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Griechenland: Merkel kommt zur Rettung

Alexis Tsipras. Bild: W. Aswestopoulos

"Burgfrieden" in der Regierungskoalition wegen des Besuchs der Bundeskanzlerin

Im griechischen politischen Leben spielt sich in den letzten Tagen eine Tragikomödie ab. Der Koalitionspartner von SYRIZA, die Unabhängigen Griechen, droht, die Koalition aus Protest zum Kompromiss im Namensstreit mit der EJR Mazedonien zu verlassen. Allerdings gestaltet sich diese Scheidung komplizierter als sie ohnehin schon ist, weil keiner der beiden "zu allem entschlossenen" Parteivorsitzenden als erster den letzten Schritt zum offenen Bruch vollziehen möchte. Während - zum wiederholten Mal - für den Mittwoch endgültige Klarheit versprochen wurde, gab es erneut einen Aufschub. Erst wenn am Freitag die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am Donnerstag ihren Staatsbesuch in Athen startet, abgereist ist, wollen die zu Kontrahenten gewordenen Koalitionspartner weiter streiten.

Der Besuch der Kanzlerin wird in Athen mit dem als Prespes-Vertrag bekannten Kompromiss im Namensstreit in Verbindung gebracht. Die CDU-Politikerin trifft außer auf Premierminister Alexis Tsipras und den Staatspräsidenten Prokopis Pavlopoulos auch auf den Oppositionsführer, den Vorsitzenden der Nea Dimokratia, Kyriakos Mitsotakis. Bis vor wenigen Wochen waren beide, Merkel und Mitsotakis als Parteichefs christdemokratischer Parteien, Gesprächspartner bei der Europäischen Volkspartei. Heute ist Merkel ohne Parteiamt und Mitsotakis sieht sich als Regierungschef in spe.

Ob Merkel den europäischen Parteifreund fragen wird, was er meinte, als er im Parlament Tsipras beschuldigte, dieser habe im Gegenzug zu einer nicht erfolgten Rentenkürzung Makedonien an Merkel verkauft, ist nicht bekannt. Mitsotakis zog seine öffentliche Anschuldigung bislang nicht zurück.

Familiengeschichte und politische Karrieren

Anders als Merkel, welche die in aller Welt nur kurz Mazedonien genannte Nachbarrepublik Griechenlands schnellstens in die Europäische Union und die Nato einbinden möchte, verweigert Mitsotakis dem Land nicht nur den Gebrauch des Namens, sondern auch die Existenz einer Sprache und einer mazedonischen Bevölkerung.

Es ist der gleiche Mitsotakis, der 1993 den Sturz von Kyriakos Mitsotakis, seinem Vater, erleben musste. Mitsotakis Senior wollte das Land nicht wie im Prespes-Vertrag Nord-Mazedonien nennen, er meinte, dass der Namensstreit "in zehn Jahren vergessen" sei, wenn es schlicht Mazedonien heißen würde. Daraufhin trat der damalige Außenminister Antonis Samaras aus der Nea Dimokratia aus und gründete eine eigene Partei. Die Nea Dimokratia verlor in der Folge durch den Verlust eines weiteren Abgeordneten, Giorgos Sybilidis, ihre dünne absolute Mehrheit und blieb mit 150 Abgeordneten zurück. Es gab keine Möglichkeit, den Premier zu stürzen, da auch die Opposition nur über 150 Parlamentarier verfügte. Trotzdem rief Mitsotakis-Senior sofort Neuwahlen aus und verlor diese.

An der Seite des Konstantinos Mitsotakis stieg damals bei den Neuwahlen ein junger Politiker in den Parlamentsbetrieb ein, Panagiotis Kammenos. Er hätte, wegen der "Makedonien-Frage", wie der Namensstreit in Griechenland genannt wird, auch in der Partei Antonis Samaras, Politiki Anoixi (Politischer Frühling), antreten können. Denn diese vertrat bis auf die Einstellung im Namenskonflikt die gleiche politische Linie wie die Nea Dimokratia.

Heute ist Antonis Samaras, der nach seiner Rückkehr zur alten Partei deren Minister, Vorsitzender und Premier wurde, in einer Partei mit Kyriakos Mitsotakis. Ihnen gegenüber steht Panos Kammenos, der als Verteidigungsminister Alexis Tsipras dient. Alle drei sind sich einig, dass die Nachbarrepublik Griechenlands niemals einen Namen mit dem Bestandteil Mazedonien haben darf und weder über mazedonische Bürger, noch über eine mazedonische Sprache verfügt.

Kammenos möchte nun alles tun, um den Vertrag von Prespes in letzter Minute zu verhindern. Das zu beteuern wird er nicht müde. Er schließt jedoch jegliche Zusammenarbeit mit seiner früheren Partei, der er bis 2012 als Abgeordneter und Minister diente, aus. Der Grund, weswegen er 2012 die Nea Dimokratia verlassen hatte, war der von den Kreditgebern aufdiktierte Sparkurs, dem sich die Partei beugte. Obwohl er selbst nun dreieinhalb Jahre in einer dem Sparkurs nach sechs Monaten Widerstands hörigen Regierung dient, sieht er keinen Grund zur Rückkehr.

Regierung ohne Mehrheit

Bislang hatte Kammenos seine Einstellung zum Prespes-Vertrag mehrmals verkündet, allerdings glaubte ihm niemand, dass er die Kraft hätte, sich von seinem geliebten Amt als Verteidigungsminister zu verabschieden. Kammenos hoffte zudem, dass der Vertrag, der Verfassungsänderungen in der Nachbarrepublik zur Bedingung hat, im Parlament von Skopje scheitert.

Hier hat er sich offenbar verrechnet. Denn bis zum Freitag hat die Regierung von Zoran Zaev voraussichtlich alle Bedingungen für den Vertrag erfüllt. Direkt im Anschluss kommt der Vertrag ins griechische Parlament. Dafür gibt es noch keinen genauen Zeitplan. Allerdings hat Tsipras deutlich gemacht, dass er bis Ende Januar das Thema vom Tisch haben möchte.

Tsipras mit Kammenos - freudig vereint nach dem Wahlsieg im September 2015. Bild: W. Aswetsopoulos

Damit steht Kammenos, der auch vor der militärischen Leitung der Streitkräfte beschwor, er würde die Regierung verlassen, bevor der Vertrag im Parlament zu Abstimmung käme, unter Zugzwang. Er twitterte, dass er keinesfalls zu seiner Exekution niederknien würde. Schon gar nicht dann, wenn diese durch das Zutun verächtlicher Personen verursacht werde. Kammenos zielte damit auf den früheren Außenminister Nikos Kotzias, den Unterhändler des Prespes-Vertrags ab. Er würde keine Abweichler seiner Fraktion akzeptieren. Der wuchtige und um kräftige Worte nicht verlegene Politiker wurde jedoch von Tsipras überrascht.

Tsipras mit Kammenos - freudig vereint nach dem Wahlsieg im September 2015. Bild: W. Aswetsopoulos

Kammenos Partei löst sich auf

Kammenos musste zum Jahreswechsel feststellen, dass sich Teile seiner Fraktion bereits mit Tsipras arrangiert haben. Von den sieben ihm verbliebenen Parlamentariern werden aller Voraussicht nach nur drei dem Parteichef folgen. Er steht vor den Scherben seines politischen Lebenswerks, der Partei der Unabhängigen Griechen. Bei den ersten Wahlen im Mai 2012 kam er mit 33 Abgeordneten ins Parlament. Im Juni 2012 errang er bei den vorgezogenen Neuwahlen noch 20 Mandate. Im Januar 2015 gewann er 13 Sitze. Nach den vorgezogenen Neuwahlen im September 2015 hatte er dann nur noch 10 Mandate.

Von diesen verließen ihn bereits Nikos Nikolopoulos aus Protest gegen den Sparkurs, Giorgos Lazaridis, der sich zunächst über eine Strafe gegen seinen Lieblingsfußballverein PAOK Thessaloniki und dann über den Prespes-Vertrag ärgerte, und schließlich Dimitrios Kammenos wegen des Kompromisses im Namensstreit. Anders erging es Alexis Tsipras. Auch bei SYRIZA gab es Parteiaustritte. Allerdings konnte Tsipras diese entweder mit dem Abwerben von Politikern anderer Parteien kompensieren oder aber die Abweichler zum Rücktritt vom Abgeordnetenamt bewegen.

Offenbar hat Tsipras' Partei die monatelange Zeit, in der Kammenos öffentlich seine Entschlossenheit zur Ablehnung des Prespes-Vertrags demonstrierte, genutzt, um entgegen der Vereinbarung mit dem Koalitionspartner bei dessen Parteimitgliedern Unterstützer zu rekrutieren.

Aktuell hat die Regierungskoalition 153 Stimmen im Parlament. Das sind die sieben Abgeordneten der Unabhängigen Griechen, die aus der Nea Dimokratia ausgetretene, unabhängige Vizeministerin für Bürgerschutz Katerina Papakosta und 145 mit der Wahlliste von SYRIZA gewählte Parlamentarier.

Ohne Kammenos fehlen Tsipras sechs Stimmen zur absoluten Mehrheit und fünf, um ein Misstrauensvotum abzuwenden. Er äußerte öffentlich, dass er auch ohne Kammenos 151 oder mehr auf seiner Seite habe.

Der Premier traf sich zum Jahreswechsel mit Thanassis Papachristopoulos von den Unabhängigen Griechen. Dieser erklärt nun öffentlich, dass er dem Prespes-Vertrag zustimmen und danach so lange Abgeordneter bleiben würde, bis das Überleben der Regierung gesichert sei. Zu Tsipras' Mehrheit zählt auch Kostas Zouraris, der mit der Wahlliste der Unabhängigen Griechen gewählt wurde. Er erklärte, dass er den Prespes-Vertrag zwar ablehnen, aber als früheres Gründungsmitglied der SYRIZA-Vorgängerpartei, den Eurokommunisten der KKE es, niemals zum Sturz einer linken Regierung beitragen würde. Positiv gegenüber der Regierung eingestellt ist Katerina Papakosta, die zwar von Kammenos für die Regierung angeworben wurde, aber nun nicht ausschließt, für den Prespes-Vertrag zu stimmen. Dazu kommt als Befürworter des Prespes-Vertrags Spyros Danellis, der für To Potami gewählt wurde, aber zwischenzeitlich unabhängig wurde.

Damit hätte Tsipras 150 Stimmen zusammen. Am Mittwoch zeigte sich, dass er offenbar noch auf zwei weitere zählen kann. Tourismusministerin Elena Kountoura hängt an ihrem Amt. Sie möchte es behalten, egal was ihre Partei, die Unabhängigen Griechen, dazu sagt. Sie erschien unter dem Vorwand, im Ausland zu sein, nicht zur von Panos Kammenos eilig einberufenen Fraktionssitzung. Dieser blieb auch Vasileios Kokkalis fern. Angeblich hatte der Politiker, dem eine Nähe zu den von SYRIZA vertretenen Positionen nachgesagt wird, eine Autopanne. Tatsächlich wurde er zur Zeit der Sitzung in einem Cafe im Stadtteil Kolonaki, nur wenige hundert Meter vom Parlament entfernt, gesehen. Weder Kountoura noch Kokkalis machten bislang Andeutungen, dass sie dem Prespes-Vertrag zustimmen würden. Sie haben sich aber auch nicht von der früheren Linie der Unabhängigen Griechen losgesagt, dass eine Stützung der Regierung auch mit einem Nein zum Vertrag möglich sei.

Von den Unabhängigen Griechen losgesagt hat sich bereits der nicht als Parlamentarier gewählte Staatssekretär im Außenministerium, Terence Spencer Quick. Seine ebenfalls außerparlamentarische Amtskollegin im Innenministerium Maria Chrysoveloni schließt sich ihm an. Sie meinte, es gäbe für sie keinen Grund, die Regierung zu verlassen, nur weil ihre Partei die Parlamentarier zurückziehen wolle.

Wie zum Trotz gegen jegliche Realität ließ Kammenos am Mittwoch einen neuen Spot der Unabhängigen Griechen veröffentlichen. Dieser zeigt neben einem neuen Parteilogo das neue Motto. Rote Linien sollen keinesfalls überschritten werden.

Welche Optionen gibt es in Athen?

Die Opposition in Athen ist nahezu machtlos gegen die Deals mit Parlamentssitzen. Sie muss für ein Misstrauensvotum 151 der 300 Stimmen im Parlament gewinnen. Minderheitsregierungen sind in der griechischen Verfassung kein groß behandeltes Thema. Die Schwelle für automatische Neuwahlen wäre erst erreicht, wenn weniger als 120 Parlamentarier hinter der Regierung stehen. Mit seinen 50 Bonusabgeordneten, die Tsipras nach dem geltenden Wahlrecht als Anführer der stärksten Partei erhielt, hat er ein dickes Stimmpolster.

Tsipras kann somit weitgehend selbst entscheiden, wann er die Vertrauensfrage stellt. Es ist dabei unerheblich, ob der Prespes-Vertrag im Parlament ratifiziert wird oder nicht. Eine Niederlage hätte in diesem Fall verfassungsrechtlich lediglich symbolische Bedeutung für den Fortbestand der Regierung Tsipras.

Politisch könnte er ein Scheitern des Vertrags, den er nun in Doppelfunktion als Premier und Außenminister vertreten muss, kaum ohne Neuwahlen überleben. Dazu wurde dem Vertrag seitens SYRIZA zu viel Bedeutung geschenkt. Zudem hat sich der Premier gegenüber ausländischen Entscheidungsträgern verpflichtet, den Namensstreit zu beenden, damit das Nachbarland in EU und NATO eingebunden werden kann. Für einen Staat, der hinsichtlich seiner Finanzen immer noch auf ausländische Unterstützung angewiesen ist, sind das keine guten Vorzeichen für eine Enttäuschung der Förderer Tsipras im Ausland.

Was kann der Besuch der Kanzlerin bewirken?

Alexis Tsipras hatte als Oppositionsführer bis Januar 2015 gewettert: "Go home Mrs Merkel!" Als Premier freut er sich, dass die deutsche Kanzlerin ihm nun mit ihrem Besuch die Regierung retten kann. Merkel gilt in Griechenland als Verfechterin einer EU-orientierten Politik. Die proeuropäische Einstellung der Kanzlerin, so das Kalkül im Amtssitz des Premiers, dem Megaron Maximou, kann die europafreundlichen Parlamentarier der Opposition zur Zustimmung zum Prespes-Vertrag bewegen. Hier gibt es bei der PASOK und vor allem bei To Potami Wackelkandidaten, die eigentlich dem Vertrag zustimmen wollen, obwohl sie die Regierung Tsipras zum Teufel schicken möchten.

Von der Symbolwirkung, die in Griechenland immer noch von der Bundeskanzlerin ausgeht, können diese Wackelkandidaten für den Prespes-Vertrag gesichert werden. Regieren will Tsipras danach offenbar mit den Abweichlern der Unabhängigen Griechen, die den Vertrag im Parlament ablehnen.

Tsipras, der den Sparkurs wie kein anderer Premier vor ihm treu durchgesetzt hat, hofft offenbar insgeheim auch darauf, der Kanzlerin ökonomische Zugeständnisse abzugewinnen. Dann hätte er mit dem ratifizierten Vertrag und verbesserten wirtschaftlichen Aussichten einen besseren Stand bei den von ihm nach Ablauf der Legislaturperiode terminierten Parlamentswahlen in Athen. Schließlich könnte er sich, nachdem er innerhalb seiner bisherigen Regierungsjahre den Schwenk vom Linken zum konservativen Sozialdemokraten vollzogen hat, den nächsten Schritt wagen und sich als ein wahrer Vertreter der europäischen Volkspartei präsentieren. Bei Tsipras, das haben seine Regierungsjahre gezeigt, gelten weder Freundschaften, siehe u.a. Varoufakis, noch ideologische Programme und erst recht keine Koalitionsverträge, nur der unabdingbare Wille zur Macht zählt.


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