dieser häuften sich die Statements, die zu immer weiteren Berichten, Spekulationen und Forderungen führten. Ein Orientierungsangebot war von Anfang an nicht zu erkennen.
Denn dazu hätte Ofarims Instagram-Beitrag wenigstens ins Verhältnis zu all dem anderen gesetzt werden müssen, was seinerzeit an objektiv ähnlich Relevantem in den Social-Media-Netzen kursierte, natürlich insbesondere zum Bereich Antisemitismus (siehe Stichwort "Maßstabsgerechtigkeit").
Abgesehen von den eigenen kommerziellen Interessen gab es keine Eile, einer unbelegten Behauptung die ganz große Bühne zu bieten und einen Deutschland-Eklat auszurufen. Der Fall hätte in aller Ruhe von Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelt werden können.
Professionelle Nüchternheit?
Und die Medien hätten ihrerseits recherchieren können - ebenfalls in aller Ruhe, was nicht nur meint "mit ausreichend Zeit", sondern auch mit professioneller Nüchternheit.
Doch es dominierte wie so oft die Erregung. Beispielhaft die Süddeutsche Zeitung am 6. Oktober 2021:
Und wieder sind alle fassungslos. Doch bei aller Entsetzlichkeit der Geschehnisse im Leipziger Westin-Hotel: Überraschen darf der antisemitische Vorfall, den der Musiker Gil Ofarim publik gemacht hat, eigentlich niemanden.
So beginnt Gökalp Babayiğit seinen Kommentar kurz nach der Falschbehauptung. Für Zweifel – und mithin Recherche – ist kein Raum.
"Natürlich ist die Empörung vollends berechtigt, die sich noch in der Nacht vor dem Hotel in Leipzig Bahn gebrochen hat", schreibt Babayiğit, stellvertretender Ressortleiter Politik. Und er verweist auf einen weiteren Beitrag Ofarims, in dem dieser zu erkennen gebe, dass er sich die Unterstützung von anderen Gästen gewünscht hätte. Der Autor weiter:
Niemand habe etwas gesagt, als die Hotel-Mitarbeiter ihn aufforderten, seinen Davidstern "wegzupacken". Zivilcourage mag im Angesicht von drohender physischer Gewalt mitunter schwer aufzubringen sein. Dass sich aber offenbar niemand in einer gut gefüllten Lobby bemüßigt fühlt, sich an die Seite eines Opfers von Diskriminierung zu stellen, lässt mangelndes Problembewusstsein vermuten.
Gökalp Babayiğit, SZ
Allerdings nur, wenn sich der Fall so zugetragen hätte, wie von Ofarim behauptet, was nun aber sowohl nach den Ermittlungen als auch dessen eigenem späten Geständnis nicht der Fall war. Eine "gut gefüllte Lobby" und niemand reagiert auf offenen Antisemitismus?
Da hätte man vielleicht erst einmal selbst hellhörig werden können, anstatt die tatsächlich Anwesenden vom Schreibtisch aus der tumben Taubheit zu bezichtigen.
Dass Ofarim nun über seine Lügengeschichte gestolpert ist, hat er natürlich allein zu verantworten. Für die Fallhöhe aber haben die Medien gesorgt, die aus einem zweiminütigen Instagram-Post eine Weltgeschichte gemacht haben. Und aus allem, was dazu Verwertbares angeboten wurde.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird in der aktuellen Berichterstattung mit der Aussage zitiert: "Wir verurteilen das Verhalten von Gil Ofarim." Er fordere Konsequenzen.
Wörtlich heißt es in der Pressemitteilung: "Wir verurteilen das Verhalten von Gil Ofarim. Er muss in jeder Hinsicht die Konsequenzen für seine Lüge tragen."
Konsequenzen hatte der Zentralrat in der Sache schon mal am 5. Oktober 2021 gefordert – damals allerdings noch für den oder die Hotelmitarbeiter. Auch diese Vorverurteilung fand seinerzeit sogleich mediale Resonanz, ohne Verweis auf die in anderen Kontexten gerne angeführte "Unschuldsvermutung".
Dass Lobbyisten und Öffentlichkeitsarbeiter jeden sich bietenden Presserummel für ihre Botschaften nutzen wollen, ist verständlich. Aber dass sich Medien mit einzelnen von ihnen gemein machen oder sie zumindest ohne eigene Recherche kolportieren und daraus Relevanz konstruieren, ist im glimpflichsten Fall ein Trauerspiel.