zurück zum Artikel

Griechenland: Rechte Gewalt auf dem Vormarsch

Thessaloniki und der Holocaust. Archiv-Aufnahme von 1942. Titel: "Erfassung von Juden". Foto: Aufnahme der Propagandakompanie. Bundesarchiv, Bild 101I-168-0894-21A / Dick / CC-BY-SA 3.0

Der "faschistische Angriff" auf den Bürgermeister von Thessaloniki und die Hintergründe

Der fünfundsiebzigjährige Bürgermeister von Thessaloniki, Yannis Boutaris, wurde am Samstag Opfer eines tätlichen Angriffs. Die Täter, deren Aktionen auf Video festgehalten wurden, stellen sich selbst als aufgebrachte Bürger dar. Von Medien, die dem Vorfall Sondersendungen [1] widmen, und Politik werden sie als "Rechtsextreme" und "Faschisten" bezeichnet.

Was genau steckt hinter der Tat, den Tätern und dem Phänomen der Gewalt? Wer ist das Opfer?

Der Angriff auf Boutaris fand im Umfeld einer Demonstration zum Gedenken an die zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts in der heutigen Türkei massenhaft ermordeten so genannten "Pontosgriechen" statt. Diese gedenken alljährlich zum 19. Mai, dem offiziellen "Tag des Genozids", der Opfer. Das Narrativ von Vertriebenenverbänden ist in jedem Land der Erde vergleichbar.

Die Nachkommen der Opfer der Vertreibung wachsen mit dem Hass der Vertriebenen gegen ihre Verfolger, Folterer und Mörder auf. Bei solchen Gelegenheiten wird gern pauschalisiert. Daraus resultiert - nicht nur in Griechenland - eine Affinität für rechtsnationale Themen.

Problematisch: Ein Politiker, der seinen Lebenslauf einsetzt

Boutaris, trockener Alkoholiker und Weinfabrikant, ist ein Mann, der anders als vorherige Bürgermeister Thessalonikis offen gegen solche Themen argumentiert. Er möchte das Gedenken an Opfer nicht als Anlass für Ressentiments, sondern als Ansporn für die Vermeidung solcher Konflikte sehen.

Gleichzeitig setzt er seine eigene Vita politisch ein. Den Gegensatz, als seit 1991 abstinenter Alkoholiker selbst an der Produktion alkoholischer Getränke zu verdienen, erklärt er damit, dass er persönlich die Gefahren des Alkohols falsch eingeschätzt hatte.

Boutaris war am Krebstod seiner Ehefrau Athina Michail beinahe zerbrochen. Gleichzeitig setzte er bei ihrem Tod ein weiteres - politisches - Fanal. Das Ehepaar hatte sich zwischenzeitlich scheiden lassen und lebte nach seiner Versöhnung ohne Trauschein in einer glücklichen Partnerschaft.

Dies allein ist in einem christlich orthodox geprägten Land, und besonders in einer bis dato überwiegend konservativen Sozialstruktur wie in Thessaloniki für eine im öffentlichen Leben stehende Person problematisch.

Boutaris ging einen Schritt weiter. Er ließ seine geliebte Lebenspartnerin in Bulgarien einäschern, weil die orthodoxe Kirche die Totenverbrennung in Griechenland damals und bis heute als Todsünde bekämpft.

Heute steht der sechzigste Bürgermeister der Stadt offen für die Sexualität ein. Er bekennt sich dazu, dass er selbst zu den Konsumenten erektionssteigernder Medizin gehört. Eine Freundin habe ihm dies empfohlen, ließ Boutaris die Öffentlichkeit wissen.

Mit solchen Aktionen gewinnt Boutaris, der sein Piercing im Ohr stolz präsentiert und der zu den Gründern und Förderern der Tierschutzorganisation Arktouros gehört, die Herzen offen gesinnter Mitbürger. Konservative Bürger und strenggläubige Kirchenvertreter reagieren dagegen entsetzt.

Für den Bau einer Moschee in Thessaloniki

Politisch setzt Boutaris seine Ansichten gern mit demonstrativen Aktionen durch. Er propagiert den Bau einer Moschee in Thessaloniki. Diese soll nicht nur einheimischen Moslems, sondern auch Touristen als Gotteshaus dienen. Boutaris möchte dem Staatsgründer der heutigen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, ein Denkmal setzen. Atatürk wurde im damals zum Osmanischen Reich gehörenden Thessaloniki geboren.

Boutaris verspricht sich von solchen Aktionen einen Zustrom türkischer Touristen. "Kemal", wie er in Griechenland genannt wird, war jedoch auch der politisch Verantwortliche für die Verfolgung der Pontosgriechen, die nach jahrtausendelanger Siedlung an den östlichen Küsten des Schwarzen Meers von dort vertrieben wurden.

Die Pontosgriechen standen seinerzeit vor der Wahl, entweder ihrem Glauben und ihrer Ethnie abzuschwören oder aber zu fliehen. Die Tatsache, dass die auf der Flucht von ihren Verfolgern Dahingemetzelten durch einen Glaubenswechsel ihr Leben hätten retten können, macht für viele Genozidforscher einen Unterschied zum Holocaust an den Juden.

Boutaris und der Holocaust

Allein schon die Erwähnung eines solchen Standpunkts bringt in Griechenland die Gemüter zum Kochen. Denn für die Pontosgriechen war ein Religionswechsel undenkbar. Diejenigen, die es trotzdem taten, hatten ein schweres Schicksal. Cineastisch sind solche Lebensläufe zum Beispiel im Film Waiting for the clouds [2], verarbeitet worden.

Boutaris gehört nicht nur zu denen, die den Holocaust der Nazis als das schrecklichste Geschehen überhaupt bezeichnen, er brachte mit einigen Aktionen auch die Erinnerung an griechische Mittäter und Profiteure ans Tageslicht. In Griechenland traf der Holocaust vor allem die Juden von Thessaloniki, deren Gemeinde zu 90-95 Prozent ausgelöscht wurde.

Im übrigen Hellas gab es prozentual und in absoluten Zahlen weit weniger Opfer, auch weil jüdische Mitbürger wie zum Beispiel auf der Insel Euböa aktiv von Kirchenfürsten, Bevölkerung und Partisanen geschützt wurden.

Die Besitztümer der Ermordeten landeten in Thessaloniki oft bei nun reichen Familien, welche von ihrer Kollaboration mit den Besatzern der Nazi-Truppen profitierten. Diesem Teil der Oberschicht sind Erinnerungen an die Herkunft des Familienreichtums aus nachvollziehbaren Gründen peinlich.

Boutaris hingegen möchte nicht nur Denkmäler aufstellen, er spricht in öffentlichen Reden offen über die dunklen Punkte der jüngsten Geschichte. So etwas verschafft ihm zahlreiche Feinde.

Legendäre Auseinandersetzungen mit dem Bischof

Schließlich gab er vor knapp elf Monaten im Rahmen des Concordia Summits auf Englisch ein Interview, in dem er in flapsiger Weise über Kemal Atatürk sagte "I don't give a shit, if he (Kemal Atatürk) killed Greeks or not or whatever …" [3]. Dies wurde ihm besonders übel genommen.

Fast schon legendär sind die zahlreichen verbalen Auseinandersetzungen, die sich Boutaris mit dem erzkonservativen Bischof der Stadt, Anthimos, liefert. Anthimos predigt gern gegen Flüchtlinge, Homosexuelle, Transsexuelle und alles, was nicht in sein Weltbild passt. Boutaris lässt keine Gelegenheit aus, solche verbalen Ausfälle entsprechend zu kommentieren.

Hinsichtlich seiner politischen Ideologie hat sich der studierte Chemiker Boutaris vom kommunistischen Studenten zu einem Vertreter neoliberaler ökonomischer Theorien gewandelt. Seine ersten Schritte in die Kommunalpolitik Anfang der Neunziger machte Boutaris auf der Liste der kommunistischen Partei.

Ein "ideales Opfer" für angestachelte Hitzköpfe

Später stand er den Eurokommunisten, der Vorläuferpartei von Syriza nahe, ehe er bei den Kommunalwahlen 2010 sein Amt mit Unterstützung der Pasok, der neoliberalen Partei Drasi, der Nea Dimokratia Politikerin Dora Bakoyianni und der Demokratischen Linken gewann.

Er befürwortet zahlreiche jener Reformen, die vom Großteil der Bevölkerung abgelehnt werden. Er möchte sich im kommenden Jahr bei den Kommunalwahlen erneut für eine neue Amtszeit bewerben.

Zu guter Letzt hatte Boutaris in den letzten beiden Jahren den Pontosgriechen ihre Gedenkveranstaltungen immer wieder erschwert, indem er sich weigerte, öffentliche Plätze zur Versammlung freizugeben.

Heuer ließ er die Gedenkveranstaltungen parallel zur LGBTQ+ Parade austragen. Letzteres kam bei dem konservativ eingestellten Publikum der Pontos Gedenkveranstaltungen besonders schlecht an. Sie fühlten sich nach eigenen Angaben düpiert.

Kurz, Boutaris war für angestachelte Hitzköpfe ein "ideales Opfer", an dem sie ihre aufgestaute Wut ablassen wollten. Politiker des offiziell als "Nebenhauptstadt" fungierenden Thessaloniki fanden den Angriff auf ihn sogar richtig. Der Sender Skai TV bot dem früheren Parlamentarier von der Partei Laos, Kyriakos Velopoulos, sogar ein Podium [4], um diese Position zu erklären.

Velopoulos, der mittlerweile eine eigene Partei hat, war zwischenzeitlich auch von der CDU-Schwesterpartei Nea Dimokratia umworben worden. Regionalpräsident a.D. Panagiotis Psomiadis, früherer Parlamentarier der Nea Dimokratia und früherer Kandidat für den Parteivorsitz erklärte, dass er Gewalt im Prinzip verabscheuen würde, aber Boutaris habe es nicht anders verdient.

Der Tathergang

Boutaris wurde von einer Gruppe der Teilnehmer an der Gedenkveranstaltung für die Pontosgriechen identifiziert. Er wurde beschimpft und aufgefordert, sich zu entfernen. Obwohl er dieser Aufforderung nachkam und sich mit der Hilfe seiner Begleiter entfernte, wurde er von einer sich wie ein Mob verhaltenden Menschenmenge verfolgt, mit Gegenständen beworfen, getreten und bespuckt.

Polizeikräfte griffen auch dann nicht ein, als Boutaris Auto von der Menge umringt, beschädigt und am Abfahren gehindert wurde. Der mehrfach von Hieben, Tritten und Gegenständen getroffene Bürgermeister verbrachte eine Nacht im Krankenhaus.

Die Politik lehnt die Angriffe ab. Wirklich?

Schnell erklärten sämtliche im Parlament vertretene Parteien des demokratischen Spektrums, dass sie den "faschistischen Angriff" verurteilen würden. Bürgerschutzminister Nikos Toskas versprach ebenso wie Justizminister Stavros Kontonis schnelle Aufklärung und Bestrafung der Täter.

Premierminister Alexis Tsipras machte sogar die Rhetorik der Nea Dimokratia für den Angriff verantwortlich. Deren Parteiführer Kyriakos Mitsotakis hatte der Regierung vorgeworfen, sie wäre wegen Duldung von illegalen Taten für solche Gewalttaten verantwortlich.

Tatsächlich sind fast alle Parteien auf ihre Weise schuld am Dilemma. Tsipras Syriza hat keinerlei schwerwiegende Probleme mit dem Koalitionspartner Unabhängige Griechen, dessen Vertreter im Parlament rassistisch, homophob und nationalistisch argumentieren. Schließlich möchte Tsipras Truppe die Regierungsgewalt halten.

Toskas verspricht zwar eine schnelle Festnahme, vermeidet aber zu erklären, wieso die Polizei nicht während der Tat eingriff. Kontonis stellt eine schnelle Bestrafung in Aussicht, steht aber einer Justiz vor, die auf dem rechten Auge mehr als blind ist.

Der Bischof von Kalawrita, Amvrosios, der nicht als Geistlicher, sondern als Volksverhetzer vom Altar aus gegen Ausländer, Homosexuelle und Linke zu Gewalt und sogar zum Lynchmord aufruft, wurde trotz eines strengen Antirassismus-Paragraphen in erster Instanz frei gesprochen.

Beim Prozess gegen die Intellektuelle Soti Triantafyllou, die pauschal sämtliche Anhänger des Islam als Mörder bezeichnete, war es der Staatsanwalt, der offen bekannte, dass er mit dieser Ansicht übereinstimmen würde.

Goldene Morgenröte

Der 2013 begonnene Prozess gegen die Goldene Morgenröte, ihre Führungsgruppe und zahlreiche Mitglieder, die unter anderen wegen Mordes vor Gericht stehen, ist immer noch nicht abgeschlossen.

Die Regierung nimmt Parlamentarier der Goldenen Morgenröte mit auf Reisen durchs Land. Regierungsvertreter haben keinerlei Probleme sich bei offiziellen Anlässen neben Parteigrößen der Goldenen Morgenröte zu zeigen. Verteidigungsminister Panos Kammenos posierte gar für eine Selfie-Aufnahme mit einem verurteilten Mitglied der Partei, die ansonsten als Nazipartei bezeichnet wird.

Auch er hatte, wenngleich gegenüber einer anderen Person der Kommunalpolitik, den Bürgermeister von Aristotelis, Christos Pachtas, seine Landsleute aufgerufen, "lyncht ihn". Später erklärte er, dass er dies nur metaphorisch gemeint habe.

Tatsächlich werfen Regierung und Opposition gern die Begriffe "Verräter", "Kriminelle" und "Sondergerichtshof" in ihre politischen Diskussionen ein. Sie argumentieren nicht, sondern traktieren sich gegenseitig mit plakativen Aussagen. Mit dem Ausdrücken wie "Rechtsextreme" und "Faschisten" wird in der Regel so inflationär umgegangen, dass die Begriffe ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren.

"Faschisten", "Stalinisten", "Bolschewiken"

Das gleiche gilt für Begriffe wie Reformen, Aufschwung und ähnliches. Syriza-Mitglieder, die sich selbst trotz der neoliberalen Politik und der Annäherung an die europäische Sozialdemokratie als "radikal links" bezeichnen, nennen die Vertreter der Nea Dimokratia "Faschisten", können aber nicht sehen, dass ihr eigener Koalitionspartner das gleiche Narrativ wie die Nea Dimokratia verwendet.

Die Nea Dimokratia wiederum sieht in Syriza "Stalinisten", "Bolschewiken" und Ähnliches. Die letzte in Europa stalinistisch geprägte Partei, die Kommunistische Partei Griechenlands wird dagegen von Syriza-Anhängern als Steigbügel der Neoliberalen bezeichnet. Das alles würde einer gewissen Komik nicht entbehren, wenn die Folgen nicht so dramatisch wären wie der tatsächlich faschistoide Angriff auf den Bürgermeister.

Die aktuelle Diskussion über den Namensstreit mit der nördlichen Nachbarrepublik der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien verläuft in vergleichbaren Bahnen. Der frühere Minister der Nea Dimokratia, Vassilis Kikilias, regt sich öffentlich darüber auf, dass "Mazedonien" auch als vorläufiger Namensteil der Nachbarrepublik verwendet wird. Daran hat dann natürlich nur Syriza, die "Verräterpartei", schuld.

Er tut so, als wäre die provisorische Kompromissbezeichnung "Former Yugoslav Republic of Macedonia" nicht auch von seiner Regierung anerkannt worden. Unter dem Akronym FYROM wurde diese Lösung Anfang der Neunziger Jahre vom damaligen Pasok-Premierminister Andreas Papandreou gefeiert.

Boutaris selbst hatte übrigens im strittigen Interview Griechenland als "letzte sowjetische Gesellschaft" bezeichnet. Die verwirrte Sprache und die Beschimpfung politischer Gegner als Faschisten bei gleichzeitiger Verniedlichung eigener faschistoider Aktionen als "nachvollziehbare Empörung": Dies sind Faktoren, mit denen die nun entsetzten Politiker selbst den Grundstein für die Verrohung der Gesellschaft gelegt haben.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4053468

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=Rm2exXPO0Qo
[2] https://www.imdb.com/title/tt0418309/
[3] https://www.youtube.com/watch?time_continue=307&v=PsWob05TxvM
[4] https://www.youtube.com/watch?v=UJheuEW9Qfc