Grausamer Optimismus: Die Schattenseite von individuellen Lösungsansätzen

Andreas von Westphalen
Kontraste der Eigenverantwortung in der modernen Gesellschaft

Eine visuelle Darstellung der Diskussion um Eigenverantwortung, gesellschaftliche Ungleichheiten und den Umgang mit Herausforderungen in einer kapitalistischen Welt.

(Bild: KI-generiert)

Die Verantwortungsfalle: Einzelperson oder System. Dabei sind individuelle Lösungen oft trügerisch. Was, wenn grausamer Optimismus mit ihnen einhergeht?

George Bernard Shaw, der große irische Theaterschriftsteller und Nobelpreisträger für Literatur, war bekannt für seine pointierten Positionen. Auch im Hinblick auf die viel diskutierte Eigenverantwortung hatte er eine klare Ansicht:

Man gibt immer den Verhältnissen die Schuld für das, was man ist. Ich glaube nicht an die Verhältnisse. Diejenigen, die in der Welt vorankommen, gehen hin und suchen sich die Verhältnisse, die sie wollen, und wenn sie sie nicht finden können, schaffen sie sie selbst.

George Bernhard Shaw

Shaws Lobgesang auf die Eigenverantwortung könnte fast aus der Feder des aktuellen Bundesfinanzministers Christian Lindner stammen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte er im Jahr 2011:

Es geht um die Einstellung, nicht um die Stellung in der Gesellschaft. Wir wollen die Menschen zu einer unternehmerischen Mentalität ermutigen, zum Willen, die eigene Biografie in die Hand zu nehmen. Das kann der Facharbeiter genauso wie die Krankenschwester oder der Vorstandschef.

Christian Lindner

Um das eigene Leben in die Hand zu nehmen, macht es keinen Unterschied, ob man ein Facharbeiter oder ein Vorstandschef ist?

Das kann man, vorsichtig ausgedrückt, auch anders sehen.

Laura Glauser kommentiert in ihrem Buch "Das Projekt des unternehmerischen Selbst":

Lindner hebt jegliche Differenz zwischen den Menschen auf und setzt den Facharbeiter mit dem Vorstandschef gleich. Damit blendet er die ungleichen Macht- und Klassenverhältnisse in kapitalistischen Gesellschaften aus, womit er impliziert, dass alle die gleichen Voraussetzungen für den Erfolg hätten.

Gleichzeitig negiert er die divergierenden Interessen von gesellschaftlichen Gruppen innerhalb des Kapitalismus.

Laura Glauser

Ein Argument als Allheilmittel

In den Debatten des Neoliberalismus kommt der Eigenverantwortung eine absolute Schlüsselstellung dazu. Mit der Eigenverantwortung geht häufig, wie noch zu zeigen sein wird, eine Grundidee einher, die der Sachbuchautor Johann Hari in Anlehnung an Laurent Berlant "grausamer Optimismus" tauft:

Dabei geht es darum, dass man ein wirklich großes Problem mit tiefgreifenden Ursachen in unserer Kultur aufgreift (...) und den Menschen in optimistischer Sprache eine einfache individuelle Lösung anbietet.

Johann Hari

Das Besondere: Dem Einzelnen wird nicht nur die Fähigkeit zur Lösung des Problems zugebilligt, sondern dadurch auch – implizit und unausgesprochen – die Verantwortung zugeschoben. Diese Argumentationslinie des grausamen Optimismus ist allgegenwärtig.

Hier ein paar Beispiele:

  • Menschen, die unter hohem Stress leiden, finden in zahllosen Ratgebern Hinweise, welche Meditationsform die beste Lösung ihres Problems sei.
  • Menschen, die auf Arbeitsplatzsuche sind, finden in Tausenden von Ratgebern gutgemeinte Tipps. Ein Beispiel des Bestsellerautors Tom Peters: "Seien Sie besonders (…) oder Sie werden ausgesondert!"
  • Menschen, die endlich glücklich sein wollen, haben in einem fast unbegrenzten Markt die Qual der Wahl. Dabei erfreut sich Mindfulness besonderer Beliebtheit. Wie Jon Kabat-Zinn erklärt: "Happiness is an inside job" (Deutsch: Glück ist eine innere Angelegenheit).
  • Menschen, die unter dem Verlust ihrer Aufmerksamkeit leiden, können reihenweise Anleitungen zur Behebung ihres Problems kaufen. So rät Nir Eyal:

Ich wollte den Leuten zeigen, dass es gar nicht so schwer ist. Es ist gar nicht so anstrengend. Wenn man weiß, was man tun muss, ist es ziemlich einfach, mit Ablenkung umzugehen.

Nir Eyal

Grausamer Optimismus ist auch ein wiederkehrendes Motiv in der Politik, das es unbedingt zu kennen gilt. Angesichts der Klimakrise wird immer wieder die Bedeutung des verantwortungsvollen Handelns des Individuums betont:

  • Das Problem des maßlosen Plastikmülls ist durch Recycling zu lösen. Jeder recycelt brav und korrekt und das Problem ist gleichsam recycelt.
  • Das Problem der Wasserknappheit lässt sich ebenfalls durch das Tun jedes Einzelnen lösen: Es gilt der einfache Ratschlag: Wasser zu sparen.

Verantwortungsverschiebung

Grundsätzlich machen alle obigen Lösungsvorschlägen natürlich Sinn und sie helfen sicherlich mehr oder weniger, das jeweilige Problem anzugehen. Allerdings verschieben die Lösungsvorschläge jeweils ganz subtil der Frage der Verantwortung, wie Johann Hari betont:

Grausamer Optimismus wirkt zwar auf den ersten Blick freundlich und optimistisch, hat aber oft eine hässliche Nachwirkung. Er führt dazu, dass der Einzelne nicht dem System die Schuld gibt, sondern sich selbst, wenn die ungenügende Lösung seines Problems scheitert, was meistens der Fall sein wird. Er wird denken, dass er es vermasselt hat und einfach nicht gut genug war.

Johann Hari

Der japanische Philosoph Kohei Saito geht in der Einleitung seines beeindruckenden Buches "Systemsturz" noch einen Schritt weiter:

Was machen Sie eigentlich gegen die Erderwärmung? Benutzen Sie nun auch eine eigene Einkaufstasche, um den Verbrauch von Plastiktüten zu reduzieren? Und anstatt Getränke in PET-Flaschen zu kaufen, tragen Sie Ihre eigene Flasche mit sich herum? Sind Sie auf ein Elektroauto umgestiegen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Diese guten Absichten alleine sind sinnlos. Im Gegenteil, sie könnten vielleicht sogar schädlich sein. Aber wieso?

Der Glaube, dass der Erfolg im Kampf gegen die Erderwärmung davon abhängt, wie viel jeder Einzelne von uns tut, hält uns davon ab, die für die heutige Zeit wirklich wichtigen und mutigen Taten zu vollbringen. Er fördert stattdessen ein Konsumverhalten, das wie ein Ablasshandel funktioniert, um das Gewissen zu entlasten und die Augen vor der Realität der Krise weiter verschließen zu können. Das Kapital heuchelt uns Sorge um die Umwelt vor, und wir fallen auf dieses Green washing auch noch herein.

Kohei Saito

Richtige und falsche Fragen

Der US-amerikanische Autor Thomas Pynchon mahnte bekanntlich:

Wem es gelingt, Dir falsche Fragen einzureden, dem braucht auch vor der Antwort nicht zu bangen.

Thomas Pynchon

Ähnlich verhält es sich von dem Zwillingspaar Eigenverantwortung und grausamen Optimismus. Selbstverständlich ist es richtig und wichtig auch an die Eigenverantwortung der Menschen zu appellieren und keinen Nanny-Staat einzurichten.

Geht man aber die oben genannten Probleme durch, wird schnell klar, welche Aspekte der grausame Optimismus verdeckt:

Das Klima retten?

Einzig angeblich eine Frage unserer eigenen Verantwortung.

Der Dokumentarfilmemacher Joel Bakan erinnert in seinem Buch "The New Cooperation" an ein absolut grundlegendes Faktum, das hierbei so geflissentlich übersehen wird:

Wir fühlen uns schuldig und schämen uns, als würden wir nie genug tun, und da unser natürlicher Instinkt darin besteht, die Schuld auf uns selbst zu schieben, werden wir von den wirklichen systemischen Wurzeln des Problems abgelenkt – der Tatsache, dass nur hundert Unternehmen mehr als zwei Drittel der weltweiten Emissionen verursacht haben.

Joel Bakan

Der gigantische Plastikmüllberg?

Einzig eine Frage der Eigenverantwortung des recycelnden Verbrauchers! Der Journalist Matt Wilkins antwortet hierauf scharf:

Das Einzige, was noch schlimmer ist, als belogen zu werden, ist, nicht zu wissen, dass man belogen wird. Es stimmt, dass die Plastikverschmutzung ein riesiges Problem von planetarischem Ausmaß ist. Und es stimmt, dass wir alle mehr tun könnten, um unseren Plastikfußabdruck zu verringern.

Die Lüge ist, dass die Schuld für das Plastikproblem bei den verschwenderischen Verbrauchern liegt und dass eine Änderung unserer individuellen Gewohnheiten das Problem lösen wird. Das Recycling von Plastik ist für die Rettung der Erde das, was das Einschlagen eines Nagels für das Aufhalten eines einstürzenden Wolkenkratzers ist. (…)

Das eigentliche Problem ist, dass Einwegplastik – allein die Idee, Plastikartikel wie Einkaufstüten zu produzieren, die wir im Durchschnitt 12 Minuten lang benutzen, die aber ein halbes Jahrtausend lang in der Umwelt verbleiben können – ein unglaublich rücksichtsloser Missbrauch der Technologie ist.

Einzelpersonen dazu zu ermuntern, mehr zu recyceln, wird niemals das Problem der massiven Produktion von Einwegplastik lösen, das von vornherein hätte vermieden werden sollen.

Matt Wilkins

Übrigens: Der Müll der privaten Haushalte macht in Europa 8,2 Prozent des Gesamtmülls aus. Und was insgesamt das Recycling anbetrifft, ist dieser Artikel Pflichtlektüre:

Das Problem der zunehmenden Wasserknappheit?

Einzig – angeblich – eine Frage des rücksichtsvollen und sparsamen privaten Verbrauchs! Der US-amerikanische Umweltaktivist Derrick Jensen wundert sich:

Wir hören so oft, dass der Welt das Wasser ausgeht. Menschen sterben aus Mangel an Wasser. Die Flüsse sind wegen Wassermangels ausgetrocknet. Aus diesem Grund müssen wir kürzer duschen.

Sehen Sie den Zusammenhang? Weil ich dusche, bin ich dafür verantwortlich, dass die Grundwasserspeicher leer sind? Ähm, nein. Mehr als 90 Prozent des vom Menschen verbrauchten Wassers wird von der Landwirtschaft und der Industrie genutzt.

Die verbleibenden 10 Prozent teilen sich die Gemeinden und die lebenden, atmenden Menschen. Kommunale Golfplätze verbrauchen zusammengenommen so viel Wasser wie die Menschen in den Kommunen. Die Menschen (sowohl Menschen als auch Fische) sterben nicht, weil der Welt das Wasser ausgeht. Sie sterben, weil ihnen das Wasser gestohlen wird.

Derrick Jensen

Der Erhalt unserer Aufmerksamkeit angesichts der digitalen Revolution?

Alles eine Frage der Willensstärke, also liegt es einmal mehr im Bereich unserer eigenen Verantwortung. Tristan Harris, Direktor des Center for Human Technology und vormals Design-Ethiker bei Google, erklärt in seiner Zeugenaussage:

Heute haben Technologieplattformen mehr Einfluss auf unser tägliches Denken und Handeln als die meisten Regierungen. (…) Und dieser Einfluss ist nicht neutral. Das Geschäftsmodell der Werbebranche macht ihren Gewinn davon abhängig, wie viel Aufmerksamkeit sie auf sich ziehen. (...)

Das fängt damit an, unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Techniken wie "pull to refresh" (Deutsch in etwa: ziehen, um zu aktualisieren) wirken wie ein Spielautomat, der uns auch dann "spielen" lässt, wenn nichts zu sehen ist.

Der "infinite scroll" (Deutsch in etwa: unendlicher Bildlauf) nimmt den Nutzern die Hinweise zum Anhalten und die Pausen, so dass sie nicht merken, wann sie aufhören müssen. Sie können versuchen, sich zu beherrschen, aber auf der anderen Seite des Bildschirms arbeiten tausend Ingenieure gegen Sie.

Tristan Harris

Unser Wunsch glücklich zu sein?

Liegt selbstverständlich und glücklicherweise (sic!) in unseren eigenen Händen und unserer eigenen Verantwortung. Auch wenn die sogenannte Positive Psychologie viele wichtige Erkenntnisse entdeckt hat, kann sie ebenso leicht dem grausamen Optimismus Vorschub leisten.

Daher warnen die israelische Soziologin Eva Illouz und der spanische Psychologe Edgar Cabanas:

Am Ende bleibt uns also kaum eine Wahl: Die Wissenschaft vom Glück nötigt uns nicht nur, glücklich zu sein, sondern macht uns auch noch für unsere Unfähigkeit verantwortlich, ein erfolgreicheres und erfüllteres Leben zu führen, als wir es tun.

Eva Illouz und Edgar Cabanas

Authentischer Optimismus

Es ist wichtig, die Argumentationslinie des grausamen Optimismus zu erkennen, die sehr geschickt einige Erkenntnisse nutzt, um den Status quo aufrechtzuerhalten und unbedingt zu vermeiden, dass sich auch nur irgendetwas an der Gesellschafts- und Wirtschaftsform ändert.

Denn alles ist doch bestens! Und die Probleme einzig in der Verantwortung des Individuums!

Und eine Alternative?

Sie formuliert Johann Hari:

Die Alternative zum grausamen Optimismus, der den Menschen eine scheinbar einfache Lösung bietet, die sie zum Scheitern verurteilt, ist nicht Pessimismus, also die Vorstellung, dass man nichts ändern kann.

Es ist authentischer Optimismus. Das bedeutet, dass man die Hindernisse, die einem auf dem Weg zu seinem Ziel im Wege stehen, ehrlich anerkennt und einen Plan aufstellt, um gemeinsam mit anderen Menschen diese Hindernisse Schritt für Schritt abzubauen.

Johann Hari