"Gnadenlos" und "Kalkuliert": Südafrika klagt Israel wegen Genozid am UN-Gerichtshof an
Die Verantwortlichen in Israel hätten ihre völkermörderischen Absichten erklärt und danach gehandelt. Ein schwerwiegender Vorwurf. Was steckt dahinter?
Vertreter von Südafrika haben gestern vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag argumentiert, dass Israel einen völkermörderischen Angriff auf den Gazastreifen führt und die Enklave "gnadenlos" bombardiert, mit der klaren Absicht, die palästinensische Bevölkerung auszulöschen.
Der südafrikanische Anwalt Tembeka Ngcukaitobi stellte bei seiner Präsentation in Richtung der israelischen Verantwortlichen fest:
Sie haben jeden verurteilt, der Mitleid mit den unbeteiligten Gaza-Bewohnern hat. Man hat wiederholt behauptet, dass es keine Unbeteiligten, keine Unschuldigen in Gaza gebe, dass die Mörder der Frauen und Kinder in Israel nicht von den Bürgern von Gaza unterschieden werden dürften und die Kinder von Gaza es selbst verschuldet hätten.
Die größten verfügbaren Bomben auf dicht besiedelte Gebiete
Bei der Anhörung am Donnerstag äußerten sich auch der südafrikanische Justizminister Ronald Lamola, der südafrikanische Botschafter in den Niederlanden, Vusimuzi Madonsela, die Anwältin Adila Hassim und der Völkerrechtsprofessor John Dugard, von denen jeder einen Aspekt der südafrikanischen Klage gegen die israelische Regierung darlegte.
Die Leiterin des juristischen Teams, Hassim, argumentierte, dass Israels "völkermörderischer Akt" grundsätzlich in der "Massentötung von Palästinensern im Gazastreifen" bestehe.
Sie verwies u.a. auf den massiven Einsatz von 900-Kilo-Bomben durch das von den USA bewaffnete israelische Militär im südlichen Gazastreifen – also jener Region, in die die israelischen Streitkräfte die Bewohner des Gazastreifens zu Beginn des Krieges vertrieben hatten und die sie als "sicher" deklarierten.
Kinderfriedhof
"Niemand wird verschont. Nicht einmal Neugeborene", sagte Hassim und zeigte Fotos von Massengräbern im Gazastreifen. "Die UNO-Leitung hat es als Kinderfriedhof bezeichnet."
Bisher sind nach Angaben der Gesundheitsbehörden in Gaza über 23,357 Bewohner getötet worden, der größte Teil davon Kinder und Frauen. Es wird davon ausgegangen, dass die Zahl deutlich höher ist, da viele Menschen noch unter Trümmern verschüttet sind bzw. vermisst werden.
Der Euro-Mediterranean Human Rights Monitor schätzt zum Beispiel, dass seit dem 7. Oktober etwa vier Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens – mehr als 90.000 Menschen – durch israelische Angriffe getötet und verwundet worden sind bzw. vermisst werden.
Kein sicherer Ort, nirgends
Israel wird von der Anklage vorgeworfen, gegen diverse Artikel der UN-Völkermordkonvention verstoßen zu haben. Heute erhält Israel die Chance, vor dem IGH seine Sicht der Dinge darzulegen und auf die Vorwürfe zu reagieren.
Das Anwaltsteam Südafrikas erklärt: "Israel hat dem Gazastreifen absichtlich Bedingungen auferlegt, die ein Leben unmöglich machen und auf seine physische Zerstörung abzielen. Israel hat etwa 85 Prozent der Palästinenser im Gazastreifen zwangsumgesiedelt. Es gibt für sie keinen sicheren Ort, an den sie fliehen können."
Alle diese Handlungen, einzeln und gemeinsam, bilden ein kalkuliertes Verhaltensmuster Israels, das auf eine völkermörderische Absicht hinweist.
… so Hassim weiter.
Eine lange Liste
Sie zählt dazu:
- den gezielten Beschuss von Zivilisten
- die Benutzung von Waffensystemen, die große, flächendeckende Schäden bei Menschen anrichten
- die Errichtung von Sicherheitszonen für fliehende Palästinenser, um diese dann zu bombardieren
- das Vorenthalten von essenziellen Gütern zum Überleben für die palästinensische Bevölkerung in Gaza wie Lebensmittel, Wasser, Treibstoffe, Kommunikationsmöglichkeiten und Medizin
- die Zerstörung der sozialen Infrastruktur wie Krankenhäusern oder Schulen.
Verhaltensmuster
Hassim betonte zum Schluss:
Völkermorde werden nie vorab erklärt. Aber dieses Gericht hat den Vorteil, als Beweis die letzten 13 Wochen vorliegen zu haben. Sie zeigen eindeutig ein Verhaltensmuster und damit verbundene Absichten, die die Aussage als plausibel rechtfertigen, dass es sich um genozidale Handlungen handelt.
Der Antrag von Südafrika umfasst 84 Seiten und ist sehr detailliert. Dabei werden auch Aussagen aufgelistet, die israelische Politiker gemacht haben.
Auf acht Seiten finden sich Zitate von unter anderem Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, Staatspräsident Isaac Herzog und Verteidigungsminister Joaw Galant, in denen nach Ansicht der Antragssteller die "völkermörderische Absicht gegen das palästinensische Volk" zum Ausdruck kommt.
"Gazastreifen dem Erdboden gleichmachen"
So sagte Galant, dass man im Gazastreifen "menschliche Tiere" bekämpfe. Energieminister Israel Katz erklärte: "Kein Tropfen Wasser, keine Strombatterie, bis sie aus dieser Welt scheiden". Oder der stellvertretenden Parlamentssprecher Nissim Vatzuri sagte: "Wir haben ein gemeinsames Ziel: den Gazastreifen dem Erdboden gleichmachen".
Der Vorwurf des Völkermords ist im internationalen Völkerstrafrecht der schwerwiegendste. Es gibt eine kontroverse Diskussion darüber, ob der Vorwurf im Fall des Gaza-Kriegs zutrifft.
Raz Segal, ein israelischer Historiker und Völkermordforscher, jedenfalls bezeichnet Israels Angriff als ein "Lehrbuchbeispiel von Völkermord", der nach internationalem Recht definiert ist als "ein Verbrechen, das in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten".
Was ist Völkermord?
Was als Genozid juristisch gelten kann, hat sich zudem gewandelt und erweitert. Beim Ruanda-Tribunal wurde erklärt, dass dafür Taten "in der Absicht" des Völkermords reichen, es müsse nicht selbst gemordet werden. Auch die Verschlechterung von Lebensbedingungen, die zu körperlicher Zerstörung führt, kann völkermörderisch sein.
Die Intention dazu müsse auch nicht vorab offen erklärt und festgelegt werden. Der Genozid könne sich auch "im Augenblick der Tat" zeigen.
In Gambias Klage gegen Myanmar wegen Völkermord an den Rohingya leiteten Deutschland mit Kanada, Dänemark, Frankreich, Großbritannien und den Niederlangen eine gemeinsame Erklärung dem Internationalen Gerichtshof zu, um die Klage zu unterstützen.
Deutschland stützt ausgeweiteten Begriff
Darin heißt es, den Genozid-Begriff noch stärker ausweitend, "dass eine gewaltsame Militäroperation, die die erzwungene Vertreibung von Mitgliedern einer Gruppe verursacht, zum Beweis einer spezifischen Absicht beitragen kann, die Gruppe zu zerstören".
Im Fall Myanmars ordnete der IGH provisorische Maßnahmen an, um die Gewalt zu stoppen. Südafrika ruft den Gerichtshof nun ebenfalls auf, sogenannte "vorläufige Maßnahmen" zu ergreifen, um Israels Massentötung und Vertreibung der Menschen im Gazastreifen zu stoppen, von denen viele hungerten und von Krankheiten heimgesucht würden. (Beim Genozid-Fall wird es wahrscheinlich Jahre dauern, bis es zu einer Entscheidung kommt.)
Man fordert konkret einen sofortigen Waffenstillstand, die Aufhebung der Blockade und den Schutz von Gesundheitseinrichtungen. Die Maßnahmen seien vor allem notwendig, da Israel bereits offiziell erklärt hat, den Gaza-Krieg bis zu ein Jahr weiterlaufen zu lassen.
Genozidale Reden geht weiter
Währenddessen machten israelische Politiker am Mittwoch erneut Aussagen mit genozidalen Implikationen. So bestätigte der stellvertretende Parlamentssprecher Vatzuri seine frühere Aussage, dass man die Palästinenser im nördlichen Gaza "alle eliminieren" müsse.
Der Knesset-Abgeordnete Danny Danon sprach im Radio davon, dass Israel "nicht nur halbe Arbeit leisten" dürfe, womit er "freiwillige Migration" meine – ein Begriff, der allgemein als ein Euphemismus für Vertreibung angesehen wird.
Danon hatte im November in einem Kommentar im Wall Street Journal unumwundener vorgeschlagen, den Gazastreifen ethnisch zu säubern.
Internationale Unterstützung
Zugleich unterstützt eine größer werdende Zahl von Regierungen Südafrikas Antrag, darunter Brasilien, Malaysia, Bolivien und Pakistan. Südafrika erhält bei seinen Bemühungen vor dem IGH auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen auf der ganzen Welt starke Hilfe.
In einem offenen Brief, der von mehr als 1.000 Gewerkschaften und Bewegungen auf der ganzen Welt unterzeichnet wurde, heißt es:
Israels Tötung, Verletzung, Traumatisierung und Vertreibung einer großen Zahl von Palästinensern und die Verweigerung von Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff für eine besetzte Bevölkerung erfüllen die Kriterien für das Verbrechen des Völkermords. Wenn eine Mehrheit der Nationen der Welt einen Waffenstillstand fordert, aber nicht auf eine strafrechtliche Verfolgung Israels drängt – was soll Israel daran hindern, alle Palästinenser ethnisch zu säubern?