Grüne am Abgrund: Scheitert die Klimawende an deutscher Bequemlichkeit?

Hochwasser an der Saar

Hochwasser an der Saar. Bild: Berit Kessler/ Shuttersock.com

Die Grünen erleben einen dramatischen Absturz in den Umfragen. Die Deutschen scheinen den Klimaschutz nicht wirklich ernst zu nehmen. Sind wir zu bequem, um unsere Zukunft zu retten? Ein Essay.

Der aktuelle Abstieg der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei Landtagswahlen sowie in bundesweiten Umfragen ist u.a. damit zu begründen, dass zwar viele Menschen über den bereits eintretenden Klimawandel besorgt sind, allerdings oft nicht bereit sind, für dessen Eindämmung etwas von ihrem Lebensstandard zu opfern.

Dies betrifft insbesondere diejenigen, die ohnehin wenig Einkommen haben, aber auch diejenigen, die trotz eines auskömmlichen Einkommens nicht bereit sind, ihre Urlaubsreisen und ihr Konsumniveau der Investition in Wärmepumpen, E-Autos und Fotovoltaik-Anlagen zu opfern.

Diese Haltung, die im Übrigen häufig auch bei jungen Menschen anzutreffen ist, kann als Generationenegoismus bezeichnet werden.

Dementsprechend werden derzeit Parteien abgestraft, die Weichen für eine nachhaltige Entwicklung stellen wollen und vom Bürger hierfür finanzielle Anstrengungen verlangen. Andererseits werden politische Parteien bei Wahlen belohnt, die vom Bürger keine derartigen Anstrengungen verlangen – im Gegenteil sogar die Tatsache des Klimawandels leugnen. Wenn diese Parteien auch noch über eine exkludierende gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Ressentiments gegen Flüchtlinge und Migranten stärken, treffen sie derzeit auf einen erheblichen gesellschaftlichen Resonanzboden bei Wahlen.

Das populistische Anknüpfen an Einheimischenvorrechten bei gleichzeitiger pauschalisierender Abwertung und Diskriminierung migrantischer Milieus sorgt für Wählerstimmen in Zeiten kriegs- und umweltbedingter Migration.

Auch die Parteien der politischen Mitte, wie CDU und SPD, versuchen hier inzwischen ebenfalls an der parteipolitischen Stimmungsmache gegenüber Migranten, dem parteipolitischem Fokus der Alternative für Deutschland (AfD), anzuknüpfen und schwenken diesbezüglich zunehmend auf eine populistische Linie ein. Insbesondere die aktuellen Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland haben hierzu beigetragen.

BSW: Populismus-Vorwurf berechtigt?

Um nicht missverstanden zu werden: Die Warnung vor exkludierenden Einheimischenvorrechten und deren populistischer Propagierung bedeutet nicht, dass die Regierungspolitik keine konstruktiven Lösungen finden muss, die geeignet sind, den Zuzug von Migranten verkraftbar im Sinne einer modernen Einwanderungsgesellschaft zu regeln, die Bedingungen für eine verbesserte Integration zu schaffen sowie illegale Migration zu verhindern.

Derartige Forderungen sind sicherlich nicht populistisch, sondern gesellschaftlich sinnvoll und humanitär begründet. Daher können zumindest folgende Formulierungen im Parteiprogramm des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) nicht als populistisch bezeichnet und schon gar nicht mit migrationsfeindlichen Positionen der AfD gleichgesetzt werden:

Zuwanderung und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen können eine Bereicherung sein. Das gilt aber nur, solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert, und sofern Integration aktiv gefördert wird und gelingt. Wir wissen: Den Preis für verschärfte Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum, um Jobs mit niedrigen Löhnen und für eine misslungene Integration zahlen in erster Linie diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Wer in seiner Heimat politisch verfolgt wird, hat Anspruch auf Asyl. Aber Migration ist nicht die Lösung für das Problem der Armut auf unserer Welt. Stattdessen brauchen wir faire Weltwirtschaftsbeziehungen und eine Politik, die sich um mehr Perspektiven in den Heimatländern bemüht.

Allerdings muss sich das BSW fragen lassen, ob sie das Plädoyer für eine Verlangsamung des sozialökologischen Umbaus zugunsten einer verlängerten fossilen Energiegewinnung und -verbrennung aus eigener Überzeugung oder aufgrund einer wahltaktischen Anpassung an generationsegoistischen Gruppierungen vornimmt.

Zwar tritt das BSW durchaus z.B. für die Förderung von Fotovoltaik auf Dächern und Klimaschutzmaßnahmen ein. So wird dort aber, als ob dies das klimapolitische Hauptproblem wäre, abgrenzend formuliert:

Blinder Aktivismus und undurchdachte Maßnahmen helfen dem Klima nicht, aber sie gefährden unsere wirtschaftliche Substanz, verteuern das Leben der Menschen und untergraben die öffentliche Akzeptanz von sinnvollen Klimaschutzmaßnahmen.

Konkreter wird es dann, wenn für die Industrie die Abschaffung der CO2-Zertifizierung, die Nutzung von russischem Gas sowie für Autos die Aufhebung des Verbrennerverbots für 2035 gefordert wird, um eine angebliche Deindustrialisierung unserer Gesellschaft zu vermeiden.

Es dürfte dem BSW nicht entgangen sein, dass die bereits eintretende und zukünftig sich verstärkende Klimakatastrophe einschneidender klimapolitischer Maßnahmen bedarf. Dann aber wider besseres Wissen sich in den eigenen Forderungen an generationenegoistische Stimmungen anzupassen, kann nur als Populismus bezeichnet werden – auch wenn es einzelne ökologische Formulierungen im BSW-Parteiprogramm gibt.

Auch der Obmann der CDU/CSU-Fraktion im parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, Kai Whittaker, wirbt unter der Perspektive einer vermeintlichen Nachhaltigkeit durchaus wahlopportunistisch für eine Klimapolitik "mit Augenmaß" und sagt: "Wir müssen Lust machen auf Klimaschutz, indem wir Anreize setzen für Ideen und Innovationen.‘ Klimaschutz als Konsumverzicht – dafür gebe es in diesem Land keine Mehrheiten."

Was nicht populistisch verdrängt werden darf

Dennoch zeigen die zunehmenden Extremwetterereignisse, dass es eine äußerst fragwürdige Vorgehensweise ist, den Klimawandel populistisch zu verleugnen bzw. die notwendigen Maßnahmen zu vermeiden. Dieser wahltaktische Opportunismus verhindert die sozialökologischen Eingriffe, die weltweit notwendig sind, um Starkregen, extreme Trockenheit in anderen Regionen, Überschwemmungen in Küstengebieten und immer gefährlichere Wirbelstürme einzudämmen und präventiv zu begegnen.

Nicht nur das Schicksal der bereits jetzt, aber vor allem zukünftig am Hitzetod gestorbenen, der in der Flut ertrunkenen, im Hurrikan erschlagenen oder auf der Flucht umgekommenen Menschen wird verdrängt, sondern es wird auch die Augen vor den immensen Kosten verschlossen, die auf die Gesellschaften zukünftig zukommen, wenn keine sozialökologische Umsteuerung erfolgt. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) geht von weltweit jährlichen Schäden im Wert von 38 Billionen US-Dollar im Jahr 2050 aus (19 Prozent weltweiter Einkommensverlust) und stellt fest:

Bereits die Schäden bis 2049 seien jedoch sechsmal höher als die Vermeidungskosten zur Begrenzung der globalen Erwärmung auf zwei Grad. Investitionen in ambitionierten Klimaschutz bleiben daher eine notwendige Voraussetzung, um die materiellen und immateriellen Kosten des Klimawandels zu begrenzen.

Positive Entwicklungen aufgreifen

Die Haltung, man könne ja sowieso nichts gegen die eintretende Klimakrise machen, ist bequem und schlicht weg auch falsch. Der aktuelle Befund der Internationalen Energieagentur (IEA) macht etwa deutlich, das bereits erhebliche Erfolge im Bereich der sozialökologischen Transformation hinsichtlich der Förderung regenerativer Energieerzeugung erreicht wurden.

Insbesondere der Bau neuer Solarkraftwerke, die Zunahme von Photovoltaikanlagen auf Dächern von Fabriken und Wohngebäuden und der Ausbau der Windenergie lassen für 2030 erwarten, dass die Ziele der Klimakonferenz COP28, die eine Verdreifachung erneuerbarer Energieerzeugung in diesem Jahrzehnt vorsehen, fast erreicht werden. Die IEA errechnete, dass bis 2030 die regenerative Energieerzeugung um den Faktor 2,7 gegenüber 2022 ansteigen wird.

Dennoch ist noch mehr möglich, wenn die richtigen Maßnahmen ergriffen werden:

Die Analyse der IEA zeigt jedoch, dass das Ziel der Verdreifachung durchaus erreicht werden kann, wenn die Regierungen kurzfristige Handlungsmöglichkeiten nutzen. Dazu gehört die Ausarbeitung mutiger Pläne in der nächsten Runde der national festgelegten Beiträge im Rahmen des Pariser Abkommens, die im nächsten Jahr ansteht, und die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, um die hohen Finanzierungskosten in Schwellen- und Entwicklungsländern zu senken, die das Wachstum erneuerbarer Energien in Regionen mit hohem Potenzial wie Afrika und Südostasien bremsen.

Daher besteht doch, vornehmlich für politische Parteien mit einem ökologischen Selbstanspruch und einem ausgewiesenen Nachhaltigkeitsverständnis, wie z.B. bei Bündnis 90/Die Grünen, eine erhebliche Chance, an derartigen energiepolitischen Leistungen und Perspektiven anzuknüpfen und ökologisches Selbstbewusstsein zu zeigen.

Aber auch die anderen Parteien sollten eine Anpassung an vermutete Wählerstimmungen und an eine zumindest in einem Teil der Wählerschaft vorhandene Abneigung gegen Klimaschutzmaßnahmen vermeiden, wenn diese Ausdruck eines ausgeprägten Generationenegoismus sind.

Denn die jetzt und in den nächsten 25 Jahren vorzunehmende Reduktion von Klimagasen betreffen insbesondere die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts – also die Lebenszeit der nächsten und übernächsten Generation.

Würden hier keine Klimaschutzmaßnahmen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts getroffen werden, würden der finanzielle Schaden laut dem PIK noch weit über die bis 2049 berechneten Kosten mit einem wirtschaftlichen Schaden von 60 Prozent (!) Einkommensverluste zum Ende des Jahrhunderts hinausgehen.

Auch wenn derzeit der Fokus internationaler Politik auf der Bewältigung insbesondere der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten liegt, sollte dies nicht gegen die ökologische Sensibilität und die Entschiedenheit in der Klimapolitik ausgespielt werden. Insbesondere wenn die steigenden Produktionskosten für Waffensysteme die Finanzierung notwendiger Klimaschutzmaßnahmen verhindern, wird in den klimatischen Niedergang investiert.

Mittel- und langfristig werden angesichts der zunehmenden ökologischen Zerstörungen und Bedrohungen diejenigen Parteien erfolgreich sein, die ihr ökologische Profil weiterentwickelt haben, über Konzepte zur wirkungsvollen Bekämpfung der Klimakrise und der Umweltzerstörung verfügen und diese mit Konsequenz umzusetzen versuchen.

Es ist die Frage, ob man eine derartige für die Menschheit existenzielle Perspektive einem fragwürdigen mit populistischen Mitteln begünstigten Wahlerfolg und einem kurzfristigen Machtzugewinn opfern sollte.

Die kommende Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen findet nun Mitte November in Wiesbaden statt. Die Grünen wurden ursprünglich mit ihrer konsequenten ökologischen und friedenspolitischen Agenda identifiziert. Sie sollten daher auf der Konferenz vor allem programmatische Anträge bevorzugen, die das ökologische Kernprofil wieder ausschärfen und gleichzeitig friedenspolitisch diplomatische Strategien anstelle bellizistischer Lösungen bevorzugen. Die Wählerschaft bevorzugt in der Regel das Original und nicht den Versuch, andere Parteien opportunistisch zu imitieren.

Klaus Moegling ist habilitierter Politikwissenschaftler, er lehrte zuletzt an der Universität Kassel als apl. Professor im Fb Gesellschaftswissenschaften, er ist u.a. Autor des Buches "Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich." Die 5. aktualisierte Auflage ist im open access lesbar.