Gute Presse, schlechte Presse

Fördert der neue Medienstaatsvertrag die Bekämpfung von Hass und Desinformation? Oder leistet er Zensur Vorschub? Warum wir an einem Scheideweg in der Mediendemokratie stehen

"Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen." So weit, wie in diesem, dem Philosophen Voltaire zugeschriebenen Zitat würde ich nicht gehen. Weder, um Hass und Hetze zu rechtfertigen, wie Voltaire das tat, noch, um das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung vor das auf Leben zu stellen. Auch nicht im Sinne des Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky, der im freigeistigen Sinne mit Blick eines Wissenschaftlers die Meinungsäußerung des Holocaustleugners Robert Faurisson verteidigte, ohne sie zu teilen.

Dass man die Verteidigung der Meinungsfreiheit jedoch als ein Sich-Gemein-Machen mit der inkriminierten und zurecht abgelehnten Meinung interpretiert, wie es Chomsky bis heute passiert, lehne ich ebenso ab. Sonst ist nämlich keine freie Meinungsäußerung mehr möglich, die ich auf jeden Fall auch für mich beanspruche – gerade auch, wenn ich mich rassismuskritisch äußere.

Kritisch-hinterfragende Diskurse brauchen eine Demokratie und Medien, die diese Diskurse ermöglichen und damit verbundenen Bewusstseinsprozesse. Das ist die klassische Aufgabe der vierten Gewalt.

Wer diese Funktion in den etablierten Medien nicht zufriedenstellend ausgefüllt fand, konnte über lange Zeit hinweg auf das Internet ausweichen – mit neuen Herausforderungen für die sachlich-faktische Beurteilung der Fundstücke und die Fragmentierung der Öffentlichkeit(en).

Einige Höhepunkte der Analyse und Recherche gab es, wie beispielhaft die Aufklärung über das gefälschte, weil sinnentstellend gekürzte Putin-Interview der ARD im Jahr 2008 oder die Aufdeckung des gefälschten Twitter-Mädchens aus Syrien, bei dem vielen Medien die Widersprüche nicht aufgefallen waren. Ebenso das Aufdecken von Lücken in der Datensicherheit im Gesundheitsnetzwerk bereits 2019.

Die Freiheit im Internet ist dennoch ambivalent. Nicht gehörte Stimmen finden Möglichkeiten der Artikulation, aber gleichzeitig zeugen die AGB großer Tech-Konzerne von der Bezahlung mit und Kontrolle von Daten. Google, Facebook & Co. etablierten die algorythmisierte Kommunikation. Wie die Film-Doku The Cleaners eindrücklich zeigt, sorgen die aus ökonomischen Gründen programmierten Algorithmen im Politischen für Verzerrungen bis hin zu Wahlfälschung und Völkermord.

Die Struktur im Netz ist nicht auf konstruktiv-kritische Auseinandersetzung ausgelegt - was demokratiefördernd wäre - sondern auf die Belohnung des Schrillwerdens, auf die Stärkung der Ränder. Ob hierin die Verleitung von eventuell einst als kritische "Gegenstimme" gestarteter Plattformen zu immer drastischeren Äußerungen liegt, wäre eine eigene Forschung wert.

Dass der Verweis aufs Internet als Hort von Manipulation und Desinformation ein Trick etablierter Medien ist, von eigenem Versagen abzulenken und sich damit ohne Nachweise selbst zu idealisieren, liegt auf der Hand.

Weder die Rundfunkräte der öffentlich-rechtlichen Anstalten, noch der Presserat als Selbstkontrollorgan der Presse erreichen eine zufriedenstellende Compliance und keinerlei nachhaltige Korrekturen. Die Nicht-Erfüllung der Sorgfaltspflichten, die nun bei einigen reichweitenstarken Online-Medien abgemahnt wird, bedroht die Mitglieder des Presserates nicht. Bis jetzt.

Der neue Medienstaatsvertrag hat es in sich

Seit dem 7. November 2020 ist der neue Medienstaatsvertrag in Kraft, der erstmalig auch die freien Online-Angebote mit in den Blick nimmt. Dort heißt es unter §19 Absatz 1:

Telemedien mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten, in denen insbesondere vollständig oder teilweise Inhalte periodischer Druckerzeugnisse in Text oder Bild wiedergegeben werden, haben den anerkannten journalistischen Grundsätzen zu entsprechen. Gleiches gilt für andere geschäftsmäßig angebotene, journalistisch-redaktionell gestaltete Telemedien, in denen regelmäßig Nachrichten oder politische Informationen enthalten sind und die nicht unter Satz 1 fallen. Nachrichten sind vom Anbieter vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit zu prüfen.

Weiter heißt es:

Anbieter nach Absatz 1 Satz 2, die nicht der Selbstregulierung durch den Pressekodex und der Beschwerdeordnung des Deutschen Presserates unterliegen, können sich einer nach den Absätzen 4 bis 8 anerkannten Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle anschließen. Anerkannte Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle überprüfen die Einhaltung der Pflichten nach den Absätzen 1 und 2 bei den ihnen angeschlossenen Anbietern. 3Sie sind verpflichtet, gemäß ihrer Verfahrensordnung nach Absatz 4 Nr. 4 Beschwerden über die ihnen angeschlossenen Anbieter unverzüglich nachzugehen.

Im Folgenden werden anerkannte Institutionen oder Möglichkeiten der Selbstregulierung genannt und eine Art Vorbehalt formuliert, der am Schluss des Paragrafen 19 unter Ziffer 8 folgendermaßen lautet:

Die zuständige Landesmedienanstalt kann Entscheidungen einer anerkannten Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle, die die Grenzen des Beurteilungsspielraums überschreiten, beanstanden und ihre Aufhebung verlangen. Kommt eine anerkannte Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle ihren Aufgaben und Pflichten nicht nach, kann die zuständige Landesmedienanstalt verlangen, dass sie diese erfüllt. Eine Entschädigung für hierdurch entstehende Vermögensnachteile wird nicht gewährt.

Das sind weitreichende Kompetenzen für die Landesmedienanstalten, deren Staatsferne immer wieder in Frage steht, etwa durch personelle Verschränkungen mit der Politik (z.B. im Saarland) und auch privaten Rundfunkanbietern (z.B. in NRW und Berlin).

Bisher sieht es so aus, dass die Landesmedienanstalten nicht tätig werden, wenn der Online-Anbieter sich einer Selbstkontrolle angeschlossen hat, was bei den abgemahnten Portalen, wie KenFM oder Blauer Bote, bisher nicht der Fall ist. Auf Anfrage an die Medienanstalt Berlin-Brandenburg, MABB Aufsicht, zur vorangestellten Frage erhielt Telepolis folgende Auskunft:

Sind die Maßstäbe die gleichen, wie bei anderen Presseorganen? Wie schließen die Landesmedienanstalten die Lücke zwischen selbstregulierten Medien (Stichwort: Presserat), die nur auf Beschwerde hin gerügt werden, und nicht regulierten Medien, die statt einer Rüge eine Sperrung (ohne Beschwerde) erhalten können? Auch mit Blick auf Bußgelder.
Medienanstalt Berlin-Brandenburg: Grundsätzlich hat im Bereich der journalistischen Sorgfaltspflichten - wie auch im Bereich der Print-Medien - die Selbstregulierung Vorrang. Die Landesmedienanstalten werden grundsätzlich nur dann tätig, wenn die betreffenden Angebote nicht der Selbstregulierung des Presserats unterliegen oder sich deren Anbieter nicht einer von den Medienanstalten anerkannten Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle angeschlossen haben.
Eine entsprechende Einrichtung gibt es aktuell allerdings noch nicht. Vorerst ist es damit zunächst Aufgabe der Medienanstalten, die vom Gesetzgeber erkannte Lücke zu schließen und die Anwendung etablierter journalistischer Regeln im Netz zu beaufsichtigen. Bei der Beurteilung journalistischer Sorgfalt orientieren sich die Landesmedienanstalten an den Richtlinien für die publizistische Arbeit nach den Empfehlungen des Deutschen Presserats.
Hierbei kann auf die Spruchpraxis des Presserats sowie auf die zivil- und strafgerichtliche Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Weitere Informationen zur journalistischen Sorgfalt können Sie unserem Merkblatt Journalistische Sorgfalt in Online-Medien entnehmen.

Diese ausführliche Zitation ist wichtig, weil hier betont wird, dass die Landesmedienanstalten eine Lücke füllen sollen, die zwischen regulierten Medien und Selbstkontrolle entstanden sei, sprich: Man wird nicht tätig, wenn sich Online-Medien einem Selbstkontrollorgan anschließen.

Die Möglichkeit des Urteils darüber, ob ergriffene Maßnahmen ausreichend sind, oder die Landesmedienanstalt weiter einschreite, hält aber der Medienstaatsvertrag ausdrücklich vor. Hier werden also die Anstalten zu Kläger und Richter gleichermaßen. Dabei sind sie Partei, denn die Mediennutzung tendiert eindeutig in Richtung Internet, wie die Mediengewichtungsstudie der Medienanstalten belegt – eine klare Konkurrenz-Situation im angespannten Medienmarkt.

Eine sich verselbständigende Dynamik

Geht man dem beigefügten Link in der Mailantwort der MABB nach, dann erhält man ein vierseitiges Merkblatt, herausgegeben von Dr. Wolfgang Kreißig, dem Vorsitzenden der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM), am 23. April 2021. Die aufgeführten Punkte - grafisch gestaltet wie für Schüler - gelten allgemein, werden jedoch hier gesondert für Online-Medien aufgeführt. Und auf Seite zwei ganz unten heißt es:

Zusammengefasst: Erfasst sind also zwei Arten journalistisch-redaktionell gestalteter Telemedienangebote. Solche, die insbesondere Inhalte klassischer Presse wiedergeben und solche, in denen regelmäßig Nachrichten oder politische Informationen enthalten sind - wenn diese geschäftsmäßig angeboten werden. Keine Nachrichten sind Aussagen und Meinungen, die als solche transparent gemacht sind und erkennbar nicht darauf gerichtet sind, den Nutzer zu informieren.

Die bei KenFM, dem Webauftritt des ehemaligen und in Ungnade gefallenen rbb-Moderators Ken Jebsen, abgemahnten Beiträge sind ausnahmslos Meinungsbeiträge und unterliegen demnach eigentlich nicht der Aufsicht, wie aus den verlinkten Anwaltsschreiben auf dem Portal kenfm.de nachzulesen ist. Dennoch hat man Belege beigebracht, diese wurden jedoch nicht anerkannt und Jebsen nun neuerdings vorgeladen, um zur fehlenden Sorgfalt Auskunft zu geben.

Man muss Jebsens Einlassungen zur Corona-Krise nicht teilen, um die Brisanz der Möglichkeiten durch die Funktionsverschränkung zu erkennen: wenn Staatsanwaltschaft und Richteramt in einer Institution gebündelt werden. Wie sich das neue Gebaren dann noch auf den sonst üblichen und vielfach verteidigten Quellenschutz für Zuträger heikler Informationen an Journalisten – also Whistleblower – auswirken könnte, wurde m.E. bisher noch in keiner Berichterstattung erörtert.

Die kritisierten Beiträge bei KenFM thematisieren ausnahmslos die Corona-Politik, was auch auf die abgemahnten Beiträge des Blauen Boten durch die Landesmedienanstalt Baden-Württemberg zutrifft. Auf Telepolis-Nachfrage, ob sich alle Abmahnungen ausschließlich auf die Covid-19-Pandemie beziehen, erteilte die MABB keine Auskunft.

So notwendig Qualitätskontrolle im Internet auch ist, hier könnten Konstruktionsfehler in der Aufsicht erste Hinweise auf weitere Eingriffsmöglichkeiten von staatlicher Seite geben - etwas, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinen die Staatsferne anmahnenden Urteilen zu Medienfragen immer besonders kritisch beäugt hat. Die Leiter der Landesmedienanstalt NRW und Berlin-Brandenburg, Tobias Schmid und Eva Flecken, äußern sich im Evangelischen Pressedienst am 7. Mai 2021 folgendermaßen zur Problematik:

Zunächst einmal gilt, dass sich die Landesmedienanstalten weder als Wahrheitspolizisten noch als Geschmacksdompteure verstehen. Unser gesetzlicher Auftrag ist nicht, die Wahrheit der Veröffentlichungen zu überprüfen, sondern das publizistische Handwerk. Weder müssen journalistisch-redaktionelle Angebote ausgewogen sein, noch untersuchen wir, ob die Darstellungen inhaltlich richtig oder falsch sind. Vielmehr geht es um die Art und Weise, wie journalistisch Publizierende arbeiten: Haben sie Herkunft und Quellen geprüft, Tatsachen nicht aus dem Zusammenhang gerissen, Umfragen auf ihre repräsentative Natur geprüft? Diese Fragen zeigen, dass es im Kern um Transparenz für die Nutzerinnen und Nutzer geht. Haben die Nutzenden eine Chance zu erkennen, um was für ein Angebot, was für einen Inhalt es sich handelt und vor welchem Hintergrund die Nachricht entstand?

Inwiefern das umgesetzt wurde, mag man selbst kritisch prüfen und wäre vor allem allen Journalisten empfohlen. Während sich anscheinend einige politisch Kurzsichtige über die Abmahnungen freuen, akzeptieren sie eine wichtige Prämisse, die immer schon der Anfang vom Ende der Medienfreiheit war: Die Einteilung in gute und böse Journalisten, in richtigen und falschen Journalismus, in Journalismus vs. Blogger-Aktivismus usw. Wenn diese Kategorisierung einmal akzeptiert ist, könnte man sich eines Tages durch eine unliebsame Recherche plötzlich auf der anderen Seite wiederfinden. Paragraph 19, Ziffer 8 MStV hält da Möglichkeiten offen.

"Eine Zensur findet nicht statt"

Erinnert sei an das im Grundgesetz Artikel 5, Absatz 1 verbriefte Grundrecht:

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Aber nicht nur die mit der Regulierung beauftragten Landesmedienanstalten, die nun also erstmalig für den privaten Rundfunk und die digitalen Medien – also auch für die Konkurrenz der eigenen Auftraggeber – zuständig sind, bedrängen bestimmte, nach ungeklärten Kriterien ausgewählte Online-Portale.

Auch die großen Internetgiganten, allen voran Google, tragen dazu bei. Dabei ist interessant, warum Google auf seinem Youtube-Kanal einen reichweitenstarken Player wie KenFM abschaltet, der für das eigene Geschäftsmodell eigentlich von Vorteil ist - mit einer eigenen Reichweite von einst 500.000 Abonnenten, wovon immer wieder Beiträge viral gingen. Sonst profitiert man ja, denn je aufgeregter kommuniziert wird, desto mehr generieren die Plattformen Traffic und damit Werbeeinnahmen.

Gerade Google verdient eine eigene Betrachtung. Schließlich ist mindestens aus dem Film The Cleaners bekannt, dass der Internetgigant mit repressiven Staaten - wie beispielsweise der Türkei - Deals abschließt und Zensur akzeptiert, um im Land nicht ganz gesperrt zu werden. So finden sich in der Google-Suchmaschine der Türkei vorrangig nicht kritische Beiträge über Staatspräsident Erdogan. Die "Cleaners", also die Content-Moderatoren, erhalten entsprechende Löschanweisungen. Es müssen aber nicht zwingend staatliche Institutionen sein, die auf B2B-Ebene mit dem Internet-Giganten Kooperationen abschließen.

Bei den von Google/Youtube angemahnten Beiträgen von KenFM handelte es sich wiederum um das Thema Covid-19. Deshalb liegt der Verdacht nahe, dass das Vorgehen eine direkte Folge der Kooperation des Gesundheitsministeriums mit Google sein könnte - eine Kooperation, die laut Landgerichtsurteil aus München gegen kartellrechtliche Bestimmungen verstößt.

In diesem Kontext hatte die Landesmedienanstalt Schleswig-Holstein ihrer Kontrollfunktion gemäß von Google und dem Gesundheitsministerium Transparenz gefordert und darauf hingewiesen, dass algorithmisch bevorzugte Inhalte zu Covid-19 auf dieser Kooperation beruhen könnten. Dies berge die Gefahr, dass folglich die Suchergebnisse nicht garantiert dem wissenschaftlichen Sachstand in der Pandemie Rechnung trügen. Die Medienanstalt Hamburg/SH forderte, dass Google mindestens seine Algorithmen offenlegen und transparent machen müsse, wie die angezeigten Suchergebnisse zustande kommen, um diese einschätzen zu können.

Gleichzeitig wirft der Sachverhalt die Frage auf, ob die Durchschlagskraft einer Landesmedienanstalt ausreicht, wenn der juristische Weg zu einer klareren Verfügung führt.

Wie die Vorgängerin der aktuellen Leitung der MABB, Anja Zimmer, in einem Gastbeitrag der FAZ am 17. Februar 2021 ausführt, gehe es im Wesentlichen um zwei Komponenten bei der Umsetzung der Desiderate des Medienstaatsvertrags.

1. Transparenz bei den algorithmischen Empfehlungssystemen der Medienintermediäre, also der digitalen Player;

2. Transparenz im Hinblick auf den Absender.

Während betont wird, dass im Netz die gleichen Maßstäbe für Sorgfaltspflicht und Kontrolle gegen Desinformation herrschen müssten, wie in der analogen Medienwelt, wird ein Widerspruch nicht aufgelöst: Wer sich einem Selbstkontrollorgan anschließt, entgeht dem strengen Auge der Landesmedienanstalten auf Basis des §19 MStV und damit auch der Sanktionsmöglichkeit von hohen Zwangsgeldern oder gar einer Sperrung des Online-Angebots. Während sich also Springers BILD weiterhin die Verletzung der Sorgfaltspflicht oder die Untugend der Verdachtsberichterstattung aufgrund einer nicht bedrohlichen Rüge des Presserates leisten kann, geht ein entsprechendes Verfahren bei nicht regulierten Online-Medien direkt an die Existenz.

Ob es diesen gelingt, sich einem Selbstkontrollorgan anzuschließen, wäre nun ein interessantes Experiment. Als letzter Ausweg bleibt eventuell nur der Verlagerung ins Ausland, womit internationale Medienkonzerne bisher sehr erfolgreich waren beim Umgehen von Regulierungsversuchen und Steuerzahlungen.

Dass die enorme Marktmacht der IT-Goliaths reguliert werden muss, ist hingegen offensichtlich. Dass Google beispielsweise eigene Angebote bevorzugt als Suchergebnis anbietet, sorgt für eine erhebliche Schieflage im wahrnehmbaren öffentlichen Diskurs. Die Regulierungsbestrebungen könnten aber ganz banal an der Frage der Zuständigkeit scheitern. So wartet die Umsetzung einer Regulierung der großen Internetkonzerne - der "Medienintermediäre" - wie im neuen Medienstaatsvertrag gefordert, auf das "Digitale-Dienste-Gesetz" der EU-Kommission, das für eine europaweit einheitliche Regelung sorgen soll.

Ob dann künftig solche Public-Private-Partnership-Kooperationen - wie am Beispiel des Gesundheitsministeriums aufgezeigt – und wie sie auch über Correctiv und Arvato mit Facebook bestehen, nicht mehr existieren dürfen oder zumindest einer kritischen Kontrolle unterliegen, bleibt abzuwarten.

Präzedenzfälle als Prüfstein für die Medien- und Meinungsfreiheit

Nein, man muss die Meinung Ken Jebsens nicht teilen, nicht die des Blauen Boten und schon gar nicht von Deutschland-Kurier oder Flinkfeed, um einen kritischen Blick auf das aktuelle Vorgehen der Landemedienanstalten zu richten. Sie selbst handeln intransparent bei der Auswahl der beanstandeten Webportale. Dass es bei der Corona-Berichterstattung auch wissenschaftlich fundierte Kritik gibt, belegt eine Studie der Universität Passau. Den Schweizer Medien stellt die Universität Zürich ein besseres Zeugnis aus. Dass Netzsperren allgemein aufhorchen lassen sollten, sogar im Falle Donald Trumps, erläutert ein Münchner Medienanwalt im Schweizer Online-Medium Infosperber.

So berechtigt die Sorge um eine konstruktive Nutzung des Internets auch ist, so wenig sind Desinformation und viele zurecht inkriminierte Themen – wie Hassrede, Bedrohung und Silencing von in der Öffentlichkeit Tätigen und Fake-News – ein Spezifikum des Internets. Das lange erhoffte und von Polizei sowie Staatsanwaltschaften vielfach verpasste aktive Vorgehen gegen Offizialdelikte, wie Hatespeech und direkteren Aufrufen zu Straftaten sollte nicht den Blick auf die Potenziale verstellen, die in dem neu implementierten Vorgehen stecken.

Stets wurde mit anschlussfähigen Themen, wie etwa Kinderpornografie, versucht, weitergehende Zensurmaßnahmen festzuschreiben jenseits des Rechtswegs - was einst der heutigen EU-Präsidenten Ursula von der Leyen den Schmähtitel "Zensurula" einbrachte. Durchaus obliegt es dem Staat, bei Fragen des Jugendschutzes und Volksverhetzung juristisch gegen Medien einzuschreiten – statt dies an andere Stellen auszulagern.

Während nun Reporter ohne Grenzen Deutschland (ROG) für das Jahr 2020 im weltweiten Ranking bezüglich des Zustands der Pressefreiheit herabgestuft, fokussierte die NGO für journalistische Freiheit besonders die verstärkten Angriffe auf Journalisten bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen. Weniger im Blick scheint, dass staatliche Organe, wie beispielsweise die Polizei, es nicht selten versäumten, Journalisten bei der Ausübung ihres Berufs zu schützen. Optimistisch zeigte sich ROG mit Blick auf das Verfassungsgerichtsurteil gegen die BND-Überwachung der Internetkommunikation von Journalisten vom Mai 2020.

Inzwischen gibt es Kritik an der Neufassung des Gesetzes vom März 2021, weil auch dieses wiederum Pressefreiheit und Informantenschutz bedroht. Hier bietet sich ein Ansatz, die Bedrohung des Journalismus in der Digitalisierung genauer unter die Lupe zu nehmen.

Wir dürfen gespannt sein, ob ROG im Bericht für 2021 auch die Angriffe auf in Ungnade gefallene Journalisten und Blogger von Online-Medien mitzählen wird. Ken Jebsen hat mit Kind und Kegel das Land verlassen. Nach der Veröffentlichung seiner Adresse durch den Spiegel, tauchten nicht nur Demonstranten vor seinem Privatwohnsitz auf, sondern auch prügelwütige Aktivisten beim Einkauf im Bioladen, wo er mit seinen Kindern zur Zielscheibe wurde. Das Gebaren des Spiegels erinnert an das des Focus 2014, als dieser die Adresse des GDL-Vorsitzenden Weselsky veröffentlicht hatte. Welche Relevanz eine solche Information haben soll, außer dass sie Druck und Gefahr, für die in der Öffentlichkeit Tätigen hat, ist ja einschlägig aus anderen Kontexten rund um die NSU-Anwälte der Nebenkläger und nicht wenige Journalisten bekannt. Ein Beitrag zur Medien- und Meinungsfreiheit ist das sicherlich nicht.

Der neue, auf privater Initiative basierende, Medienkodex zum Schutz für Journalisten dürfte hier nicht greifen, denn er richtet sich primär an Medienhäuser und schützt wohl weniger freie Journalisten. Die Frage ist, ob es gelingt angesichts aufgeheizter Debatten um neuralgische Themen und Personen das einerseits intransparente und andererseits noch nicht rechtsbewehrte Vorgehen der Landesmedienanstalten, sowie das zeitgleiche Abschalten von Online-Kanälen, Apps und Messengern durch Internetprovider kritisch und mit einem sehr wachen Auge zu betrachten.

Denn es dürften wichtige Weichenstellungen für die Zukunft von Pluralismus und Medienfreiheit sein. Schützenhilfe erhalten die Landesmedienanstalten - oder umgekehrt? - vom Verfassungsschutz. Der des Landes Berlin nimmt nun KenFM aufs Korn, wie das Rechercheteam Florian Flade und Georg Mascolo berichten. Am Ende ihres Beitrags merken Sie nachdenklich an: "Der Verfassungsschutz müsse außerdem im Bereich von Medien besonders sensibel agieren. Mangelnde Qualität in der Berichterstattung könne beispielsweise kein Grund für eine Überwachung sein."

Wenn dieses Vorgehen Schule macht, dann steht auch für die, die sich jetzt auf der richtigen Seite wägen, als Frage unweigerlich im Raum: Who is next?

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