Gutachten sieht Grundrechte der Rezipienten in der digitalen Medienwelt gefährdet
Eine von den Grünen in Auftrag gegebene Analyse fordert die Politik stärker zur Wahrung des offenen Zugangs und der Informationsfreiheit im Kabelnetz auf
Der Staat muss im Machtkampf um die Ressourcenverteilung im digitalen Kabelnetz, der gerade im Streit über die vom Kartellamt mit großen Fragezeichen versehene Übernahme eines Großteil der Telekom-Altbestände durch den US-Konzern Liberty Media eskaliert, seinen Verpflichtungen als Hüter der demokratischen Grundordnung stärker Flagge zeigen. Das legt ein Gutachten zur "Regulierung des Zugangs zu Kabelnetzen im Zeitalter der Digitalisierung" den Politikern ans Herz, das die medienpolitische Sprecherin der Bündnisgrünen im Bundestag, Grietje Bettin, am Donnerstag in Berlin vorstellte.
Die 60-seitige Studie, die das Institut für Europäisches Medienrecht unter Leitung seines Direktors Alexander Roßnagel verfasst hat, hält in Fragen wie dem Verbraucherschutz, der Gewährleistung der Grundversorgung sowie der Informationsfreiheit der Rezipienten ein "Mehr" an Regulierung für angebracht und mahnt konkreten Handlungsbedarf an.
Vorrangiges Ziel staatlicher Regulierung in Bezug auf die Interessen der Allgemeinheit am Kabelnetzzugang muss es den Autoren des Gutachtens nach sein, "den pluralen Meinungsbildungsprozess über die Massenkommunikationsmittel zu fördern und zu schützen". Das habe das Bundesverfassungsgericht wiederholt verdeutlicht, indem es eine "positive Ordnung zur Gewährleistung von Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit des Programmangebots" eingefordert habe.
Rechtliche Grundlage für die Eingriffe in den Markt biete in Deutschland zum einen das Telekommunikationsgesetz (TKG), das die Regeln zur Bereitstellung und Entwicklung der Kommunikationsinfrastruktur und einer flächendeckenden Versorgung auslegt. Zum anderen würden im Rundfunkstaatsvertrag klare Verpflichtungen zum Grundrechtsschutz und zur Wahrung kultureller Werte getroffen. Im europäischen Rechtsraum dringe zudem neben der geplanten Universaldienstrichtlinie die Zugangsrichtlinie auf die Sicherung des Pluralismus im Bereich des Digitalfernsehens.
Interessenskonflikte
Der Handlungsbedarf in der entstehenden digitalen Medienwelt, als deren Rückgrat das Breitbandkabel gilt, leitet sich für die Rechtsexperten aus dem Zusammenstoß vielfältiger Interessen im Netzbereich ab. Die Ansprüche der Gruppen "Empfänger", "Rundfunkveranstalter und Inhalteanbieter", und "Allgemeinheit" am TV-Kabel seien dahin gehend konform, als dass sie sich auf einen möglichst offenen Netzzugang richten.
Die neuen Infrastrukturbetreiber hätten dagegen ein "starkes wirtschaftliches Interesse an einer gewinnbringenden Nutzung des Kabelnetzes". Sie würden sich daher nicht auf den reinen Transport von Diensten und Programmen beschränken, sondern auch selbst Inhalte produzieren wollen. Die bisherigen Anbieter fürchten daher, dass die Betreiber ihre Eigentümerstellung ausnutzen und die Auffahrten auf den digitalen Medienhighway nicht in ihrem Sinne kontrollieren.
Die Gutachter sehen aufgrund der geltenden Rechtslage allerdings eine klare Verpflichtung des Staates, in den Markt der Kabelübertragung einzugreifen und allen "Versorgern" einen chancengleichen Zugang zu allen Kabelnetzen zu gewähren. Konkret schlagen die Verfasser der Studie vor, den bestehenden "Must-Carry-Bereich" mit neuem Leben zu erfüllen.
Bislang muss nach § 52 des Rundfunkstaatsvertrags ein Drittel der Gesamtkapazität eines Netzes vom Betreiber "nach Vielfaltsgesichtspunkten" belegt werden. Dabei sollte dem Gutachten zufolge nun klargestellt werden, dass es sich dabei um netzbetreiberunabhängige Programme handeln müsse. Auf eine solche "Durchleitungspflicht" dringen bereits auch einzelnen Landesmedienanstalten sowie die FDP.
Eine Frage des Geldes
Auch die Kosten für die Nutzung der von den Anbietern versprochenen schönen neuen Welt des interaktiven Fernsehen, des Teleshoppings und des Homebankings vom TV aus darf für den Normalverbraucher nicht zu hoch liegen, sind sich die Verfasser der Studie und Grietje Bettin einig. "Von großem Interesse erscheint für die Allgemeinheit des Weiteren", heißt es in dem Gutachten, "dass der Zugang zu den Kommunikationsmitteln Rundfunk und Internet, unabhängig von ihrem Übertragungsweg für alle Interessierten Nutzer zu angemessenen Bedingungen verfügbar ist." Sozial schwache Gesellschaftsgruppen dürften nicht von vorneherein vom Meinungsbildungsprozess ausgeschlossen oder bei der Teilnahme daran benachteiligt werden. Zumindest für die öffentlich-rechtlichen Programme dürften außer einer zumutbaren Kabelanschlussgebühr keine weiteren Kosten in Rechnung gestellt werden.
Gleichzeitig machen sich die Medienrechtler für einen zügigen Ausbau der Kabelnetze auf 862 MHz stark. Nur dann könnten "300 oder mehr Kanäle zur Verfügung stehen", was gleichzeitig sicherstelle, dass aufgrund der hohen Content-Nachfrage "alle Veranstalter zu angemessenen Bedingungen berücksichtigt werden". Eine staatliche Notwendigkeit, sich für einen bestimmten Decoder-Standard wie die Multimedia Home Plattform (MHP einzusetzen, können die Gutacher im Gegensatz zu Politikern wie dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsident Kurt Beck allerdings nicht erkennen.
Da die Richtlinienentwürfe der EU bereits die Interoperabilität der zur neuen Medienwelt gehörenden Dienste - worunter insbesondere elektronische Programmführer (EPG) und Anwendungsprogrammschnittstellen (API) fallen - fest schreiben und die Einrichtung einer Gemeinsamen Stelle "Digitaler Zugang" (GSDZ vorgesehen ist, werde rein proprietären Systemen generell ein Riegel vorgeschoben. Der Rundfunkstaatsvertrag sollte im Anti-Diskriminierungsparagraphen 53 aber um Festlegung ergänzt werden, "grundsätzliche offene Standards nach dem jeweiligen Stand der Technik zu verwenden."
Grundversorgungsauftrag auch fürs Internet?
Umstritten ist dem Gutachten zufolge noch, ob beziehungsweise in welchem Ausmaß sich der Grundversorgungsauftrag der Rundfunkveranstalter auch auf Internetaktivitäten erstreckt. Lege man die Auffassung des Bundesverfassungsgericht zum Grundversorgungsauftrag zu Grunde und berücksichtigte man, dass es dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk im 6. Rundfunkurteil eine Bestands- und Entwicklungsgarantie zugesprochen hat, lasse sich die inhaltliche Ausweitung begründen.
Im Sinne der "Entwicklungsgarantie", nach der öffentlich-rechtlicher Rundfunk nicht auf den gegenwärtigen programmlichen, technischen und finanziellen Stand beschränkt werden dürfe, erscheine die Einbeziehung neuer Medien in die Aufgabenfelder öffentlich-rechtlichen Rundfunks zumindest "nicht abwegig".
Über gesetzgeberische Maßnahmen hinaus sind dem Europäischen Medieninstitut zufolge auch andere gesellschaftspolitische Handlungsoptionen denkbar beziehungsweise erforderlich: "Vor allem im Bereich des Verbraucherschutzes müssen Maßnahmen ergriffen werden, die geeignet sind, Benachteiligungen von Endkunden aufgrund fehlender Informationen zu vermeiden."
Um zu verhindern, dass die Konsumenten sich beispielsweise für unangemessen hohe Zeiten an einen bestimmten Netzbetreiber vertraglich binden oder unangemessen hohe Preise zahlen, sei eine intensivere Aufklärung der Bevölkerung und die Schaffung von mehr Markttransparenz notwendig.