Götter, Monstren, Hybride

Eine Begegnung mit automobilen Zwischenwesen auf dem Salon d'Automobile in Paris 2006

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"Früher waren Designer in den Autofirmen Knechte, heute sind sie Könige," sagt einer dieser Könige: Patrick Le Quément ist Design-Chef bei Renault, das als erstes Automobilunternehmen den Posten eines Designvorstandes einrichtete. Da die Autos inzwischen qualitativ immer besser und ähnlicher geworden sind, haben ästhetische Kriterien im Laufe der letzten 15 Jahre enorm an Bedeutung gewonnen. Nicht der funktionale, sondern der symbolisch-soziale Gebrauchswert eines Automobils bildet heute den primären Kaufanreiz.

Im Design manifestiert sich aber nicht die einzigartige Imaginationskraft eines Designers, sondern ein bestimmter kultureller Habitus. Mit Bourdieu kann Autodesign auch als "Körper gewordene soziale Ordnung" bezeichnet werden. Es ist ein Spiegel der Körperträume des Menschen. Was der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme über das menschliche Verhältnis zum Tier schreibt, gilt in verblüffender Weise auch für das Verhältnis zum Automobil: Sie seien nicht allein Nutzgegenstände, die menschliche Beziehung zu ihnen mache sie auch zu "Objekten des Begehrens, der Projektion, des Austauschs und der Gefühle." Die Nähe und Intensität der Mensch-Tier Beziehung findet in der menschlichen Beziehung zum Auto also seine moderne Entsprechung.

Renault Nepta ©Renault

Seit jeher macht das Autodesign dabei Anleihen bei Menschen, Tieren oder anderen Verkehrsmitteln wie Flugzeugen oder Schiffen. Ein Rundgang über den am letzten Wochenende eröffneten Salon d'Automobile in Paris offenbart, dass das Auto heute in seiner Gestalt immer stärker auf die Überschreitung seiner Artgrenzen drängt, es neigt zur Mutation, zur Hybridisierung, zum verlebendigten Mischwesen, gehorcht einer dämonischen Optik. Das zeigt sich auf dem diesjährigen Salon d'Automobile am deutlichsten bei den zahlreichen Concept-Cars, deren Gestaltung häufig die Reinform automobiler Phantasmen verkörpert. Dabei führt die Hybridisierung heterogener tierischer und menschlicher Elemente im Automobildesign zu einer ähnlichen Verkörperung göttlicher und dämonischer Potenzen wie bei den antiken Fabelwesen.

Renaults verführerischer fliegender Götterfisch

Um den gewollt mythischen Charakter ihrer Erzeugnisse zu unterstreichen, docken die Automobilkonzerne gerne an die alten Mythen der griechischen und römischen Götterwelt an: So präsentierte Volkswagen vor kurzem das Cabriolet Eos, benannt nach der geflügelten griechischen Göttin der Morgenröte. Sie ist die Schwester des Sonnengottes Helios, nach dessen vom Himmel gestürzten Sohn die Markenstrategen bereits einige Jahre vorher ihre Luxuslimousine Phaeton benannt hatten.

Mit der Konzeptstudie Nepta, inspiriert von Neptun, dem römischen Gott des Meeres, will nun auch Renault atmosphärischen und realen Mehrwert generieren: Denn schließlich ist das Automobil "ein mythisches Objekt, das man pflegen muss. Es besteht die Gefahr, dass das Auto ein beliebiges Produkt wird", sorgt sich Patrick Le Quément von Renault. Um dieser drohenden Profanisierung entgegenzuwirken, läuteten die Renault-Designer bereits 2003 die Phase der "Verführung" ein (vgl. Interview mit Le Quément in der Zeitschrift form 1/2003). Sehr deutlich wird das an den Außenspiegeln des Nepta, die "wie reife Früchte an zwei dünnen Ästen" neben der Frontscheibe aus dem Wagen heraushängen" Ob diese Anspielung auf den Sündenfall auch bei dem potentiellen Kunden ankommt, ist eine andere Frage: So meinen die User eines Auto-Forums, in der eigenwilligen Form nur profane "Strassenlaternen" zu erkennen.

Eine techno-zoomorphe Kreuzung aus Boot und Schmetterling

Mit der an die Bootsform angelehnten Karosserie besinnt sich Renault auf das erste Fortbewegungsmittel, das überhaupt erfunden wurde. Die Front des Concept-Cars beschreibt eine Bugform, die wellenförmig geschwungene Seitenlinie fällt sanft nach hinten ab und mündet in einem lang überhängenden, sich verjüngenden Heck, das an edle Motorboote wie die legendäre Riva erinnert. Diese fließende Wellenform verkörpert eine Designwende, die 2004 mit der Studie Fluence begann und im nächsten Jahr im Modell Laguna erstmals bei einem Serienfahrzeug zu sehen sein wird. Damit soll die bisher übliche Stummelheckästhetik abgelöst werden - die dem "Entenarsch" des Renault Mégane 2003 den Sprung ins deutsche Feuilleton bescherte.

Renault Nepta ©Renault

Ein Auto, das nach einem Boot geformt ist, will damit sagen: Meine Herkunft liegt im Wasser, ich bin aus einer anderen Form entsprungen. Von der Metamorphose eines Schmetterlings, gepaart mit einem fliegenden Fisch scheinen die Designer somit auch die elektrisch gesteuerten Flügeltüren des Cabrios abgeleitet zu haben. Dabei ist es eigentlich keine Tür, sondern die Hälfte der Karosserie, die schmetterlingsartig zur Mitte hin hochklappt und Sitzbänke sowie Motor freilegt. Ein kleiner Kratzer in der Seite dürfte somit den Austausch des halben Autos notwendig machen. Auch tiefe Tiefgaragen könnten einen beherzten Hechtsprung über die Seitenkante erforderlich machen - der erste Sportwagen vielleicht, der auch einen sportlichen Fahrer oder Fahrerin erfordert. Um solch profane Zweifel zu zerstreuen, sind die Türen mit einem elektronischen System zur Erkennung von Hindernissen und einem Einklemmschutz versehen.

Gescheiterte Luxus-Experimente

Mit dem Oberklasse-Cabrio Nepta unterstreicht Renault erneut seinen Anspruch, zur Ära der Luxuslimousinen zurückzukehren. 1912 bestand der Fuhrpark des gesamten russischen Hofes nur aus Renaults. Vor dem Zweiten Weltkrieg baute Renault Limousinen wie das Modell Reinastella, in dem der Président de la République vorfuhr. Mit der Nationalisierung wurde der Marke nach dem Krieg die Kleinwagensparte zugeteilt, Peugeot übernahm die Mittel- und Citroën die Oberklasse.

Mitte der 90er Jahre griff Renault die Luxuswagen-Tradition wieder auf und stellte auf der IAA 1996 erstmals die Großraum-Studie Initiale (http://www.allsportauto.com/english/renault_initiale.php) vor. Bereits zwei Jahre später wurde auf dem Pariser Automobilsalon der Prototyp des heutigen VelSatis gezeigt, der seit 2002 gebaut wird. Ursprünglich wollte Renault von der klobigen Oberklasse-Limousine in den ersten zwei Produktionsjahren europaweit 20.000 Exemplare verkaufen - es konnte aber nur ein Drittel dieser Vorgabe realisiert werden. Außerhalb von Frankreich bleibt das Modell weitgehend unbekannt. Ein noch viel größeres Desaster ereignete sich parallel dazu mit der 2001 gestarteten Produktion des Großraum-Coupés Avantime. Dessen Produktion wurde schon im Mai 2003 eingestellt, nachdem nur 8.545 Avantime verkauft werden konnten, davon etwa 800 in Deutschland. Damit scheiterte das Experiment, in die automobile Oberklasse zurückzukehren. Studien wie der Nepta haben somit zunächst kaum Chancen auf eine Serienfertigung und dienen vor allem dem Marketing.

Die Geburt des Designs aus dem Geist des Rituals

Zum Design gehört auch die Frage der Mensch-Maschine-Schnittstelllen im Auto. Das Cockpit des Nepta besteht aus einer spartanischen Anordnung ineinander integrierter digitaler und analoger Instrumente. Mit der Rückkehr zu übersichtlichen Armaturen wollen die Ingenieure das Aufmerksamkeitsdelirium im Cockpit moderner Autos überwinden (siehe Riskantes Multitasking). "Touch Design" nennt Renault das Ziel, die Bedeutung aller Bedienelemente "intuitiv" erfassbar zu machen. "Wir wollen die Technologie entmystifizieren. Wir wollen, dass die Technologie dem Menschen dient und nicht umgekehrt", sagt Le Quément.

Citroën Metisse ©Citroën

Mit dem Philosophen Peter Sloterdijk lässt sich behaupten, dass Renault damit nur eine neue Stufe der Mystifizierung zündet: Das "Prinzip Design" kaschiere nur die Demütigung oder Verlegenheit, die wir im Umgang mit technischen Geräten empfinden. Designer verschaffen uns genießerische Kompetenz angesichts offensichtlichster Inkompetenz im Umgang mit Geräten, deren kompliziertes Innenleben wir nicht ansatzweise durchschauen. In diesem Sinne sei der Benutzer ein Scharlatan, dem der Designer wie ein Scharlatanenausstatter das Zubehör für seine "Souveränitäts-Simulationen" gibt.

Schon der Urmensch der Frühgeschichte war ständig damit konfrontiert, bestimmte (Natur-)Geschehnisse nicht beeinflussen zu können. Da er in solchen Situationen aber dem Schutz bestimmter Kulturtechniken - der Rituale - unterstand, erlebte er das nicht als Ohnmacht gegenüber seiner Umwelt. Um ein Unwetter zu überstehen, wurde der Wettergott angerufen. "Die Lücke, durch die Ohnmacht, Panik und Tod ins Leben eindringen, wird von archaischen Zeiten an durch Rituale geschlossen." Sloterdijk spricht deshalb von der "Geburt des Designs aus dem Geist des Rituals", für ihn ist im Design eine Geste des Ordnung Schaffens aufgehoben, es ist eine Art vademecum gegen die Ohmacht angesichts einer nicht-beherrschbaren, permanent zerfallenden und sich auflösenden Welt. Verdeckt wird im Moment des Rituals das Verschwinden und Zerfallen, dem wir ausgeliefert sind: Design ist also, wenn nach einem Flugzeugabsturz neben der Rettung der Verletzten auch schnell das Logo der Fluggesellschaft übermalt wird - so geschehen in den 70er Jahren mit einer Maschine der Swiss Air in Athen.

Im Totem-Mobile spiegelt sich Citroëns schwangeres Halbblut

Da uns schon Design-Rituale über unsere prometheische Scham hinwegtrösten müssen, sind auch Totem und Tabu nicht allzu weit entfernt: Unweit des riesigen Renault-Areals hat Citroën sein in diabolischem schwarz-rot gehaltenes Gelände errichtet. Empfangen wird der Besucher von der silbrig schimmernden Karosse eines Citroën DS, der sogar im wörtlichen Sinn eine "Déesse", eine Göttin zu sein beansprucht.

Citroën Metisse ©Citroën

Diese "Totem-Mobile" genannte Installation des New Yorker Künstlers Chico MacMurtrie und der 1992 gegründeten Künstlergruppe Amorphic Robot Works ist wahrhaft selbst-beweglich, also auto-mobil: Auf Knopfdruck entfaltet sich die Karosserie gen Himmel und zeigt wie ein göttlicher Finger in Richtung der Sehnsüchte, die allen Zukunftsstudien mit ihren Flügeltüren und Schmetterlingspforten eingeschrieben sind: Deus ex machina. In Form des Totem verweist der DS auf den mythischen Ursprung der Marke und verkörpert das zu respektierende grundlegende Tabu der Automobilindustrie: Die Essenz der automobilen Sehnsüchte bleibt immer der Wunsch nach göttlicher Allbeweglichkeit, Loslösung von irdenen Zwängen, Transzendenz.

Der Aura dieses Totems huldigt denn auch die benachbarte Designstudie Métisse. Der Name bedeutet "Halbblut" und spielt auf die DieselHybrid-Technik des Sport-Coupés an, die Citroën bis 2010 zur Serienreife bringen will. Vielleicht werden Hybrid-Autos eher akzeptiert als reine Elektrofahrzeuge, weil sie den für die Verlebendigung des Automobils so wichtigen Aspekt des etwas zu sich nehmens und Ausscheidens nicht ganz verlieren. Da alternative Antriebskonzepte nicht besonders sexy sind, braucht es aber außerdem spektakuläres Design, um die gewünschte Aufmerksamkeit zu bekommen.

Der fünf Meter lange, zwei Meter breite und nur 1,24 Meter hohe Flügeltürer wirkt wie einem Science Fiction-Film entsprungen. Alles an dieser so an den Boden gekauerten Studie weist gen Himmel: Die vorderen Flügeltüren deuten mit ihrer vertikalen Transferbewegung auf den Wunsch, von der Erde aus die himmlische Pforte aufzustoßen. Damit erfüllen sie den vom DS-Totem ausgesandten theologischen Auftrag perfekt. Indem die hinteren Türen eine spiralförmige Bahn beschreiben, verweisen sie auf die göttliche Spirale der DNA, ebenfalls Objekt menschlicher Verbesserungsbemühungen. Diese symbolischen Anspielungen werden ergänzt durch handfeste Reminiszenzen an Kampfbomber: In der Frontpartie befinden sich gierige Belüftungs-Schlünde, die Anlassertaste innen ist wie bei Flugzeugen in der Dachkonsole untergebracht.

Peugeot-Studie 908 RC ©Peugeot

Der Innenraum nimmt mit seinen weißen Schalensitzen Anleihen bei Chris Cunninghams hypnotischem Musikvideo zum Björk-Song All Is Full Of Love, das 1999 die Mensch-Maschine in Form animierter anthropomorpher Roboter zeigte, die sich nach ihrem Ebenbild klonen. Das runde Hinterteil verweist auf die noch ausstehende Geburt eines neuen Kentauren - dem mit der Maschine verschmolzenen Fahrer - von dem der Futurist Marinetti als erster schwärmte. Damit erinnert die Formensprache des Métisse daran, dass das Automobil schon seit langem die körperlichen Funktionen des Menschen prothesenhaft erweitert und nun auch an elementaren Ereignissen wie der Geburt teilhaben möchte. Damit komplettiert die Studie den zwischen Mensch und Maschine, Erde und Himmel gespannten Bogen.

Im bösen Blick der Raubkatze spiegelt sich der Mensch

Im dritten hier zu besprechenden Mischwesen, der katzenhaften Peugeot-Studie 908 RC vermeint man die gargouilles genannten Monstren, Fabelwesen und Dämonen auf dem Dach der Pariser Kathedrale von Notre-Dame wiederzuerkennen. Ähnlich wie der heilige Kirchenraum von Notre Dame vor dem Eindringen des Bösen geschützt werden sollte, indem Luzifer seine eigene häßliche Fratze entgegengehalten wurde, soll der "böse Blick" heutiger automobiler Frontpartien dem Fahrer ein ungestörtes Fortkommen sichern. "Wie ein megalomaner Hirsch, der davon träumt, irgendwann nur noch Geweih und sonst nichts zu sein, dekliniert das Autodesign der Gegenwart alle Imponiergesten der Zoologie durch", schrieb Ulrich Raulff vor zwei Jahren in der Süddeutschen Zeitung.

Peugeot-Studie 908 RC ©Peugeot

Hier ist es entsprechend dem Marken-Emblem das Großwild, das bei der Gestaltung der Frontpartie des 908 RC Pate stand. Die extrem kurz überhängende Front ist laut Peugeot "direkt an die Kopfform einer Raubkatze" angelehnt, könnte aber von einem Kleinwagen stammen und beisst sich deshalb mit der enormen Länge des Fahrzeugs. Das einer Flugzeugkanzel entlehnte Cockpit ist extrem weit vorne positioniert und wird von einer riesigen Windschutzscheibe überwölbt, die über den Fahrer hinausreicht und in ein Glasdach übergeht. Dabei zerstört ein Knick in der A-Säule die glatt von hinten anlaufende Dachlinie, die einer gechoppten VW-Phaeton-Limousine entlehnt zu sein scheint. Dieser Ritt durch die Typenklassen mündet in dem angeklatschten Hinterteil eines Sportwagens, seitlich flankiert von aufgequollenen Backen, in denen riesige 21 Zoll-Leichtmetallräder stecken. Insgesamt wirkt die Studie wie eine unausgewogene clowneske Kreuzung aus drei völlig verschiedenen Fahrzeugtypen ohne jegliche Anpassung der Übergänge.

Interessanter sind die krallenartigen Chromtropfen in den Rückleuchten, die das Raubkatzenmotiv am Heck wieder aufgreifen. Die reißende Kralle am Heck des Peugeot räumt letzte Zweifel hinfort: Hier hat sich der Mensch des Drachen bemächtigt, ihn domestiziert, um ihn zu seinen Zwecken einzuspannen. Psychoanalytisch gesehen ist der Drache ein Container, in dem das Außen der Zivilisation imaginiert wird, schreibt der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme. Die Aggressions- und Vernichtungslüste unserer eigenen Kultur werden in diesem phantastischen Mischwesen externalisiert, um sich so von dieser Gewalt abgrenzen zu können. Böhme liefert den Schlüssel zum Verständnis der Concept-Cars: Er schreibt, entscheidend sei bei den Monstren eine Trieb-Dynamik, die in ihrem physiognomischen Ausdruck zur Geltung komme: In den wütenden Fratzen der Dämonen wird das bedrohlich Wilde des Menschen selbst - sexuelle und orale Gier und Aggression - dargestellt.

Insgesamt wird also deutlich, dass der Pariser Autosalon ein Zwischenreich ist, das von Wesen bevölkert wird, die ihre Existenz dem metamorphotischen Austausch zwischen Menschen, Göttern und Tieren verdanken. Dieses Reich, zu dem Tiere und Monster wie auch Menschen ihre Physiognomie hergeben mussten, wurde geschaffen, um zu verbergen, dass aus allen Figurationen und Fratzen dämonischer Frontpartien immer nur der Mensch selbst uns anblickt: Im monströsen automobilen Mischwesen verkörpert sich eine Extremform menschlicher Selbstbegegnung.