Günstlingswirtschaft und Kindsmisshandlung

Überraschende Filme aus der arabischen Welt

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Der Besuch von Filmfesten ähnelt ein wenig dem Goldwaschen. Man muss manche Frustration ertragen, um wahre Kleinodien zu finden. Solche Juwelen sind zwei neue arabische Filme.

Der eine Film, "Out of Coverage/kharej altagtia" (frei übersetzt: „Kein Netz“ oder „Teilnehmer nicht verfügbar“) ist eine syrische Produktion, der andere, "Burned Hearts/al-quluub al-muhtariqa", eine marokkanische. Gleichwohl haben beide Filme erstaunlich viele Gemeinsamkeiten.

Out of Coverage

Beide sind handwerklich extrem gut gemacht und haben Schauspieler von Klasse, was insbesondere im Kontext manch anderer Filmfestfilme sofort ins Auge springt. Beide Filme zeigen eine arabische Welt, die sich deutlich von den weitverbreiteten Vorstellungen unterscheidet; so beinhalten auch beide Filme jeweils eine Bettszene. Verschleierte Frauen sind in „Burned Hearts“ selten, in „Out of Coverage“ fast non-existent. Noch etwas überrascht bei beiden Filmen: Sie beinhalten mutige politische Aussagen, und das, obwohl sie in den Ländern selbst gedreht wurden.

„Out of Coverage“, ein Film von Adellatif Abdelhamid, zeigt einen Mann im Stress. Amers Handy klingelt unablässig: Zwei Frauen mit je einem Kind lassen ihn Einkäufe und Besorgungen erledigen. Die beiden Frauen sind seine Ehefrau und die schöne Nada. Erst mit der Zeit wird klar, dass Nada die Gattin eines engen Freundes von Amer ist, der aus nicht genannten Gründen1 seit 10 Jahren im Gefängnis sitzt.

Out of Coverage

Amer hat auch sonst ein stressiges Leben: Sein Geld verdient er in einer Bäckerei und durch Arabisch-Unterricht, den er einem Japaner erteilt. Diese Szenen sind wirklich lustig, ohne jedoch nie zum Klamauk abzugleiten und damit die Würde des Films zu beinträchtigen. Im weiteren Verlauf des Films erhält Amer auch noch ein Taxi und verdient zusätzlich als Fahrer Geld.

Amer wird in seiner Treue zu dem inhaftierten Freund von seiner Gattin unterstützt, die allerdings weniger angetan davon ist, dass Amer immer mehr Interesse an Nada zeigt und immer weniger an ihr. Selbst klassische Verführungsattacken (als er duscht, kommt sie bekleidet zu ihm in die Dusche; Abendessen bei Kerzenschein) prallen an Amer ab, der seinerseits etwas (aber nicht allzu) erfolgreicher bei Nada ist.

Out of Coverage

Der Deus ex Machina: Amers Frau fädelt über Vitamin B ein, dass Nadas Ehemann endlich freikommt (der Film war so gut, dass der geneigte Betrachter auf die Frage verzichtet, warum Amers Frau ihre Kontakte nicht schon Jahre früher spielen ließ). Als Amer wieder einmal nicht auf Handy-Anrufe antwortet – er bringt gerade einen weiblichen Fahrgast nach Aleppo bzw. ist auf der Rückfahrt –, hält die Landstraßenpolizei sie darüber auf dem Laufenden, wo er gerade vorbeifährt - natürlich wieder über ihre einflussreichen Kontakte.

Out of Coverage

Wir haben also einen syrischen Film, der in Damaskus spielt, und in dem eine als positiv gezeichnete Figur seit langen Jahren einsitzt, um dann schlagartig freizukommen, wenn sich jemand höflich an einen Mann mit Einfluss wendet. Wer sich weniger für die politischen Grenzen der Kunst interessiert und einfach nur eine Liebesgeschichte mit knisternden erotischen Szenen sehen will – die auch sonst überall spielen könnte –, kommt aber auch auf seine Kosten.

Burned Hearts

Der noch bessere Film ist „Burned Hearts“: Amin ist erfolgreich in Frankreich. Er ist gerade in seine Heimatstadt Fès zurückgekehrt, weil dort sein Onkel – bei dem er aufwuchs – im Sterben liegt. Im Laufe des Films wird klar, dass Amin als Kind misshandelt wurde (bis hin zu Quälereien mit glühendem Eisen) und dass sein Onkel zumal seinen Schulbesuch verhindern wollte. Nur mit viel Glück und Beharrlichkeit konnte Amin seinen Weg gehen.

Während Amin also auf das Ableben seines Onkels wartet, lernt er seine alte Heimat Fès wieder kennen, und diese Schilderung marokkanischen Lebens ist schlichtweg brillant. Am ehesten kann man sie sich als eine Art Don Camillo (also mit Erzählerstimme und kleinen, überlappenden Episoden) mit Bollywood-Einschlag (es gibt zahlreiche Musik- und Tanzeinlagen, die aber zumeist weniger als eine Minute dauern und daher stets Interesse wecken und nie langweilen) vorstellen.

Burned Hearts

Und wie im Paese am Po sind die Episoden mal lustig (wie der Bob-Marley-Araber, der nach Jamaica auswandern will und seinen alkoholkonsumierenden Freunden mit Allahu-akbar-Rufen Angst einjagt), mal tragisch (wie der Schmied, der auch in der Jetzt-Zeit Kinder misshandelt und vom Schulbesuch abhält). „Burned Hearts“ ist bis auf zwei Szenen komplett in Schwarz-Weiß; das mag die gefühlte Don-Camillo-Regression verstärkt haben.

„Burned Hearts“ ist ein streng durchkomponiertes Gesamtkunstwerk, bei dem Ahmed El Maanouni nicht nur Drehbuchautor, Regisseur und Produzent war, sondern auch die Vorlage für Amin: Der Film ist autobiografisch, und die Idee kam El Maanouni, als er am Grab seines Onkels war, den es – leider – auch gab.

Burned Hearts

Der Film lief Marokko-weit in den Kinos. Als El Maanouni nach der Vorführung in München gefragt wurde, wie die Reaktion des marokkanischen Publikums auf den Film gewesen sei – der Film zeigt ja viele selbstbewusste und wenige verschleierte Frauen, eine Bettszene, Alkoholtrinker u. a. – erzählte er, dass all diese Fragen kein Thema waren. Am meisten wurde darüber gesprochen und geschrieben, wie man auf die Idee kommen könne, heutzutage einen Schwarz-Weiß-Film zu machen. Ein islamischen Ideologien nahestehendes Blatt habe sich nicht über die genannten Inhalte empört, sondern darüber, wie unlogisch es sei, dass in einem Schwarz-Weiß-Film ein Allradwagen und ein Handy vorkomme. Und noch etwas: Der Film habe in Marokko eine Diskussion über Kindesmisshandlungen, Kinderarbeit, frühes Abgehen von der Schule usw. angestoßen. Eine der beiden Farbszenen zeigt Kinderarbeit heute, als Symbol dafür, dass sich seit der Kindheit Amins – oder El Maanounis – nichts wirklich verändert hat.

Burned Hearts

Es ist in jedem Fall ein hoffnunggebendes Zeichen, dass ein solcher Film in ganz Marokko ins Kino kommt, dass er tatsächlich die von ihm gewünschte Diskussion anstößt und die traditionelle Fraktion nicht mehr auszusetzen hat als ein Handy in Schwarz-Weiß.