Hässliche Flecken auf der Landkarte
Wie die Wahlen der vergangenen Monate zeigen, konnten sich Rechtspopulisten in zahlreichen Staaten etablieren. Sie profitieren von einer Krise der parlamentarischen Demokratie - und verstärken diese
Am Tag danach macht sich Erleichterung breit. Man hat Schlimmeres befürchtet. "Belgien atmet auf", schreibt Béatrice Delvaux, Chefredakteurin des liberalen "Soir" im Editorial ihrer Zeitung. Der Vlams Belang "wird nicht an die Macht kommen... Sein Aufstieg ist kein Schicksal". Soeben haben die Rechtspopulisten bei den Kommunalwahlen im Norden des Landes nochmals um 4,4 auf 15 Prozent zugelegt, sind mancherorts gar stärkste Kraft geworden. Die Partei propagiert, den flämisch-sprachigen Teil Belgiens von der Wallonie zu trennen, in der das Französische dominiert. Ansonsten fällt sie durch Hetze gegen Migranten, vor allem gegen jene muslimischen Glaubens, auf.
Die Freude der liberalen Belgier resultiert aus zwei Umständen: Die Ultrarechten sind weniger stark gewachsen als befürchtet, und sie haben ihre bisherige Hochburg Antwerpen an die Sozialisten verloren. Wie ist es um die politische Kultur in Europa bestellt, wenn so wenig schon Erleichterung provoziert?
Die separatistischen Forderungen des Vlams Belang (bis 2004: Vlams Blok) mögen ein lokales Phänomen darstellen, doch die Ergebnisse des belgischen Urnengangs sind exemplarisch für Europa: Rechtspopulismus gehört seit Anfang der Neunziger zur politischen Landkarte des Kontinents.
1994 gewinnt Silvio Berlusconi die italienischen Parlamentswahlen, erstmals stellt eine rechtspopulistische Formation, zumindest kurzfristig, die Regierung. Sechs Jahre später bricht in Wien Wolfgang Schüssel von der konservativen ÖVP ein Tabu: Die rechtspopulistische FPÖ Jörg Haiders darf als Juniorpartner auf den Regierungsbänken Platz nehmen. Die EU verhängt daraufhin für einige Monate Sanktionen gegen Österreich. 2001, als Berlusconi ein zweites Mal in Rom Einzug hält, wird die Union auf einen solchen Bann verzichten. Und auch die Rechtsregierungen des Jahrgangs 2006 in Polen und der Slowakei werden in Brüssel kaum mehr als ratloses Schweigen provozieren.
Seit Jahren hoffen Beobachter wie politisch Handelnde, der Rechtspopulismus werde ein regional begrenztes Phänomen bleiben. Seine Versprechungen, glaubt man, würden sich selbst entlarven. Noch Anfang September 2006 kommentierte der Soziologe Ralf Dahrendorf:
Die Mehrheit [rechtspopulistischer Regierungspolitiker] hält nicht lange durch. Wenn sie sich auf den Wahlkampf einlassen, verschwinden sie fast so schnell, wie sie aufgetaucht sind.
Doch die Wahlen der vergangenen Monate sprechen eine andere Sprache: In einigen Staaten West- und Zentraleuropas ist die populistische Rechte zur festen Größe geworden. Silvio Berlusconi musste sich Anfang April zwar von der Macht verabschieden, die Forza Italia bleibt aber die stärkste Einzelpartei. Die österreichischen Rechten verbuchten trotz ihrer Spaltung in FPÖ und BZÖ zusammen über 15 Prozent - davon 11 Prozent für die FPÖ, die sich rhetorisch drastischer gibt als Haiders BZÖ. Und die vermeintliche Niederlage des Vlams Belang besteht darin, drittstärkste Kraft in Flandern geworden zu sein. Manche hatten ihn schon auf den Plätzen eins oder zwei gesehen.
In Ost-Mitteleuropa meldeten sich rechte Populisten in den vergangenen Monaten mit Paukenschlägen zu Wort: In Polen war Andrzej Lepper von der Bauernpartei Samoobrona bis vor kurzem an der Rechtskoalition der Brüder Lech Kaczyński beteiligt. Nach der Trennung suchte man jedoch Neuwahlen zu vermeiden und erneuerte so die Regierungskoalition wieder. Die slowakische Smer um Regierungschef Robert Fico amalgamiert soziale Rhetorik mit autoritären und rechten Tendenzen (und steht folgerichtig kurz vor dem Ausschluss aus der Sozialistischen Internationalen). Mit rassistischer Hetze gegen ethnische Minderheiten hofft in Bulgarien Volen Siderov, der Chef der rechtspopulistischen Ataka, Ende Oktober die Stichwahl ums Präsidentenamt zu erreichen. Umfragen zufolge stehen seine Chancen gut.
Anderswo konnte sich der Rechtspopulismus schon länger festsetzen, etwa in Gestalt des französischen Front National oder der Schweizerischen Volkspartei - sie verbuchte bei den Parlamentswahlen 2003 über 26 Prozent der Stimmen.
Mit Versprechen auf Sicherheit und Stabilität ködern Rechtspopulisten ihr Potenzial vor allem unter denjenigen, die Angst vor dem Abstieg haben
Verwundern kann der Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte kaum. Sie schöpfen aus einem reichhaltigen Potenzial, sie bedienen sich einer geschickten Kommunikationsstrategie und sie bestellen den Boden, den die etablierten Parteien bereitet haben.
In Ländern wie Deutschland, Österreich und Frankreich liegt der Anteil überzeugter Rechtsextremisten jeweils bei etwa 15 Prozent der Bevölkerung. Aggressiv auftretenden neofaschistischen Parteien gelingt es kaum einmal, dieses Reservoir auszuschöpfen: Der rechtsextreme Biedermeier macht sein Kreuz eher bei Christ- und Sozialdemokraten (ob die jüngsten Zugewinne der NPD in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern diesem Trend widersprechen, bleibt abzuwarten). Rechtspopulisten treten geschickter auf: mal lebemännisch wie Pim Fortuyn, mal bürgerlich-wohlanständig wie Ronald Schill, mal als gutgelaunter Selfmademan wie Silvio Berlusconi - und auch als polternder Volkstribun wie Jean-Marie Le Pen. Ihre durchaus vorhandenen Sympathien für den historischen Faschismus tragen sie nicht offensiv zur Schau.
Rechten Populismus und neuen Faschismus trennt aber noch mehr. Neonazis wie die NPD stehen auf dem Boden einer festen Ideologie. Der rechtspopulistischen Agenda hingegen verleihen nur eine wenige wiederkehrende Punkte Stabilität, vieles andere ist austauschbar. Rassistische Hetze gegen Migranten, das Verunglimpfen der jeweiligen Regierung als der Bevölkerung entfremdete Bürokraten und das Versprechen, alle denkbaren Unsicherheiten mit harter Hand zu beseitigen - dies bildet den Kern rechtspopulistischer Agitation.
Sicherheit und Stabilität - damit lässt sich bei Manchem punkten, der sich vom Rückbau der sozialen Sicherungssysteme, durch Massenarbeitslosigkeit und ökonomische Krise bedroht sieht. Nicht die Arbeitslosen und Ausgegrenzten bilden - wie häufig behauptet - die hauptsächliche Gefolgschaft der Rechtspopulisten. Ihren Zuspruch verdanken sie vielmehr denen, die noch etwas zu verlieren haben und um ihren sozialen Status bangen: vom kleinen Handwerker über den Künstler bis zum Unternehmenschef. Sie gehören oft nicht zum harten rechtsextremen Kern, sondern fallen unter den diffusen Begriff "Protestwähler". Einer Untersuchung der Uni Bielefeld zufolge, können Rechtspopulisten in Deutschland mittlerweile bis zu 26 Prozent der Bevölkerung erreichen.
Dieses Phänomen lässt sich in reichen Regionen Westeuropas beobachten, wo besonders Migranten zur Zielscheibe des Wohlstandschauvinismus werden: Nicht umsonst gewannen Rechtspopulisten in den vergangenen Jahren in wohlhabenden Städten wie Hamburg und Rotterdam an Einfluss. Ähnliche Tendenzen finden sich aber auch in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern der EU, die verstärkt unter den Zumutungen einer neoliberalen Ökonomie zu leiden haben. "Die Bevölkerungen dort haben die Reformen satt", sagt Jean-Michel De Waele von der Freien Universität Brüssel.
Schwächen der parlamentarischen Demokratie stärken Rechtspopulisten
Die etablierten Parteien haben bislang vorzugsweise mit zwei Strategien auf die Konkurrenz von rechts außen reagiert. In Belgien etwa sind sie übereingekommen, keine Koalition mit dem Vlams Belang einzugehen. Bis heute hält der so bezeichnete "Cordon Sanitaire". Das dürfte allerdings wesentlich an den separatistischen Forderungen der rechten Flamen liegen; denn in kaum einem anderen Land sind die Rechtspopulisten in ihrer kurzen Geschichte dauerhaft ausgegrenzt geblieben.
Zumeist wurden die rechten Populisten mit der Zeit für regierungsfähig erklärt: Wolfgang Schüssels Beispiel folgten etwa die Hamburger, die niederländischen und dänischen Christdemokraten und jüngst die rechtskonservative PiS in Polen. Oft verbrämen konservative Regierungschefs diese Entscheidung damit, die Rechtspopulisten seien so am besten zu "entzaubern". In Hamburg mag das funktioniert haben, in Österreich provozierte es immerhin die Spaltung der FPÖ - aber bei weitem nicht den Untergang des organisierten Rechtspopulismus. Berlusconis Regierung hielt gar eine volle Legislaturperiode durch (was in Italien selten vorkommt) und verlor die folgenden Wahlen denkbar knapp.
Ohnehin sind die Grenzen zwischen liberaler Demokratie und rechtem Populismus nicht so klar markiert, wie es den Anschein hat. Vielfach haben die etablierten Parteien den Boden bereitet, in dem die rechtspopulistische Saat gedeiht: Auch Sozial-, Christ- und Liberaldemokraten betreiben den Abbau von Bürgerrechten im Namen der inneren Sicherheit und unterscheiden sich darin oft nur noch graduell von Rechtspopulisten. Im konservativen Spektrum wird das gar als Strategie gegen rechts gehandelt. So schreibt Florian Hartleb in einer Studie für die Konrad-Adenauer-Stiftung:
So schaffte es die Newcomer-Partei [von Ronald Schill] nach ihrem Hamburg-Erfolg nur für kurze Zeit, das Politikfeld der Inneren Sicherheit zu 'monopolisieren'. Die etablierten Parteien reagierten wegen des möglichen Ausgreifens auf die bundespolitische Szene schnell. Prominente Politiker wie Otto Schily und Günther Beckstein verfolgten bundespolitisch rasch eine strikte Law-and-Order-Linie.
Ähnliches gilt für die Migrationspolitik: Die Art, wie Europa seine Grenzen militärisch gegen Flüchtlinge aufrüstet, müssen Rassisten als Bestätigung begreifen. Rechtspopulisten gelingt zudem das Kunststück, das Unbehagen an einem neoliberalen Europa zu bedienen, ohne selbst anti-neoliberal zu sein.
Wen oder was bedroht der europäische Rechtspopulismus also? Zuerst gefährdet er die politische Kultur. Der Politikwissenschaftler Michael Ehrke schreibt:
Der rechte Populismus erweitert den Raum möglicher politischer Urteile, indem er offen oder verdeckt nicht-demokratiekompatible (etwa rassistische) Aussagen salonfähig macht. (...) Es sei an die Analysen erinnert, die Norbert Elias zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Milieu deutscher Verbindungsstudenten vornahm: Die gezielte Brutalisierung der Sprache und des Verhaltens führte nicht auf geradem Wege in den Nationalsozialismus, schuf aber bei der jungen deutschen Elite die kollektiven Dispositionen, die vom Nationalsozialismus als Rohstoff genutzt werden konnten.
Die Propaganda der Rechtspopulisten schürt ein Klima, in dem sich die Mauern der Festung Europa noch ein wenig höher bauen lassen. Sie präsentiert Migranten als "inneren Feind".
Der Rechtspopulismus profitiert zudem von einer Krise der parlamentarischen Demokratie und verschärft sie noch. Unter neoliberalen Bedingungen verwischen die Unterschiede zwischen den Parteien. Vielen gilt Politik zunehmend als Verhandlung innerhalb elitärer Zirkel. Sie erwarten sich nichts mehr von ihr und fühlen sich weder vertreten noch ernst genommen. Die sinkenden Wahlbeteiligungen sind ein augenfälliges Indiz dafür. Die etablierten Parteien tragen das ihrige dazu bei. Gerhard Schröders Kanzlerschaft etwa zeichnete sich durch eine kaum verhohlene Verachtung demokratischer Verfahrensweisen aus: Reformen wurden in Gremien vorbereitet, die nicht gewählt, sondern ernannt waren, und dann im Parlament durchgepeitscht. Schröder kokettierte damit, Politik nicht über die Basisorganisationen seiner Partei zu vermitteln, sondern über "Bild und Glotze".
Auf die vorhandene Selbstabschottung der politischen Klasse antwortet der Rechtspopulismus mit dem Ruf nach dem charismatischen Leader. Er könne die Interessen der Bevölkerung "authentisch" gegen "Die-da-oben" vertreten. Die rechtspopulistischen Bewegungen selbst sind autoritär strukturiert und legen keinen Wert auf innere Demokratie. Berlusconis Forza Italia etwa besteht nicht aus Ortsgruppen und Basisorganisationen, in denen debattiert wird und wo Meinungsbildung stattfindet, sondern aus "Clubs". Die Organisation gleicht stärker einem Unternehmen denn einer Partei. Nach diesem Verständnis pflegte der Cavaliere Italien zu regieren.
Wo im Interesse einer notwendigen weiteren Demokratisierung der Gesellschaft Selbstorganisation und starke soziale Bewegungen gefragt wären, befördern die Rechtspopulisten also den Autoritarismus.