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Gniffke: "Bei der Quantität der Zuschauerkritik sind wir Marktführer"

Screenshot von tagesschau.de

Tagesschau und Tagesthemen setzen ab 2017 auf Qualitätsmanagement

Viel Wirbel um die großen Nachrichtenformate der ARD: Hätten Tagesschau und Tagesthemen über den Mordfall an einer Freiburger Studentin [1] frühzeitig berichten müssen? An diesen Fragen entzündet sich derzeit eine Diskussion [2], die kaum überraschend kommt.

Im Kern führt die Debatte erneut zu jenem Kritikpunkt, der seit geraumer Zeit immer wieder im Zentrum einer mehr oder weniger fundierten Medienkritik steht. Wie gewichten die großen Redaktionen Nachrichten? Nach welchen Gesichtspunkten selektieren sie die Flut an Informationen, die jeden Tag von Ihnen beobachtet und durchsiebt werden muss?

Anders gesagt: Auch die aktuelle Diskussion um die Entscheidung von ARD-Aktuell, das heißt, zunächst nicht und dann doch [3] über den Mordfall zu berichten, zielt auf eine der Kernkompetenzen journalistischer Arbeit.

Im Idealfall verfügen Journalisten durch ihre Ausbildung, ihr Wissen, aber auch durch ihre Erfahrung über die Fähigkeit, Nachrichten und Sachverhalte nach strengen journalistischen Maßstäben - man kann auch von Qualitätskriterien sprechen - auszuwerten und schließlich eine Auswahl zu treffen. Eines der zentralen Qualitätskriterien ist: Objektivität.

Man muss an dieser Stelle keine erkenntnistheoretische Diskussion um den Begriff Objektivität führen, denn auch so dürfte klar sein, dass Objektivität zwar ein Begriff ist, bei dem jeder so seine Vorstellungen hat, aber: In der täglichen praktischen journalistischen Anwendung ist das, was gerade führende Vertreter der großen Medien so hochhalten, nämlich eben der "objektiven Auswahlprozess", alles andere als frei von Problemen.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Cornelia Mothes hat sich im Rahmen einer Studie intensiv mit dem Problemfeld Journalismus und Objektivität auseinandergesetzt.Im Interview mit Telepolis sagte sie:

Vergleicht man ... das Verhalten von Journalisten und Nicht-Journalisten, so fällt auf, dass Journalisten sogar eine stärkere Tendenz dazu hatten, einstellungs-konforme Inhalte als "informativer" und "faktenreicher" zu bewerten. Dies deutet darauf hin, dass Journalisten nicht in erster Linie Opfer ihrer Subjektivität sind ... , sondern Informationen zugunsten ihrer Subjektivität instrumentalisieren können.

Cornelia Mothes [4] (gerade auch im Hinblick auf die aktuelle Diskussion empfiehlt es sich, das gesamte Interview durchzulesen).

Mothes betonte zwar, dass für professionelle Journalisten das Kriterium Objektivität als handlungsleitende Norm durchaus eine wichtige Rolle spiele und auch Beachtung finde, allerdings verdeutlichte sie, dass es ein "Objektivitätsproblem" im Journalismus gibt.

Dass nun gerade die Nachrichtenflaggschiffe der ARD in den Strudel der Kritik geraden, kommt, wie bereits angedeutet, kaum von ungefähr. Die Redaktion von ARD-Aktuell gestaltet die zentralen journalistischen Formate in Deutschland. Der Zuschaueranteil der Tagesschau ist hoch, die Sendung genießt, wenn man Umfragen Glauben schenkt, ein hohes Ansehen bzw. eine hohe Glaubwürdigkeit. Oder, wie der Bayerische Rundfunk es formuliert:

Medienforschungen belegen: Die meisten Bundesbürger orientieren sich an dem, was die Tagesschau meldet. Die hohe Glaubwürdigkeit der Meldungen muss durch Genauigkeit, Objektivität und hohe Verständlichkeit ständig neu verdient werden. Bayerischer Rundfunk [5]

Die Kritik reißt nicht ab

Dass also gerade von der ARD-Aktuell-Redaktion eine besonders hohe Sorgfalt bei der Anwendung des journalistischen Qualitätskriteriums Objektivität erwartet wird, liegt nahe. Vorwurf mangelnder Objektivität gegenüber Tagesschau und Tagesthemen steht allerdings nicht erst seit der Berichterstattung im Zusammenhang mit dem Freiburger Mordfall im Raum. Erinnert sei an die vielen Eingaben der beiden ehemaligen Mitarbeiter des Norddeutschen Rundfunks (NDR), Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam. Im Interview mit Telepolis sagte Klinkhammer etwa:

Als die Tagesschau erstmals über den Maidan berichtete, war ich schockiert über die einseitigen Darstellungen. Zunächst hatte ich versucht - zum Beispiel nach dem Pogrom in Odessa ,- der Redaktion unmittelbar darzulegen, inwiefern ihre Berichterstattung falsch und verzerrend war und welche wesentliche Punkte ausgelassen wurden. Ich habe aber an den Reaktionen gemerkt, dass meinen Adressaten die Ernsthaftigkeit fehlte, befriedigend zu antworten. Sie lieferten Textbausteine mit lauen Dankesformeln und dem Wunsch, ich möge ARD-aktuell gewogen bleiben.

Friedhelm Klinkhammer [6]

Aber nicht nur wegen ihrer Berichterstattung über den Maidan geriet die Redaktion von ARD-Aktuell in Kritik. Auch die Auswahl eines Bildes, das Putin alleine sitzend an einem Tisch bei einem G-20-Treffen zeigte [7] (obwohl er dort nicht alleine saß), genauso wie die Aufnahmen [8] zum Trauermarsch in Sachen Charlie Hebdo (Der Medienjournalist Stefan Niggemeier äußerte sich dazu auf seinem Blog unter der Überschrift: "Die Tagesschau: Wo man schöne Inszenierungen nicht blöd hinterfragt" [9]).

Der Chefredakteur von ARD-Aktuell, Kai Gniffke, ist immer wieder darum bemüht, die Kritik zu entkräften (Unseriöse Berichterstattung und Dünkel [10]) und sich für die Entscheidungen, an denen sich die Kritik entzündet, zu rechtfertigen - was nicht immer reibungsfrei gelingt. So äußerte er sich etwa auf dem Blog der Tagesschau mit den Worten:

Auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt wieder richtig auf die Fresse bekomme: Mir langt’s. Heute geistern schon wieder wilde Verschwörungstheorien durch soziale und traditionelle Medien. Kritiker bemängeln, dass die Darstellung der Staats- und Regierungschefs am Sonntag in Paris eine reine Inszenierung gewesen sei. Ich möchte versuchen zu erklären, warum ich das für kompletten Unfug halte.

Kai Gniffke (Anmerkung: Die Seite ist mittlerweile gelöscht. Später hat sich Gniffke von der etwas "aufbrausenden" Art distanziert).

Auch wenn man die jüngste Diskussion um die Entscheidungen des Chefredakteurs betrachtet, wird deutlich: Es ist Druck im Kessel. Die Kritik an den Nachrichtenflaggschiffen nimmt nicht ab. Davon weiß auch Gniffke zu berichten. Laut einer dpa-Meldung sagte der Chefredakteur: "Bei der Quantität der Zuschauerkritik sind wir - glaube ich - Marktführer in Deutschland."

Mittlerweile, so Gniffke weiter, erreichten [11] die Redaktion pro Tag durchschnittlich 200 Kommentare per Mail, 2000 Kommentare auf tagesschau.de, 8000 Posts via Facebook sowie eine offizielle Programmbeschwerde, mit der sich der Rundfunkrat befassen müsse.

Bei einer Vorlesung zum Thema "Lügenpresse" an der Hamburger Universität kündigte Gniffke nun an, dass im kommenden Jahr ein Qualitätsmanager der Redaktion zur Seite gestellt werde, der insbesondere auch die Arbeit der Redaktion im Hinblick auf die Beschwerden der Zuschauer unterstütze. Gniffke sagte im Hamburg: "Wir werden in Zukunft stärker sieben und uns auch mehr erklären müssen, warum wir das tun."


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https://www.heise.de/-3564679

Links in diesem Artikel:
[1] http://blog.tagesschau.de/2016/12/04/der-mordfall-von-freiburg/
[2] http://uebermedien.de/10506/warum-die-luegenpresse-vorwuerfe-gegen-die-tagesschau-falsch-sind/
[3] http://blog.tagesschau.de/2016/12/06/die-tagesschau-und-der-mutmassliche-vergewaltiger/
[4] https://www.heise.de/tp/features/Der-Journalismus-muss-sich-der-Diskussion-um-Objektivitaet-stellen-3369820.html
[5] http://www.br.de/telekolleg/faecher/sozialkunde/telekolleg-sozialkunde-4-berichterstattung-100.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Bleiben-Sie-ARD-aktuell-gewogen-3379301.html
[7] http://www.stefan-niggemeier.de/blog/19865/super-symbolbilder-putin-einsam-und-verlassen/
[8] https://www.heise.de/tp/features/ARD-Tagesschau-Aufnahmen-mit-Wirklichkeitsbruch-3376199.html
[9] http://www.stefan-niggemeier.de/blog/20186/die-tagesschau-wo-man-schoene-inszenierungen-nicht-bloed-hinterfragt/
[10] https://www.heise.de/-3503191.html
[11] https://www.heise.de/-3559340.html