Gips-Dilemma: Wenn der Kraftwerksrauch ausgeht
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Deutschlands Gipsindustrie steht vor einem Wendepunkt. Lange kam der Rohstoff aus Kohlekraftwerken. Woher soll der Baustoff künftig kommen, wenn die letzte Anlage erlischt?
Zur Vermeidung saurer Wälder gab es zwei Möglichkeiten. Neben der aufwendigen Kalkung der Wälder, was dann jedoch Pflanzen wie der Heidelbeere das Leben schwer macht, konnte unter Zuführung von Kalk das Rauchgas direkt an der Quelle entschwefeln. Der bei der Rauchgasentschwefelung entstehende REA-Gips war kein Abfall, sondern der ideale Grundstoff für die Gipskartonplattenindustrie, die mit dem Ausbau leerstehender Dachgeschosse ihre Blüte erlebte.
Mit dem Ende der Kohleverstromung geht nun die Produktion von Gips in den Rauchgasentschwefelungsanlagen zu Ende, wobei man festhalten muss, dass die Rauchgasentschwefelung bei den zuletzt wieder ans Netz gegangenen Kraftwerken nicht mehr vorgeschrieben war, weil der dafür benötigte Kalk nicht zu den Kraftwerken transportiert werden konnte.
Es waren in Deutschland schlicht keine Güterwagons in ausreichender Zahl mehr vorhanden. Nach dem ersten Aus für die Steinkohlekraftwerke waren die Waggons nach Polen verkauft oder verschrottet worden.
Der jetzt wohl endgültige Ausstieg aus der Verstromung von Importsteinkohle sowie heimischer Braunkohle wird die Rauchgasentschwefelung spätesten 2038 obsolet werden lassen. Dabei war die heimische Steinkohle schon seit langer Zeit nur noch mit hohen Subventionen vermarktbar und die künftig am Markt verkauften CO2-Abgaben sorgen für eine weitere Verteuerung des Kohlestroms, bei fallenden Preisen für Strom aus erneuerbaren Quellen.
Bisher kamen bis zu sechzig Prozent des Gipses in Deutschland aus der Reinigung der Abgase von Kohlekraftwerken. Spätestens 2038 ist damit ganz Schluss, denn bis dahin sollen allmählich alle Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Über die künftigen Gipsquellen entbrennt nun ein ständig zunehmender Streit.
Wo könnte der Gips künftig herkommen?
Die Gipsindustrie will zurück in die Vergangenheit und wieder damit beginnen, die natürlichen Gipsvorkommen in Deutschland stärker abzubauen. Diese ziehen sich von Rottweil und Schwäbisch-Hall in Baden-Württemberg über Nordbayern und dann über Nordhessen bis zum Gipsgürtel im Südharz.
Der Gips, der chemisch ein Calciumsulfat ist, war vor vielen Millionen Jahren entstanden. Damals waren dort tropische Flachmeere, die dann in heiß trockenem Klima austrockneten. Umweltschützer fürchten allerdings, dass einzigartige Landschaften mit zahlreichen Höhlen zerstört werden, derzeit etwa im Südharz. Sachsen-Anhalt gilt heute als das einzige Bundesland, in dem der Gipskarst noch vollständig erhalten ist. Woanders ist die Naturlandschaft schon durch viele Steinbrüche zerstört.
Soll die Gipsindustrie künftig beim Abbau natürlicher Gipsvorkommen eingeschränkt werden, was zu erhöhten Preisen für Baustoffe führen könnte, nur um die verbliebene Naturlandschaft zu erhalten, die deutlich weniger Ertrag abwirft als die Baustoffindustrie?
Da muss sich die Politik nun entscheiden, ob sie die Natur erhalten will oder die Bauwirtschaft. Beide Ziele haben ihre Vor- und Nachteile. Dass derartige Fragestellungen sich in keinem der aktuellen Wahlprogramme der größeren Parteien finden, darf nicht verwundern, denn damit schafft man sich nur Feinde. Dabei gibt es durchaus Lösungsmöglichkeiten, die nicht nur die Naturlandschaft schonen, sondern auch ein weiteres Problem zu lösen helfen.
Denn die Abfallgruppe Bau- und Abbruchabfälle, einschließlich Straßenaufbruch, machte im Jahr 2022 mit rund 216,2 Mio. Tonnen 54,2 Prozent des Brutto-Abfallaufkommens aus. Den größten Anteil an dieser Abfallgruppe hat der Bodenaushub, der mit 86 Prozent jedoch überwiegend verwertet wurde. Auch die restlichen mineralischen Bauabfälle wurden schon zu einem erheblichen Teil verwertet. Da die Entwicklung der Bau- und Abbruchabfälle weitgehend parallel zur konjunkturellen Entwicklung im Baugewerbe verlief, hat sich ihr Aufkommen in den vergangenen Jahren reduziert.
Gipsrecycling als Quelle für künftig benötigten Gips
Wie sich bei der Versorgung der Industrie mit Blei in den vergangenen Jahren eine Recyclingwirtschaft entwickelt hat, welche die anfallenden Starterbatterien zu etwa 99 Prozent mit Gewinn wiederaufbereitet, weil Bleierz am Markt knapp wurde, dürfte sich auch im Falle der Versorgung mit Gips eine vergleichbare Entwicklung abzeichnen.
Im Jahr 2020 fielen etwa 0,741 Millionen Tonnen Bauabfälle auf Gipsbasis an. Bislang werden Bauabfälle auf Gipsbasis noch zu über 40,4 Prozent auf Deponien entsorgt. Wenn der Gipsnachschub aus den Rauchgasentschwefelungsanlagen ausbleibt, wird dem Recycling eine größere Bedeutung zufallen.
Die dafür benötigte Technik ist heute schon verfügbar, sie war bislang nur gegenüber dem REA-Gips nicht wettbewerbsfähig. Beim Recyceln werden von Baustellen Gipsabfälle, meist Gipskartonplatten, gesammelt und anschließend in einem Aufbereitungsprozess Störstoffe wie Beton, Dämmstoffe oder Fliesen entfernt sowie der Karton- oder Papierfaseranteil der Platten abgesiebt und auch die in den Platten vorhandenen Schrauben und Nägel mit Magnetabscheidern entfernt. Danach erfolgt wie beim Naturgips eine Feinmahlung des wiedergewonnenen Gipses.
Bislang ist die Gipswiederaufbereitung nicht nur teurer als die Verwendung von REA-Gips, sondern auch teurer im Vergleich zum Abbau von Naturgips. Wenn jedoch die Genehmigungen für den Abbau der natürlichen Gipslager restriktiver gehandhabt werden, steigen die Chancen für das Gipsrecycling, was dann auch die Deponien entlastet und ein Schritt in Richtung der von der EU gewünschten Kreislaufwirtschaft ist.