Haben die "Querdenker" mitgeschossen?
Über eine Verdachtsberichterstattung, der Linke und Liberale sonst immer widersprochen haben
Der tödliche Schuss auf einen Tankstellenkassierer in Idar-Oberstein ist schon längst ein Politikum. Schließlich stellte sich schnell heraus, dass der Täter von seinem späteren Opfer zunächst auf die Maskenpflicht hingewiesen wurde, worauf er die Tankstelle verließ und nach knapp 90 Minuten mit einer Waffe zurückkehrte. Er schien die Tat geplant zu haben, denn er hatte beim zweiten Besuch zunächst eine Maske angezogen, die er vor der Kasse absetzte.
Als ihn der Kassierer darauf erneut auf die Maskenpflicht ansprach, schoss er sofort. Klar stand dann die Frage im Raum, wer der Täter ist und welche politischen Verbindungen er hatte. Zunächst hieß es, er sei bisher politisch nicht auffällig gewesen und auch dem Verfassungsschutz nicht bekannt gewesen.
Welche Rückschlüsse lässt das Twitter-Profil des Täters zu?
Mittlerweile wurde sein Twitter-Profil ausgewertet, was wenig überraschende Ergebnisse zeitigte. Da hat er AfD-Politiker geliket, mal Donald Trump gelobt und auch mal den menschengemachten Klimawandel geleugnet. Alles sicher nicht besonders sympathisch, doch welche Rückschlüsse lässt ein solches Twitter-Profil zu?
Für manche scheint die Antwort schon festzustehen. Sie sehen in der Tat ein weiteres Argument dafür, "warum man Hass melden und nicht liken soll. Natürlich braucht man nicht erst einen Mord anzuführen, um zu begründen, warum man Rechte nicht liken sollte. Doch fragen, was sich aus einem Twitter-Profil ableiten lässt, sollte man schon. Ist es nicht eine Sackgasse, jetzt wieder einmal noch mehr Überwachung des Internets und noch mehr gelöschte Accounts zu fordern? Zumindest Linke und Liberale sollten sich fragen, ob ihnen nach einer solchen Bluttat nicht mehr einfällt, als nach mehr staatlichen Verboten und Reglementierungen zu rufen.
Zudem hat es den Anschein, als würden manche gleich alle Kritiker der Corona-Maßnahmen für die Bluttat mitverantwortlich machen. So wird in der Online-Ausgabe der Zeit unter der Überschrift "Es war nur eine Frage der Zeit, bis so etwas passiert" ein Interview mit der SPD-Bürgermeisterin von Simmertalveröffentlicht. Der Ort, der nicht weit von Idar-Oberstein entfernt liegt, war in den letzten Monaten häufiger Schauplatz von Demonstrationen der Corona-Maßnahmenkritiker. Mehrmals erklärte die Politikerin, dass die "Querdenker"-Bewegung sich radikalisiert habe.
In dem Kontext des Interviews wird nahegelegt, dass der Mord von Idar-Oberstein dann die letzte Folge dieser Radikalisierung gewesen sei, dass also zumindest die "Querdenker" von Simmertal mitgeschossen haben. Dabei bleibt allerdings unklar, ob der Täter eine Rolle bei der Organisation der "Querdenker"-Proteste in dem Ort spielte. Ob er überhaupt dort anwesend war, wird zumindest an keiner Stelle erwähnt.
Die Radikalisierungsthese wäre in diesem Zusammenhang aber nur dann plausibel, wenn es einen Nachweis gäbe, dass der Täter von Idar-Oberstein sich in der Protestszene von Simmertal beteiligt hat. So konnte man an der bekannten Kerntruppe des NSU nachweisen, dass sie sich in den 1990er-Jahren in der rechten Szene Thüringens radikalisiert hatte.
Nicht auf das Niveau der Rechten der 1970er-Jahre begeben
Eine solche Beweisführung braucht es auch im Fall Idar-Oberstein. Ansonsten bewegt man sich auf dem von Linken und Liberalen immer mit Recht kritisierten Niveau von Konservativen und Rechten, die nach den Anschlägen der "Roten Armee Fraktion" (RAF) in den 1970er-Jahren allzu schnell behaupteten, Linke und Liberale, die sich für den Aufbruch von 1968er eingesetzt und auch Gewalt gegen Sachen dabei verteidigten, hätten quasi mitgeschossen.
Linke und Liberale haben diese Verdachtslogik damals mit Recht zurückgewiesen. 1987 wiederum erschütterten die Schüsse an der Startbahn-West des Flughafens Frankfurt am Main die Bundesrepublik und auch die Linke. Da der Täter, der zwei Polizisten erschoss, aus den Reihen der Startbahn-Gegner kam und die Tat nach einer der Protestveranstaltungen passierte, schien für viele Medien und auch die Ermittlungsbehörden schnell klar, ein Großteil der Bewegung gegen die Starbahn West habe mitgeschossen. Eine große Kriminalisierungswelle war die Folge. Doch bald stellte sich heraus, dass die Schüsse auf die Polizisten von einer kleinen Gruppe von Startbahn-Gegnern ausging, die keine Unterstützung auch unter den radikaleren Aktivisten der Bewegung hatten.
Selbst wer Gewalt gegen Sachen an der Startbahn West propagierte, lehnte in der Regel Gewalt gegen Personen ab. Solche historischen Reminiszenzen sollte man nicht vergessen, wenn nach den Schuss in Idar-Oberstein jetzt manchmal der Eindruck erweckt wird, die "Querdenker" hätten doch mitgeschossen. Auch hier sollte man genauer hinschauen. Es gibt sicherlich viel berechtigte Kritik an der oft irrationalen "Querdenker"-Bewegung. Aber der Beweis, dass diese nun die Bluttat zu großen Teilen begrüßen würde, ist nicht erbracht. Daher sollte auch nicht vorschnell der Eindruck erweckt werden.
Gerade Linke und Liberale sollten noch mal die Kritik nachlesen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren gegen Positionen vorgebracht hatten, die in allen Kritikern der herrschenden Verhältnisse verkappte RAF-Sympathisanten ausmachen wollten. Diese Erinnerung soll nicht als Verteidigung der "Querdenker"-Bewegung, sondern als Plädoyer gegen vorschnelle Urteile verstanden werden.
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