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"Gotteskrieger haben keinen Grund zur Selbstachtung"

Franz Josef Wetz über ein Entwicklungsprinzip

Durch die Entwicklung von Selbstachtung kompensiert der Mensch existentielle Demütigungen und die kleinen Widrigkeiten des Lebens. Allerdings droht dieser Prozess zwischen den Polen Selbstwertgefühl und Kenntnis der eigenen Unzulänglichkeit immer wieder in einen Ungleichgewichtszustand zu geraten. Ein Gespräch mit Franz Josef Wetz [1], dem Autor von Rebellion der Selbstachtung [2].

Herr Wetz, was ist Selbstachtung überhaupt?
Franz Josef Wetz: Der verhältnismäßig gute Ruf, den man bei sich selbst genießt! Von allen Meinungen, die man hat, ist keine so wichtig wie die über einen selbst. Sich selbst zu achten heißt: sein Leben für sich als wertvoll zu bejahen, und das heißt: sein Dasein als der Mühe wert zu halten, die es einem selbst und den anderen bereitet. Selbstachtung gibt dem Einzelnen das Gefühl: Du zählst. - Was Selbstachtung ist, erfahren wir im Alltagsleben oft erst dann, wenn sie bedroht oder schon beschädigt ist.
Obwohl man die eigene Selbstachtung vielleicht zuvor noch nie gespürt, geschweige denn hierüber nachgedacht hat, können schon ein verächtlicher Blick auf der Straße, der dümmlich belehrende Ton eines Vorgesetzten oder die herablassende Geste des Mitleids, die einen die eigene Hilflosigkeit, Abhängigkeit oder Unterlegenheit spüren lassen, die eigene Selbstachtung offenbaren. Häufig findet sich unsere Selbstachtung mit solchen Herabsetzungen aber nicht ab und begehrt hiergegen auf - dem Motto gemäß: Hier tritt mir jemand zu nahe. Muss ich mir das gefallen lassen? Ich habe doch auch meinen Stolz!
Welchen Sinn hat Selbstachtung?
Franz Josef Wetz: Selbstachtung ist eine existenzielle Notwendigkeit. Nur wer über eine starke Selbstachtung verfügt, kann schlecht behandelt werden, ohne sich deshalb gleich erniedrigt fühlen zu müssen. Wie ein intaktes Immunsystem stärkt Selbstachtung die Widerstandskraft des Menschen im Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens. Sie macht weniger anfällig für seelische Verletzungen, die Sabotagen des Alltagslebens. Die Überzeugung vom eigenen Wert ist also eine elementare Lebenskraft. Sie befähigt den Einzelnen, mehr Verantwortung für sein Dasein zu übernehmen, Neues anzupacken, am Reichtum des Lebens zu wachsen.
Ist Selbstachtung biologisch fundiert?
Franz Josef Wetz: Nach meinem Verständnis: Ja. Die Religion hingegen bezieht die Selbstachtung auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen: Als herausragendes Geschöpf Gottes soll sich der Mensch achten. Die Soziologen wiederum versuchen die Selbstachtung allein auf soziale Anerkennung zurückzuführen. Natürlich spielt gegenseitige Wertschätzung für die eigene Selbstachtung eine wesentliche Rolle. Dennoch liegt weder in Gott noch in meinem Nächsten der eigentliche Ursprung der Selbstachtung. Näher betrachtet ist sie keimhaft bereits im biologisch entschlüsselten Selbsterhaltungsstreben des Menschen angelegt.
Können Sie das präzisieren?
Franz Josef Wetz: Normalerweise hängt der Mensch von Natur aus am Leben und richtet geradezu automatisch seine Kräfte auf die eigene Erhaltung. Bei bewusstem Leben drückt dieser Überlebenswille bereits eine Selbstwertschätzung aus, ziehen doch die Menschen hierdurch ihr Dasein dem Nichtsein vor, und das heißt: sie bejahen ihr Leben für sich als wertvoll. Bewusstes Leben ist als Drang nach mehr Leben also mehr als Leben, nämlich zugleich ein Wert für dieses Leben selbst. In diesem Sinne ist die Selbstwertung im biologischen Imperativ der Selbsterhaltung verankert.
Ist Religion der Selbstachtung zu- oder abträglich?
Franz Josef Wetz: Je nachdem. Glaubensbekenntnisse sind in der Regel der Selbstachtung zuträglich, weil sie den Menschen als ein aus der Natur herausragendes Wesen ansehen. Als solches soll der Mensch bereits einen Wert an sich darstellen, weil er von Gott besonders gewürdigt wird. Mit solchen Lehren verhindern die Menschen, dass sie gering über ihr Leben denken, so nichtig es auch in den kosmischen Weiten des Universums ist. In dem Maße aber, wie die Religionen den Menschen als erlösungsbedürftigen Sünder darstellen, als lasterhaftes, elendes Geschöpf, das Gottes Güte überhaupt nicht verdiene, schwächen sie wieder die menschliche Selbstachtung.
Ist es irrelevant, ob die Selbstachtung auf reale oder irreale Annahmen fußt?
Franz Josef Wetz: Losgelöst von der Frage, ob die abgehobene, anmaßende und zweifelhafte Idee der Gottebenbildlichkeit als Grundlage der Selbstachtung noch Plausibilität besitzt, ist es erstaunlich, dass solche irrealen Annahmen überhaupt zu gesteigerter Selbstachtung führen können. Für gewöhnlich hängt die Aufrechterhaltung unserer Selbstachtung stärker von realen Faktoren wie sozialer Anerkennung und garantierten Rechten ab. In der Regel sind solche Lebenshilfen wirksamer und fassbarer als die diffuse Vorstellung der Gottebenbildlichkeit, weshalb dieser gegenüber aus meiner Sicht ersteren auch ein Vorrang zukommt.

"Die Einführung eines Mindestlohns kommt der Selbstachtung zugute"

Gibt es gefährliche Formen von Selbstachtung?
Franz Josef Wetz: Natürlich. Selbstachtung ist zwar existenziell unverzichtbar, um das Leben besser meistern zu können, nur ein ethischer Höchstwert ist sie deshalb noch lange nicht. So merkwürdig es klingt: Es gibt auch ungerechtfertigte Selbstachtung. Manche Personen gründen ihre Selbstachtung beispielsweise auf die Ausübung von Zwang, das Quälen und Demütigen anderer Menschen. Statt sich zu achten, sollten sich diese Personen vielmehr schämen. Ganz offensichtlich entscheiden über die ethische Zulässigkeit der Selbstachtung die Bedingungen, unter denen sie entsteht.
Islamistische Terrormilizen zum Beispiel üben blutige Gewalttaten aus, welche die Rechte anderer Menschen auf körperliche Unterversehrtheit verletzen und sich gegen freiheitliche Selbstbestimmung richten. Ihr entschlossener Kampf für eine heilige Sache hebt ihr Selbstwertgefühl. Doch obwohl sich die brutalen Gotteskrieger hierdurch besser achten können, haben sie aus ethischer Sicht keinen Grund zur Selbstachtung, sondern vielmehr einen guten Grund, vor Scham im Erdboden zu versinken.
- Dagegen ist die Selbstachtung zum Beispiel überall dort ethisch gerechtfertigt, wo sie zu Aufständen gegen autoritäre Staatsführer, machtbesessene Diktatoren, Korruption und Unterdrückung führt. In den letzten Jahren begehrten weltweit Menschen gegen Bevormundung auf. In kollektiven Aktionen, häufig übers Internet organisiert, empörten sich die Betroffenen über Unterdrückung und Diskriminierung.
Denken Sie an den arabischen Frühling, an die Türkei und Brasilien 2013 oder an Ferguson, USA, 2014. Hier wie dort hatten wir es mit Revolten der Selbstachtung zu tun. Die Bürger fühlten sich von der Ordnungsmacht nicht ernst genommen, was sie nicht mehr widerspruchs- und widerstandslos hinnehmen wollten. Ihre Selbstachtung rebellierte und diese Selbstachtung lässt sich ethisch rechtfertigen.
Wir besitzen in unserer Gesellschaft Menschen- und Bürgerrechte sowie ein bürgerliches Gesetzbuch. Ist damit die Selbstachtung garantiert?
Franz Josef Wetz: Solche Rechte leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Stärkung der Selbstachtung, den die Bürger leider nicht immer angemessen wertschätzen, weil diese Rechte ihnen zu selbstverständlich geworden sind. Allerdings erfordert Selbstachtung mehr als nur die Erfüllung liberaler, politischer und sozialer Rechtansprüche. Zusätzlich beeinflusst das soziale Umfeld die eigene Wertschätzung auf merkliche Weise: Liebe, Freundschaft, Lob, gesellschaftliche Anerkennung oder Bewunderung für erbrachte Leistungen in Schule oder Beruf und besondere Eigenschaften wie gutes Aussehen oder hohe Intelligenz, um nur einige Beispiele zu nennen.

"Gefühle eigener Wertlosigkeit"

Sie schreiben, dass "für unsere liberale Westkultur (...) ein starker Individualismus charakteristisch" ist, "der eine große Herausforderung für die Selbstachtung darstellt." Inwiefern?
Franz Josef Wetz: Der moderne Individualismus macht den Einzelnen zum Unternehmer seines Daseins, das er selbst in die Hand nehmen muss. Die heutige Leistungs- und Spaßgesellschaft bürdet ihren Bürgern ein hohes Maß an Selbstverantwortung auf. Jeder sei seines Glückes Schmied. Nur wer vom Wert der eigenen Existenz überzeugt ist, zeigt sich diesem Druck gewachsen, der dennoch leicht auch zu Gefühlen der Unzulänglichkeit und Überforderung führen kann. Regelmäßig kriechen Selbstzweifel, Versagens- und Absturzängste die Werkshallen und Bürotürme hoch.
Die existenzielle Irritation, welche das Verfehlen der erstrebten Ziele auslöst, kann beschämen und demütigen. Sie kann Gefühle eigener Wertlosigkeit hervorrufen, die sich bisweilen in nervöse Selbstablehnung und schmerzhafte Selbstanfeindung verkehren. Der auf beruflichen Erfolg und sinnliche Vergnügen ausgerichtete Individualismus der heutigen Zeit bringt ganz spezifische Gefährdungen der Selbstachtung hervor.

"Gefahr der Überforderung"

Welche Folgen haben ökonomische Zwänge für die Selbstachtung?
Franz Josef Wetz: Demografischer Wandel, Globalisierung der Märkte und Innovationsbeschleunigung in Technik und Wirtschaft haben die Überzeugung hervorgebracht, dass die Bevölkerung den großen Herausforderungen bis ins hohe Alter gewachsen sein müsse, weil andernfalls unsere Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr gewährleistet sei.
Viele lassen sich solche positive Einschätzungen gerne gefallen, weil sie ihrem Selbstwertgefühl schmeicheln. Mit großer Energie stürzen sie sich in Arbeit und Vergnügen. Die moderne Gesellschaft möchte diese Verbindung von Erfolg und Lebenslust mit dem Selbstwertgefühl seiner Bürger, weil hohe Selbstwertschätzung mehr Wettbewerbsfähigkeit, Engagement und Vitalität bedeutet.
Umgekehrt rufen höhere Leistungen und intensivere Freizeitvergnügen höhere Selbstachtung hervor. So verstärken sich beide Seiten wechselseitig. Allerdings ist die Gefahr der Überforderung hierbei ziemlich groß. Wer nicht mitkommt, scheitert oder unterliegt, sucht die Gründe seiner Unzulänglichkeit schnell in der eigenen Person, deren Selbstachtung dann freilich Schaden nimmt.
Können Sie eine Abschätzung abgeben: Wie wichtig ist einem Staat die Selbstachtung seiner Bürger, der Hartz IV eingeführt hat?
Franz Josef Wetz: Es ist nun genau zehn Jahre her, dass Hartz IV die frühere Bundessozialhilfe ablöste. Wie die ehemalige "Arbeitslosenhilfe" soll die vergleichsweise geringere "Grundsicherung für Arbeitssuchende" den Betroffenen dennoch Betteln und Almosen ersparen, gemäß dem Grundsatz: Anonyme Zuwendungen demütigen und beschämen weniger als persönliche Mildtätigkeit. Der Wohlfahrtsstaat wurde auch darum ins Leben gerufen, um das erniedrigende Element der Armenfürsorge auszuschalten. So gesehen ist dem Staat die Selbstachtung seiner Bürger wichtig.
Trotzdem bieten rechtlich garantierte Sozialleistungen dem Empfänger nicht immer die Hilfe, die er benötigt, um seine angegriffene Selbstachtung wiedererlangen zu können. Denn für gewöhnlich bedeutet Hartz IV soviel wie Armut, die angesichts des relativen Wohlstands breiter Bevölkerungsgruppen leicht ein Gefühl des Nichts-wert-seins oder Nicht-dazu-gehörens hervorrufen kann.
Hinzu kommt, dass die Hartz-Regelungen auch dazu führen, dass eine Reihe von Vollzeitjobern, sogenannte Aufstocker, weiterhin auf staatliche Unterstützung angewiesen bleibt und Leiharbeiter bei gleicher Tätigkeit wie regulär Beschäftigte teilweise deutlich geringer verdienen. Möglicherweise bleiben Hartz IV-Empfänger sogar auf einen Teller Suppe aus der "Tafel" angewiesen, was ihre Selbstachtung weiter herunter zu pegeln vermag. So betrachtet scheint dem Staat die Selbstachtung seiner Bürger wiederum nicht so wichtig zu sein.
Andererseits wäre ihre Selbstachtung vielleicht noch mehr im Keller, wenn keine Unterstützungen gegeben würden und sie überhaupt keinen Job hätten. Die Tatsache, dass viele Menschen hierzulande auch durch die Hartz IV-Regelungen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen, scheint deren Selbstachtung zu heben.
Auch die Einführung eines Mindestlohns kommt der Selbstachtung zugute. Der Selbstachtung besonders zuträglich sind Hilfsmaßnahmen, wenn sie den Einzelnen dazu befähigen, sein Leben wieder selbstständig führen zu können, ihn also weniger alimentieren als aktivieren, wozu es allerdings ausreichender Qualifikationen bedarf. Menschen mit fehlender Grundbildung sind von sozialer Ausgrenzung besonders betroffen. Bildung ist in unserer Wissensgesellschaft nicht mehr nur ein der Selbstachtung förderliches Kulturgut, sondern mittlerweile auch eine der Selbstachtung zuträgliche Sozialleistung.
Die Frage, ob dem Staat, der Hartz IV einführte, die Selbstachtung seiner Bürger ein ernstes Anliegen ist, lässt sich nach dem Ausgeführten also nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Die Antwort muss differenziert gegeben werden und fällt in jedem Falle ambivalent aus: in mancher Hinsicht ja, in anderer Beziehung nein!

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