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Haftbefehl: Putin – Allein zu Haus

Nur noch eingeschränkt reisefähig: Wladimir Putin. Bild: kremlin.ru

Internationaler Strafgerichtshof schreibt russischen Präsidenten zur Fahndung aus. Wirkkraft der Anordnung bleibt unklar. Vor allem eine Konsequenz aber wird der Kriegsherr im Kreml spüren.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin [1] wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine erlassen. Am Freitag erklärte der IStGH fest, Putin sei vermutlich für die illegale Verbringung und dauerhafte Umsiedlung von Kindern aus den besetzten Gebieten der Ukraine in die Russische Föderation verantwortlich. Auch gegen Maria Lwowa-Belowa, die für Kinderrechte zuständige Kommissarin in der Regierung von Präsident Putin, erließ der IStGH Haftbefehl.

Nach Feststellung des Strafgerichtshofs vom 22. Februar gebe es berechtigten Grund zu der Annahme, dass Putin und Lwowa-Belowa für die genannten Kriegsverbrechen verantwortlich seien: "Es gibt berechtigten Grund zu der Annahme, dass Herr Putin die individuelle strafrechtliche Verantwortung für die oben genannten Verbrechen trägt; dafür, dass er die Handlungen direkt, gemeinsam mit anderen und/oder durch andere begangen hat; und für sein Versäumnis, die Kontrolle über zivile und militärische Untergebene auszuüben."

Die Richter in Den Haag haben damit erstmals unilateral einen Haftbefehl gegen den Präsidenten eines Landes außerhalb des Römischen Statuts eingeleitet [2], offenbar beruft sich das Gericht auf eine Eingabe der Ukraine auf Basis von Paragraf 12 des Statuts:

Artikel 12
Voraussetzungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit

(1) Ein Staat, der Vertragspartei dieses Statuts wird, erkennt damit die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs für die in Artikel 5 bezeichneten Verbrechen an.

(2) Im Fall des Artikels 13 Buchstabe a oder c kann der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit ausüben, wenn einer oder mehrere der folgenden Staaten Vertragspartei dieses Statuts sind oder in Übereinstimmung mit Absatz 3 die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs anerkannt haben:

a) der Staat, in dessen Hoheitsgebiet das fragliche Verhalten stattgefunden hat, oder, sofern das Verbrechen an Bord eines Schiffes oder Luftfahrzeugs begangen wurde, der Staat, in dem dieses registriert ist;

b) der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die des Verbrechens beschuldigte Person besitzt.

(3) Ist nach Absatz 2 die Anerkennung der Gerichtsbarkeit durch einen Staat erforderlich, der nicht Vertragspartei dieses Statuts ist, so kann dieser Staat durch Hinterlegung einer Erklärung beim Kanzler die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den Gerichtshof in Bezug auf das fragliche Verbrechen anerkennen. Der anerkennende Staat arbeitet mit dem Gerichtshof ohne Verzögerung oder Ausnahme in Übereinstimmung mit Teil 9 zusammen.

Zudem entschied der Internationale Strafgerichtshof, die Haftbefehle gegen Putin und Lwowa-Belowa auch öffentlich zu machen. Man gehe davon aus, dass das Verbrechen andauere und die Publikation dazu beitragen könne, weitere entsprechende Vergehen zu verhindern. Dies sei wichtiger als der Schutz von Personendaten.

"Die Haftbefehle sind ein starkes Signal, aber auch nur ein erstes", zitiert das Fachmagazin LTO den Völkerstrafrechtler Christoph Safferling in einer ersten Einschätzung [3]. Der IStGH schaffe mit den Haftbefehlen "Fakten in der Diskussion um ein Sondertribunal für das Verbrechen des Aggressionskriegs, das der IStGH nicht in seiner Zuständigkeit verfolgen kann." Mit den Haftbefehlen habe sich der Gerichtshof nun eine Position gesichert und fordere Kompetenzen ein, heißt es bei der LTO weiter.

Der Vorsitzende des Prozesses, Piotr Hofmanski, erklärte, die Haftbefehle müsse nun "von der internationalen Gemeinschaft" durchgesetzt werden. Das Gericht könne sie nur erlassen.

Zur Begründung des Haftbefehls führte IStGH-Chefankläger Karim Khan aus [4]:

Zu den von meinem Büro festgestellten Vorfällen gehört die Verschleppung von mindestens Hunderten von Kindern, die aus Waisenhäusern und Kinderheimen entführt worden sind. Wir gehen davon aus, dass viele dieser Kinder seither in der Russischen Föderation zur Adoption freigegeben worden sind.

Das Gesetz wurde in der Russischen Föderation durch Präsidialdekrete von Präsident Putin geändert, um die Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft zu beschleunigen und die Adoption durch russische Familien zu erleichtern.

Mein Büro geht davon aus, dass unter anderem diese Handlungen von der Absicht zeugen, diese Kinder dauerhaft aus ihrem eigenen Land zu verschleppen. Zum Zeitpunkt dieser Deportationen waren die ukrainischen Kinder geschützte Personen im Sinne der Vierten Genfer Konvention.

Khan war zuletzt Anfang März in der Ukraine und besuchte auch ein Waisenhaus im Süden des Landes, zwei Kilometer von der Front entfernt. "Dieses Haus steht wegen der mutmaßlichen Deportation von Kindern aus der Ukraine in die Russische Föderation oder ihrer illegalen Verbringung in andere Teile der vorübergehend besetzten Gebiete leer", sagte er.

Sein Büro führte eine umfassende Untersuchung durch. "Kinder sollten nicht als Kriegsbeute angesehen werden", so Khan.

Die russische Regierung weist in einer ersten Reaktion darauf hin, dass Russland den IStGH nicht anerkennt. Russlands Außenamtssprecherin Maria Sacharowa sagte: "Die Entscheidungen des IStGH haben für unser Land auch aus rechtlicher Sicht keine Bedeutung."

Bislang hatte sich schon der Internationale Gerichtshof (IGH) mit der russischen Invasion befasst, die Initiative dazu kam aus der Ukraine. Nach Artikel 93 Abs. 1 UN-Charta sind alle Mitglieder der Vereinten Nationen automatisch auch Vertragsparteien des Statuts des Internationalen Gerichtshofes.

Die Ukraine hatte kurz nach dem Einmarsch Russlands einen Eilantrag gestellt, um vom IGH feststellen lassen, dass die Intervention unter dem Vorwand, die ukrainische Bevölkerung vor einem vermeintlichen Völkermord zu schützen, völkerrechtswidrig sei.

Dass Kiew damit Erfolg hatte, war nicht selbstverständlich. Denn die UN-Mitgliedschaft allein begründet keine Jurisdiktion des IGH über die Parteien eines Rechtsstreites, so stellte es damals auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags fest. Gemeinhin sei der IGH nur dann für eine Streitigkeit zuständig, "wenn beide Streitparteien ihre Zustimmung hierzu erteilt haben, sich also der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben".

IGH: Ukraine berief sich erfolgreich auf Völkermordkonvention

Im Fall des IGH griff die ukrainische Seite vor einem Jahr auf die Völkerrechtskonvention zurück, um mit dem Antrag auf ein Eilverfahren und gerichtliche Schutzmaßnahmen Erfolg zu haben:

Die einzige verbleibende Möglichkeit bestand darin, die Jurisdiktion des IGH über eine entsprechende Vertragsklausel zu begründen. Von dieser Möglichkeit hat die Ukraine Gebrauch gemacht: Sie hat sich in ihrem Antrag bei Gericht auf die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 (Völkermordkonvention) berufen, der sowohl die Ukraine als auch Russland als Parteien angehören. In Artikel IX enthält die Völkermordkonvention eine entsprechende Unterwerfungsklausel.

Infobrief der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags, "Die Eilentscheidung des Internationalen Gerichtshofs vom 16. März 2022", erschienen am 24. Mai 2022 [5]

Am Donnerstag dieser Woche erst war ein Bericht der Untersuchungskommission des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen veröffentlicht worden, in dem das russische Militär zahlreicher Kriegsverbrechen wie systematischer Folter und der Ermordung von Zivilisten in den besetzten Gebieten in der Ukraine beschuldigt wird.

Der Bericht beschreibt auch Verbrechen gegen Ukrainer in Russland. Dazu zählt der Menschenrechtsrat die Deportation ukrainischer Kinder. Einen Tag später folgte nun der IStGH-Haftbefehl gegen Putin.

Ein Haftbefehl gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt wurde vom IStGH bisher nur einmal ausgegeben, im Fall des ehemaligen sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir. Damals war das Gericht vom UN-Sicherheitsrat mandatiert worden. Auf ein solches Mandat und eine allgemein akzeptierte rechtliche Grundlage auf Basis des Rom-Statuts kann sich der IStGH in seiner Russland-Entscheidung nicht stützen.

In Moskau sorgte die Entscheidung aus Den Haag daher erwartungsgemäß für Empörung: "Russland arbeitet nicht mit diesem Gremium zusammen und mögliche Festnahme-Vorschriften des Internationalen Gerichtshofes sind für uns rechtlich null und nichtig", so Außenamtssprecherin Sacharowa.

Der Vorsitzende des Verfassungsausschusses des russischen Föderationsrates, Andrei Klischas, sagte nach Bekanntwerden der Entscheidung des IStGH, das Gremium habe "keine rechtliche Grundlage für eine solche Entscheidung" gehabt und habe mit ihr "den Weg der Selbstauflösung eingeschlagen", wie die russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti schreibt [6].

Klischas erinnerte daran, dass der IStGH von vielen Ländern, einschließlich der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, nicht anerkannt wird. Tatsächlich war in den USA im Jahr 2002 der "United States Military Service Protection Act" in Kraft getreten.

Das Gesetz ermächtigt US-Präsidenten in letzter Konsequenz, US-Bürger, sollten sie vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagt und festgesetzt werden, militärisch befreien zu lassen. US-Behörden ist es untersagt, mit dem Gericht zusammenzuarbeiten.

In der US-Regierung dauert derzeit ein Streit darüber an, ob US-Behörden dem Gericht in Den Haag die von US-amerikanischen Geheimdiensten zusammengetragenen Informationen über mutmaßliche russische Kriegsverbrechen – einschließlich der möglichen Entführung ukrainischer Kinder – zuleiten soll.

Während der größte Teil der Biden-Regierung, einschließlich des Außen- und des Justizministeriums, die Übermittlung der Beweise befürwortet –so Personen, die mit den internen Beratungen vertraut sind –, hat sich das Pentagon dagegen ausgesprochen, weil es keinen Präzedenzfall schaffen will, der den Weg für eine eventuelle strafrechtliche Verfolgung von US-Amerikanern ebnen könnte.

New York Times

"Dies macht Putin zu einem Paria", zitiert das Blatt gleichwohl Stephen Rapp [7], einen ehemaligen US-Botschafter, der das Büro für globale Strafjustiz im US-Außenministerium leitet. "Wenn er reist, riskiert er eine Verhaftung. Das wird sich nie ändern." Und ohne die Einhaltung der Haftbefehle könne Russland nicht mehr von Sanktionen befreit werden. "Entweder wird Putin in Den Haag vor Gericht gestellt, oder er wird zunehmend isoliert und stirbt eines Tages mit diesem Ballast auf seinen Schultern", so Rapp weiter.

Auch wenn er das in der aktuellen politischen Situation kaum vorgehabt haben dürfte, wird Putin künftig wohl zumindest die Mitgliedsstaaten der EU meiden. Sie erkennen alle die Gerichtsbarkeit des IStGH an. Und auch bei anderen Destinationen muss sich Putin nun genau überlegen, ob der den russischen Rechtsraum verlässt.

Die Ukraine übrigens hat das Rom-Statut unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Im Jahr 2015 erkannte die damalige Regierung jedoch die Zuständigkeit des Gerichtes für alle möglichen Delikte zwischen dem 21. November 2013 und dem 22. Februar 2014 [8] an. Damit sollte der IStGH ermächtigt werden, mögliche Vergehen des am 22. Februar 2014 gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowytsch [9] zu untersuchen. Der IStGH sah nach Ermittlungen keine Handhabe, ein Verfahren gegen Janukowytsch zu eröffnen.

Eine zweite Erklärung verlängerte die IStGH-Zuständigkeit [10] unbefristet auf mutmaßliche Kriegsverbrechen, die ab dem 20. Februar 2014 im gesamten Hoheitsgebiet der Ukraine begangen wurden. Dafür hat das IStGH eine Seite für entsprechende Meldungen [11] eingerichtet.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7550118

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.icc-cpi.int/news/situation-ukraine-icc-judges-issue-arrest-warrants-against-vladimir-vladimirovich-putin-and
[2] https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/sondertribunal-ukraine-krieg-verbrechen-aggression-angriffskrieg-istgh-rom-statut/
[3] https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/internationaler-strafgerichtshof-russland-ukraine-krieg-haftbefehl-gegen-putin-erlassen-kriegsverbrechen/
[4] https://www.icc-cpi.int/news/statement-prosecutor-karim-khan-kc-issuance-arrest-warrants-against-president-vladimir-putin
[5] https://www.bundestag.de/resource/blob/899274/6a63bd8ab894ad6165db6bb1655a4115/Die-Eilentscheidung-des-Internationalen-Gerichtshofs-vom-16-Maerz-2022-Ukraine-Russland-data.pdf
[6] https://ria.ru/20230317/mus-1858690187.html
[7] https://www.nytimes.com/live/2023/03/17/world/russia-ukraine-putin-news
[8] https://web.archive.org/web/20150917000000/http://www.icc-cpi.int/en_menus/icc/press%20and%20media/press%20releases/Pages/pr1146.aspx
[9] https://web.archive.org/web/20150924042139/http://www.icc-cpi.int/en_menus/icc/press%20and%20media/press%20releases/Documents/997/declarationRecognitionJuristiction09-04-2014.pdf
[10] https://www.icc-cpi.int/iccdocs/other/Ukraine_Art_12-3_declaration_08092015.pdf#search=ukraine
[11] https://otppathway.icc-cpi.int/index.html