Grundrechtlicher Super-GAU in Österreich kontaminiert die EU
Was mit der Buchveröffentlichung eines umgedrehten Ex-FPÖ-Gewerkschafters begann, weitet sich mit immer neuen Indizien zu einem Politskandal aus, der inzwischen Spitzenfunktionäre der Regierungspartei FPÖ erfasst hat
Die sogenannte Spitzelaffäre in Österreich begann mit Vorwürfen des EX-FPÖ-Polizeigewerkschafters Josef Kleindienst, dass die FPÖ ein Spitzelsystem betrieben habe, das es ihr ermöglichte, geheime Polizei-Informationen für politische Zwecke zu missbrauchen. Seit Wochen vergeht kaum ein Tag ohne neue Berichte über abgehörte Politiker und andere Enthüllungen rund um diese Affäre. Die bislang dramatischste Enthüllung lieferte gestern das Wiener Stadtmagazin Der Falter. In einer Titelgeschichte wird dem Justizminister und ehemaligem Anwalt Dieter Böhmdorfer vorgeworfen, er habe "polizeiliches Insiderwissen" bei Prozessen gegen FPÖ-Kritiker verwendet. Diese Informationen sollen aus dem EKIS-Computer des Innenministeriums und auch von der Staatspolizei stammen.
Mit den Falter-Enthüllungen über den Justizminister Dieter Böhmdorfer erreicht der Skandal eine neue Dimension. Die bisherigen Vorwürfe bezogen sich vor allem auf das EKIS-Informationssystem des Innenministeriums. Von Verkehrsvergehen über Fahndungsausschreibungen bis hin zu aktenkundigen Vorgängen, die jedoch zu keinen Verurteilungen geführt haben, lagert dort eine Menge brisantes Material. Polizeibeamte sollen wie politische Rent boys gehandelt haben. Ein Spitzenfunktionär der FPÖ-nahen Gewerkschaft AUF soll Anfragen aus dem Parteibüro entgegengenommen haben. Die "Jungs an der Front" machten sich dann auf die Suche im EKIS-System, aber auch in Datenbanken der Sozialversicherung, heißt es. Die Bezahlung für diese Infodienste der besonderen Art soll dann ebenfalls über die AUF gelaufen sein.
Doch laut dem Falter und anderen Presseberichten standen FPÖ-Politkern auch Informationen von der Staatspolizei zur Verfügung. Im Falle des nun von Rücktrittsforderungen bedrängten Justizministers Böhmdorfer geht es insbesondere um zwei Ehrenbeleidigungsprozesse. Als die FPÖ noch als "Recht-und-Ordnunsg"-Opposition agierte, zählte es zu ihrer normalen Praxis, politische Gegner häufig auf Basis unhaltbarer Vörwürfe öffentlich zu diffamieren. Mitte der neunziger Jahre wurde zwei Personen, eine davon damalige Grünen-Stadträtin, vorgeworfen, "Terroristen" und "RAF-Sympathisanten" zu sein - zu Unrecht, wie sich am Ende herausstellte. Die Beschuldigten wehrten sich und klagten den damaligen FPÖ-Chef Jörg Haider und Klubobamnn Ewald Stadler auf Ehrenbeleidigung. Der Anwalt Haiders ebenso wie Stadlers war der nun zum Justizminsiter aufgestiegene Böhmdorfer.
In den folgenden Prozessen setzte Böhmdorfer laut Falter massiv Informationen ein, die zum einen aus der EKIS-Datenbank stammen, zum anderen aus noch wesentlich sensibleren Informationspools - Materialien von der Staatspolizei, die diese durch verdeckte Ermittler, Abhöraktionen und erkennungsdienstliche Bildaufklärung gewonnen hatte. Die Enthüllungen des Falter können nicht nachweisen, wie Böhmdorfer an diese Informationen gelangte, dass er sie aber hatte und benutzt hat, steht fest.
Ganz unabhängig von der Causa des nunmehrigen Justizministers Böhmdorfer machen diese Enthüllungen klar, in welchem Ausmaß es die Staatspolizei in Österreich für nötig hält, Bürger zu bespitzeln. Es genügt schon, als Publikum im Saal bei einer politisch brisanten Gerichtsverhandlung anwesend zu sein, um mit Foto Eingang in Akten zu finden - Einträge, die dort für immer verweilen, obwohl sich der oder die Observierte nie etwas zu Schulden hat kommen lassen. Aber nicht nur auf die "üblichen Verdächtigen" aus linkspolitischen Zusammenhängen hat die Stapo scheinbar ein nimmermüdes elektronisches Auge geworfen, auch die Büros von Spitzenpolitikern befinden sich unter Observation.
So berichtet das Nachrichtenmagazin Profil, dass Jörg Haider 1996 bei einer Pressekonferenz in Klagenfurt einen Tonbandmitschnitt eines offenbar von der Staatspolizei aufgezeichneten Telefonats zwischen Bruno Aigner, dem Sekretär von Nationalratspräsident Heinz Fischer (SPÖ), und einer Mitarbeiterin der in Wien ansässigen Kurdenorganisation ERNK präsentiert hatte. Ebenfalls im Profil zu lesen ist, dass Haider bei Debatten im Nationalrat regelmäßig Akten der Staatspolizei schwenkte, bzw. sich auf deren Inhalt berief. Im Zuge der derzeit laufenden Enthüllungswelle stellte sich sogar heraus, dass der ehemalige Innenminister Caspar Einem von der Staatspolizei bespitzelt worden war. Immer mehr Namen überwachter Politiker gelangen in die Presse und praktisch immer ist es klar, welche Partei aus dem Observationsmaterial politisches Kapital geschlagen hat - Jörg "Saubermann" Haiders FPÖ, die nun durch ihre Koalition mit der ÖVP an der Regierung beteiligt ist und neben dem Justizminister mehrere wichtige Ministerien inne hat.
Doch Haider wäre nicht der Karrierepolitiker, der er ist, wenn er selbst in dieser Situation nicht noch zu demagogischen Gegenangriffen fähig wäre, die ihn zumindest nach der Sicht seiner Anhänger als Opfer anstatt als Täter dastehen lassen würden. In einer Pressemeldung bezeichnete er sich als "Hauptbetroffenen" der Bespitzelung und fordert "rückhaltlose Aufklärung", denn die Bespitzelung müsse endlich aufhören. Haider behauptet, er wäre jahrelang von der Staatspolizei überwacht worden, unter dem Vorwand "getürkter" Morddrohungen gegen ihn. Eine haarsträubende Verdrehung der Sachlage mit ebenso haarsträubender Wortwahl.
Der Justizminister steht nun also selbst im Zentrum eines Skandals, für dessen Aufklärung er als oberster Chef der Staatsanwaltschaft eigentlich zuständig ist. Inzwischen liegt eine derartige Fülle von Material vor, so dass die FPÖ die Vorwürfe nicht mehr einfach wegdrücken kann. Laut einem ORF-Bericht und Berichten der Tageszeitung Standard hat sich auch die Staatsanwaltschaft mittlerweile eingeschaltet und verlangt die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von drei FPÖ-Politikern, die unter dem Verdacht der Anstiftung zum Amtsmissbrauch stehen. Auch gegen Haider wurde inzwischen angeblich eine gerichtliche Voruntersuchung angeordnet.
Die unter Verdacht stehenden FPÖ-Spitzen können nun nicht mehr einfach sagen, von nichts gewusst zu haben. Dafür haben sie sich scheinbar auf die Formel geeinigt, dass ihnen die Polizeiinformationen von unbekannter Hand zugeschickt werden. Zugleich bezeichnen sie die fortgesetzte Affäre als "Medienkampagne von Zeitgeistmagazinen" und versuchen sich selbst als Opfer darzustellen.
Immer größer wird nun der Druck auf Innenminister Strasser. Er versuchte bislang den Kopf über Wasser zu halten, indem er scheinbar objektive und neutrale, aber sehr inhaltsarme Aussagen machte. In einer ironischen Wendung machten die Betreiber der Mailingliste q/depesche heute bekannt, dass Innenminister Strasser zu den frühen Subskribienten der Liste zählte und die Aussendungen immer noch erhält. Also wählten die Listenbetreiber diesen Weg, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er für die morgen stattfindende Verleihung des Big Brother Awards nominiert ist.
Unabhängig davon, ob noch weitere Beweise auftauchen oder einzelne Beamte umfallen und Geständnisse ablegen, eines steht bereits fest. Die EU-Weisen haben geirrt, als sie der ÖVP-FPÖ-Regierung demokratiepolitische Unbedenklichkeit attestiert haben. Die undurchsichtige Rolle der Staatspolizei und die Verflechtungen zwischen Sicherheitsapparat und Politik, kulminierend in den Vorwürfen gegen den Justizminister, stellen in der Tat einen grundrechtlichen Super-GAU dar, wie Der Falter geschrieben hat. Doch diese demokratiepolitische Verseuchung im Zentrum der Österreichischen Republik kann potentiell die gesamte EU kontaminieren. Man denke nur an Datenbanken wie das Schengen-Informationssystem, die verschiedenen Abkommen zur EU-Polizeikooperation und die geringen Kontrollmöglichkeiten bezüglich der Tätigkeit von Europol. Die EU hat sich gerade auf eine Grundrechtscharta geeinigt. Wir alle sind gefordert, deren Einhaltung auch sicher zu stellen.