Griechenland auf den Barrikaden: Das Staatsverbrechen von Tembi

Luca Schäfer
Ein Demonstrant hält die Hände nach oben

Demonstration in Athen am 5. März

(Bild: Vedat Yeler/Shutterstock.com)

In Griechenland brodelt es, ein Generalstreik legt das Land lahm. Gewerkschafter fordern Konsequenzen nach Zugunglück. Warum Deutschland kein unbeteiligter Dritter ist.

Tembi: Ein Name, der sich tief ins Herz der ohnehin von Leid und Armut geplagten griechischen Gesellschaft eingebrannt hat. Als vor zwei Jahren zwei Züge frontal zusammenstießen, kamen 57 Menschen ums Leben.

Die meisten von ihnen waren junge, angehende Akademiker auf dem Weg von der Metropole Athen in die nordgriechische Studentenstadt Thessaloniki. Viele von ihnen waren sich bewusst, dass jede Reise ein potenzielles Risiko in sich barg. In Griechenland hat sich das Sprichwort "Ruf mich an, wenn du ankommst" als bittere Warnung besorgter Eltern an ihre Sprösslinge eingebürgert.

Der Schuldige war schnell ausgemacht: ein Bauernopfer, das, wie die sich entladende Wut zeigte, nicht verfing. Ein kurz vor der Pensionierung stehender Bahnhofsvorsteher aus der Provinzstadt Larisa hatte den mit 350 Passagieren besetzten Personenzug und einen Gütertransporter auf dasselbe Gleis geschickt.

Doch es ist weit mehr. Tembi ist ein Fanal für einen "failed state", es steht symbolisch für Korruption, imperialistische Ausplünderung, politisches Versagen, die Degeneration zum europäischen Bittsteller. Wut hat Gründe: Sie liegen in der finanzpolitischen Verfasstheit der EU begraben.

Massen gegen Mitsotakis

Es sollen die größten Proteste in der jüngeren Geschichte des Landes gewesen sein. Allein in Athen waren am vergangenen Wochenende 200.000 Menschen auf den Straßen. Im ganzen Land gab es Proteste, rund 300 Kundgebungen wurden angemeldet. Nur vereinzelt flogen Molotowcocktails und es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei.

Der griechische Gewerkschafter Yannis Panagopoulos brachte die Stimmung im Land auf den Punkt: "Lasst uns auf die Straße gehen und die Forderungen der überwältigenden Mehrheit zum Ausdruck bringen".

Das "Wir sind mehr" auf Griechisch hat eine klassenkämpferische Komponente: Ein politischer Generalstreik legte das Land lahm. Schulen, Behörden, Fähren standen still. Auch im Ausland protestierte die millionenstarke Diaspora.

Während Präsident Mitsotakis als Spross einer Politikerdynastie, Millionär und Harvard-Absolvent versuchte, den Volksversteher zu mimen, verfingen seine Worte nicht.

Unter dem Motto "Das war kein Unfall, das war Mord" riefen die großen Gewerkschaften zum Streik auf. Die Kommunistische Partei des Landes (KKE), im Parlament in der Fundamentalopposition, sekundierte in Person ihres Vorsitzenden Dimitris Koutsoumbas mit den Worten: "Die Jugend wird nicht zulassen, dass dieses Verbrechen verjährt". Ein Ende ist noch nicht absehbar.

Ein unvergessliches Erlebnis?

Es klingt wie Hohn: Auf der englischsprachigen Seite der Bahngesellschaft Hellenic Trains konnte man zum Zeitpunkt der Kollision noch den Slogan "Bahnfahren ist ein unvergessliches Erlebnis" bewundern.

Heute gibt man sich sicherheitsbewusst. Zunächst: Die betroffene Crash-Verbindung, der Intercity 62, wird überdurchschnittlich stark von Studenten und Wehrpflichtigen (in Griechenland herrscht Wehrpflicht) gebucht. Er fährt am späten Abend und ist damit die billigste Reisealternative.

Viele Studierende sind bitterarm, leben oft noch zu Hause. Nach Angaben der Universität Bremen lag die Jugendarbeitslosigkeit zwischen 2010 und 2014 teilweise bei über 50 Prozent.

Mobilität ist eine Frage des Geldbeutels: Die meisten Autobahnen sind privatisiert, eine Fahrt von Athen nach Thessaloniki kostet dank Mautstationen Dutzende Euro. Großer Profiteur der Mautstationen ist die Betreiberfirma. Der Mischkonzern Gek Terna hat für 3,3 Milliarden Euro für die nächsten 25 Jahre zentrale Autobahnen gekauft.

Der Regierung geht die Luft aus

Doch die Skandale beginnen früher: Der Name Hellenic Train ist irreführend. Denn 2017 musste die ehemals staatliche Eisenbahngesellschaft OSE für einen lächerlichen Kaufpreis von 45 Millionen (geschätzter Wert 200 Millionen Euro) an die halbstaatliche italienische Ferro dello Stato Italiane verscherbelt werden.

Das einzige Angebot kam aus Italien. Die italienische Staatsbahn funktioniert im Kern wie die Deutsche Bahn und wurde als 40-prozentige private Aktiengesellschaft in Dutzende Filetstücke zerlegt. Die Folge: ein drastischer Personalabbau, die Bahn wurde auf Profit getrimmt. Von rund 12.000 Beschäftigten waren im Jahr 2021 noch 2.000 übrig. Damit konnten nur noch 300 der rund 2500 Schienenkilometer sicher betrieben werden. Eine Zeitbombe.

Als Randnotiz: Der 59-jährige Fahrdienstleiter hatte erst kurz vor dem Unglück einen Crash-Kurs absolviert. Wer glaubt, es handele sich um einen tragischen Unfall, sitzt den Lügen der griechischen Regierenden auf.

Der Verkehrsminister hat sich aus Amt und Verantwortung gestohlen. Die rechte Regierung versuchte zu mauern, schob es erst auf einen technischen Defekt, dann auf individuelles menschliches Versagen. Bis heute sind zentrale Fragen offen, Antworten gab es nicht. Die Quittung folgt auf dem Fuß: Laut aktuellen Umfragen glauben 72 Prozent der Befragten, dass Präsident Mitsotakis lügt.

Was die Gemüter besonders erregt: Entgegen den Behauptungen der Regierung legen jüngste Untersuchungen nahe, dass im Güterzug illegal auch brennbare Chemikalien transportiert wurden. Bilder belegen zumindest einen großflächigen Brand. Dies lässt auf ein Feuer und den Austritt von Chemikalien schließen. Beklemmend sind die letzten Worte einer Passagierin am Notruf 112: "Ich habe keinen Sauerstoff".

HRDAF: die griechische Treuhand

Doch um Tembi zu verstehen und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, muss ein Name genannt werden, der in den deutschen Medien selten Erwähnung findet. HRDAF. Das ist die griechische Version der deutschen Treuhand.

Im Zuge der griechischen Staatsschuldenkrise gegründet, privatisiert sie seit 14 Jahren Tafelsilber. Die Regierung Mitsotakis ist eng mit den Machenschaften der Superreichen verbunden, wie der Fall der Luxuswohnungen des Multimillionärs Spiros Latsis zeigt.

In der klassischen Wirtschaftserzählung wurde Griechenland von der Eurogruppe vor dem Staatsbankrott "gerettet". In Wahrheit wurde Griechenland durch die Troika (eine Kooperation von EZB, Kommission und IWF) an harte Spardiktate gekettet und indirekt die Gründung des HRDAF erzwungen.

Der Hellenic Republic Asset Development Fund ist ein Instrument zum gnadenlosen, neoliberalen Ausverkauf von Staatsvermögen an private Bieter. In seinem Portfolio befindet sich Allerlei: Flughäfen, Immobilien und eben die Eisenbahnstrecken.

Von faulen Griechen und cleveren Deutschen

Die Nutznießer sind schnell ausgemacht. Zu Spottpreisen haben vor allem chinesische und deutsche Unternehmen zugeschlagen. So schnappte sich die Frankfurter FraPort AG allein 14 Flughäfen. Die chinesische Cosco-Shipping den lukrativen Hafen von Piräus.

Die Party sollte dem griechischen Staat Milliarden für den Schuldendienst einbringen. Der Clou des Kuhhandels ist, dass damit vor allem Auslandsschulden bedient werden. Vor allem jene beim Europäischen Stabilitätsfonds (ESM). Deutschland hält allein 27 Prozent am ESM.

Die vermeintlich faulen "Pleitegriechen" (Bild) wurden in mehrfacher Hinsicht über den Tisch gezogen. Exemplarisch lässt sich dies am FraPort-Deal verdeutlichen. Während die 14 profitablen Flughäfen in deutsche Hände wanderten, verblieben rund 30 unprofitable bei den griechischen Schuldnern.

Die katastrophale Schulden- und Finanzpolitik der EU hat Griechenland, wie Tembi offenkundig macht, in eine tödliche Krise getrieben.

In Griechenland geht die soziale Mindestsicherung flöten: 24 Prozent Mehrwertsteuer, Armutsrenten und Lohnkürzungen – die Hausse muss bezahlt werden.