Griechenland: Die Brisanz des Herrn M.
Impfpflicht, Tourismus und Impftourismus
Die Bild-Zeitung titelte am vergangenen Mittwoch über einen "brisanten" Vorstoß des griechischen Premierministers Kyriakos Mitsotakis. Demnach möchte Mitsotakis nur denjenigen, die gegen CoVid-19 geimpft sind, innerhalb der EU Reisefreiheit gewähren.
Rund um die Impfposse in Griechenland lässt sich eines der Grundprobleme des Landes darstellen: die chaotische Regierungspolitik in Kombination mit einer gegenüber der Regierung in großen Teilen handzahmen Presse. Es erscheint als Oxymoron, dass Mitsotakis die Impfdokumente als eine Art "neuen Reisepass" ins Spiel bringt, während in seinem eigenen Land rund um die Impfungen Chaos herrscht.
Weiterhin ungeklärt bleibt zudem, ob eine Impfung die Geimpften davor schützt, andere nach einem eventuellen Kontakt mit dem Virus anzustecken. Das RKI bemerkt dazu: "Zudem ist noch nicht geklärt, in welchem Maße die Transmission (Erregerübertragung) durch geimpfte Personen verringert oder verhindert wird."
Journalisten, die sich kritisch über den Premier oder seine Frau äußern, werden schnell arbeitslos. Zuletzt musste das ein Mitarbeiter des Online-Portals liberal.gr erleben. Er hatte Anfang des Jahres über den Facebook-Account von liberal kritisch kommentiert, dass Mitsotakis, seine Frau, sowie in nach Dubai zum Feiern reisende Reiche bei Verstößen gegen die Pandemieauflagen straffrei bleiben, während die normalen Bürger mindestens einen Bußgeldbescheid über 300 Euro erhalten.
Brisant oder beeindruckend?
Die Bild-Zeitung titelte wörtlich, "brisanter Plan in der EU: Reisefreiheit nur mit Impfung", und bildete neben der Schlagzeile Mitsotakis Konterfei ab. Seitens der staatlichen griechischen Nachrichtenagentur Athens News Agency - Macedonian News Agency, kurz AMNA, wurde daraus:
Mit der Überschrift auf der Titelseite "Freiheit zu reisen, nur mit dem Impfstoff - beeindruckender Plan in der EU" und einem Foto von Herrn Mitsotakis, aber auch der Überschrift auf den Innenseiten "Vorschlag des griechischen Premierministers - Die Impfkarte wird der neue Pass", heißt es in der Zeitung…AMNA
Die Agentur verzichtete darauf, dass das Adjektiv "brisant" in der Regel nicht mit einem simplen "beeindruckend" übersetzt wird. Die explosive, konfliktbehaftete Konnotation wird den griechischen Lesern vorenthalten. Andere griechische Medien übernahmen die Agenturmeldung und garnierten sie teilweise mit weiteren Fotos. Keine der Aussagen wurde kritisch hinterfragt.
Seit dem Regierungswechsel im Sommer 2019 untersteht die AMNA, ebenso wie die öffentliche Rundfunkanstalt ERT der Regierung. Zugrunde liegt ein Präsidialdekret der Regierung. Dessen Hauptaufgabe soll es sein, den Premierminister bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zu unterstützen, um "die Kohärenz und Wirksamkeit der Regierungsarbeit sicherzustellen".
Juristisch abgeleitet wurde dies von der Regierung vom Gesetz 4622/2019 für den Exekutivstaat. Faktisch bedeutet es, dass die Regierung direkt Einfluss auf die Nachrichten und das Fernseh- und Radioprogramm ausüben kann. Ein Umstand, der von der Opposition mehrfach kritisiert wurde.
In einer juristischen Einschätzung hat der Staatsrat, eines der obersten Gerichte des Landes, die Kontrolle von Rundfunk und Nachrichtenagentur durch die Regierung als wahrscheinlich verfassungswidrig bezeichnet, dies hat aber bislang keine rechtlich bindende Wirkung.
Die "perfekt geplanten" griechischen Impfzentren
Mitsotakis Vorstoß hat jedoch noch einen weiteren Haken. Den meisten seiner Bürger ist es kaum möglich sich impfen zu lassen. Zur ersten Impfgruppe im Land zählte Mitsotakis selbst. Danach folgten die Minister, ministerielle Staatsekretäre sowie hohe politische Beamte. Die Regierung wollte damit die Konstanz des Staatsapparats bewahren, hieß es.
Für die übrigen Bürger waren ursprünglich 1.018 Impfzentren im Land vorgesehen. Es handelte sich dabei um die Gesundheitszentren zur Erstversorgung. Gebetsmühlenartig beteten die regierungsnahen Medien im Vorfeld der Impfungen herunter, dass alles perfekt geplant sei. Von mehr als zwei Millionen möglichen Impfungen pro Monat war die Rede. Bevor die Impfungen richtig angefangen hatten, musste die Regierung Anfang Januar zurückrudern.
Statt in den Impfzentren, soll nun in Krankenhäusern und Hospitälern geimpft werden. Denn, so heißt es nun, dort gäbe es auch das notwendige Personal für die Impfungen. Im vorher gültigen "perfektem Plan" war die Personalplanung vergessen worden. Nun sind 114 Impfzentren in Betrieb.
Statt medizinisches Personal zu rekrutieren, stellt die Regierung lieber Polizisten ein. So wurden Anfang Januar 1.000 neue Stellen für Ordnungshüter ausgeschrieben. Sie sollen die seit einem Jahr faktisch geschlossenen Universitäten des Landes bewachen und die dort, wegen der Schließung aufgrund der Pandemie, nicht verkehrenden Studenten von illegalem Handeln abhalten.
Viel Personal hat die Regierung auch für ihren eigenen Betrieb eingestellt. Mit nunmehr 2.965 eingestellten politischen Beamten stellt die aktuelle Regierung einen Rekord auf. Seit der griechischen Staatspleite gab es nicht so viele politische Beamte.
Chaos bei der Impfterminvergabe / Impftourismus
Nach den Ministern, Staatssekretären und politischen Beamten wurden Presseberichten zufolge auch weitere Parteigänger der Regierung, darunter auch Herausgeber, Journalisten und Universitätsprofessoren geimpft.
Die Regierung rühmt sich, sie hätte den Computer gestützten Staat revolutioniert. Ergo werden auch die Impftermine per EDV vergeben. Die erste Gruppe, diejenigen, die das 85. Lebensjahr bereits vollendet haben, müssen sich per Internet um einen Impftermin bemühen, oder aber einen Verwandten oder zur Not ihre Apotheker für die Impfterminvergabe einspannen.
Für die zu Impfenden müssen dabei die persönlichen Daten und der Wohnort eingegeben werden, und das Computersystem entscheidet über den Termin und Ort. Dabei läuft vieles nicht so, wie es ein Laie erwarten würde. Greise aus dem nordgriechischen Aridaia erhalten vom System einen Impftermin auf der in Luftlinie mehr als 700 km entfernten Insel Karpathos.
Ein älteres Ehepaar aus Aridaia staunte nicht schlecht, als es per SMS für den 18. Januar um 10 Uhr den Termin im Agios Ioannis Krankenhaus auf Karpathos bekam. Eine fünfundachtzigjährige Frau aus Molyvos auf Lesbos, soll auf der Insel Limnos geimpft werden. Die beiden Inseln sind über eine einzige Fährschiff-Reederei verbunden, die bis zu zweimal pro Woche die Route abfährt. Bewohner der Insel Rhodos sollen nach Kos, Kalymnos oder Leros zum Impfen fahren. Ältere Bewohner von der Insel Syros bekamen einen Termin auf der Insel Santorin.
Dieser Zusammenhang des Tourismus und des Impfens ist sicherlich nicht im Sinn des Vorschlags von Mitsotakis. Für die betroffenen Bürger ergeben sich jedoch weitere Komplikationen. Das Computersystem der Regierung sieht vor, dass ein Impftermin nur einmal geändert werden kann.
Andererseits hat das Computersystem selbst für Terminüberschneidungen gesorgt. Die Gewerkschaft der Bediensteten in öffentlichen Krankenhäusern, POEDIN, prangerte an, dass für den kommenden Montag in Impfzentren gleichzeitig Termine für Krankenhauspersonal und für die älteren Mitbürger vergeben wurden. Sie bittet, bislang erfolglos, dass jemand frühzeitig eingreifen müsste, damit es am Montag, den 18. Januar, kein Chaos gibt.
Laut der Gewerkschaft Poedin gab es eine Reihe von Telefonanrufen von Angehörigen bettlägeriger älterer Menschen. Diese seien verzweifelt, weil es keine Möglichkeit gäbe, ihre Eltern über große Entfernungen in die Impfzentren zu bringen. Die Beschwerden besagen, dass die Angehörigen älterer Menschen, die auf eine Impfung warten, von den Impfzentren Antworten der Art: "wenn sie keine Möglichkeit haben, ihre Eltern zu transportieren, vereinbaren Sie keinen Termin und warten Sie auf eine andere Impfstofffirma!" erhalten.
Zu den positiven Meldungen über die Impfungen in Griechenland zählt die Impfung einer am 12. April 1903 geborenen Frau, die am 12. Januar ihre erste Impfdosis erhielt.
Das Interview
Mitten in diesem allgemeinen Klima chaotischer Zustände gab Premierminister Kyriakos Mitsotakis dem Hauptnachrichtensprecher des Senders ANT1, Nikos Chatzinikolaou, ein Interview. Es ist das zweite Interview, das Mitsotakis während der Pandemie Chatzinikolaou gibt. Dieser ist Vorsitzender der Vereinigung der Eigentümer der Tageszeitungen Griechenlands und Mitglied im Verwaltungsrat des Europäischen Verbands der Zeitungsverleger. Chatzinikolaou hat zudem einen eigenen Radiosender.
Es hat einen zumindest seltsamen Beigeschmack, dass Chatzinikolaou als Verleger direkt abhängig ist von den Geldspritzen, welche die Regierung während der Pandemie an Medien verteilt. Beim Interview selbst erschien Chatzinikolaou relativ zahm und brachte den Premier kaum in Bedrängnis. Es fiel auf, dass der Regierungschef bei kritischen Fragen sofort ein vorbereites Blatt mit einem seine Sicht der Dinge belegenden Diagramm aus dem Stapel der Papiere auf seinem Schreibtisch ziehen konnte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren die Fragen vorher abgesprochen.
Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung des Interviews hatten in Griechenland 64.824 Personen die erste Dosis erhalten. Mitsotakis behauptete, dass bis Ende März knapp zwei Millionen Bürger beide Dosen erhalten haben werden. Somit würden im ersten Quartal 2021 in Griechenland mindestens vier Millionen Impfdosen ankommen.
Laut bisher bekannten Daten wird Pfizer bis Ende Januar 427.050 Dosen liefern. Im Februar kommen dann noch einmal 362.700 und im März 558.675 Dosen hinzu. Damit wären bis Ende März 1.348.425 Impfdosen von Pfizer verfügbar. Vom Impfhersteller Moderna erwartet das Land im ersten Quartal 2021 insgesamt 240.000 Impfdosen.
Mit diesen, eigentlich allen einschlägig interessierten Journalisten in Griechenland bekannten, Zahlen, sind im ersten Quartal rund 800.000 abgeschlossene Impfungen in Griechenland möglich. Das ist weniger als die Hälfte dessen, was Mitsotakis im Interview widerspruchslos behaupten konnte.
Der Interviewer, Nikos Chatzinikolaou, reagierte auf vielfache Anfragen von Usern in sozialen Netzwerken dünnhäutig. Dem Vorwurf, er habe Mitsotakis widerspruchslos reden lassen, setzte er entgegen, dass es undemokratisch sei, die Gegenmeinung, also die des Premiers, nicht zu verbreiten. Auf die Diskrepanz in den Zahlenangaben angesprochen reagierte er mit einem "frag ihn doch selbst".