Haifischbecken Internet: Wir Kinderfresser
Das Einstiegsalter fĂŒr die Smartphone-Nutzung sinkt. Viele Kinder haben unbegrenzten Zugang. Symbolbild: nmiranda auf Pixabay (Public Domain)
Im Netz ĂŒberantwortet unsere Gesellschaft ihren Nachwuchs dem Faustrecht des StĂ€rkeren. Eltern stellen sich doof, Schule und Politik schauen schon zu lange weg. Schonungsloser Blick einer PĂ€dagogin.
Der Kauf eines Mobiltelefons fĂŒr Heranwachsende (âŠ) ist das Eintrittsritual in die moderne Familie
The Mobile Life European Report 2007 [1]
FĂŒnf Minuten sind oft ausreichend, dass Kinder bei TikTok oder auf Pornoseiten Dinge sehen, die sie in ihren Gedanken und TrĂ€umen mitnehmen.
Silke MĂŒller: Wir verlieren unsere Kinder. Gewalt, Missbrauch, Rassismus, MĂŒnchen 2023
Frau MĂŒller, hier guck mal, wie eklig das Video ist.
Fallbeispiel aus der 5. Klasse
Es lÀuft etwas schief im Netz. Im Wunderland der tausend Möglichkeiten. Wobei "tausend" eine winzig kleine Untertreibung ist: Die Netzoptionen sind uferlos. Und ja klar, es sind unsere Kinder, die paddeln und daddeln in diesem Meer von Tools, Trends, Tweets, Chats, Challenges, Posts: SpÀtestens ab zwölf Jahren [2] gehört das Internet mit all seinen Facetten, Tiefen und Untiefen zum Alltag der Kids.
"Wir verlieren unsere Kinder" ist das Motto eines Mahnrufs von Silke MĂŒller, Schulleiterin an einer Oberschule in Niedersachsen [3]. In diesem Bundesland ist sie auch Digitalbotschafterin. MĂŒller hat Erfahrungen quer durch den Schulalltag unserer Zeit aufgeschrieben ("Wissen Sie, was Ihr Kind auf dem Smartphone sieht?"), so entstand ein besorgniserregendes Panoptikum, de facto gesehen durch die Augen der bedrohten Spezies.
Die Autorin versieht ihre Bestandsaufnahme mit krassen FÀllen aus der digitalen RealitÀt des kindlichen Hier und Jetzt, hat die geschilderten FÀlle anonymisiert und ein Buch daraus gemacht.
Tor zum Haifischbecken
"Ungefiltert, kaum reguliert, 24/7 erreichbar": So sieht MĂŒller das Netz und betont: Es handelt sich bei ihren Berichten nicht um Ausnahmen oder konstruierte FĂ€lle, sondern um das echte, tagtĂ€gliche Leben unserer Kinder und Jugendlichen. Und MĂŒller nennt das digitale Wunderland auch: Schlaraffenland fĂŒr Menschen mit abartigen Vorstellungen, "eine unheimlich groĂe BĂŒhne", knallvoll mit Fake News, Hate, Dirty Talks und ungebremstem Zugang zu immer widerwĂ€rtigeren Fotos, Texten und Videos, und das rund um die Uhr. Es gehe darum, "endlich aufzuwachen", betont MĂŒller in ihrem Buch.
Noch einmal: Alle gĂ€ngigen Dienste im Internet werden von immer jĂŒngeren Teilnehmern in Anspruch genommen. Der Zugang erfolgt dabei hauptsĂ€chlich ĂŒber das Smartphone, wie Befragungen und Studienergebnisse zeigen - und der reale Alltag zeigt das sowieso einem jeden, der nur hinguckt.
Gucken wir hin: Die durchschnittliche Nutzung pro Tag klettert seit Jahren entsprechend krĂ€ftig; 77 Prozent der Altersklasse der 16-29-JĂ€hrigen (2021) etwa sagen: Morgens gilt mein erster Blick dem Smartphone und abends der letzte. Das gilt zunehmend aber auch fĂŒr die Einsteiger-Klasse, die altersmĂ€Ăig immer frĂŒher loslegt. Der Messenger-Dienst WhatsApp hat sich in allen FĂ€llen als Eintrittstor ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten erwiesen. Oder, wie Silke MĂŒller in einem Interview sagte: als Tor zum Haifischbecken [4].
Vollversorgung, fragwĂŒrdig!
Sieben von zehn Kindern und Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahren dĂŒrfen digitale Medien nach eigenen Angaben in ihrer Freizeit ohne zeitliche BeschrĂ€nkung nutzen, stellte die Initiative "Schau hin!" [5] unlĂ€ngst mit Blick auf eine aktuelle Untersuchung des Digitalverbands Bitkom fest. In Zahlen: 66 Prozent der Sechs- bis NeunjĂ€hrigen nutzen bereits ab und zu ein Smartphone, teils ist es da noch das elterliche GerĂ€t.
Danach steigt der Smartphone-Besitz [6] rasant an: Bei den Zehn- bis ZwölfjĂ€hrigen sind es schon 86 Prozent, bei den 13- bis 15-JĂ€hrigen 95 Prozent, die ein eigenes GerĂ€t benutzen. Im Langzeitvergleich der Bitkom-Studie kommen Kinder und Jugendliche also immer frĂŒher mit digitalen EndgerĂ€ten in Kontakt; ein Schwerpunkt der Kommunikation via WhatsApp ist der Austausch unter Gleichaltrigen.
Ihre Heimat ist nicht mehr nur das Klassenzimmer, der Freundeskreis und die Familie, sondern schon lÀngst die Welt der sozialen Netzwerke.
Silke MĂŒller
"Vollversorgung" nennt das der "GefĂ€hrdungsatlas Digitales Aufwachsen" [7] (2022) der Bundeszentrale fĂŒr Kinder- und Jugendmedienschutz, der auf 322 Seiten breit gefĂ€chert in den Themendschungel einfĂŒhrt: "Als Werkzeug zur zwischenmenschlichen Kommunikation erreicht WhatsApp im Jugendalter (...) hinsichtlich seiner Verbreitung einen Status, der einer Vollversorgung nahekommt."
Der Begriffsindex des umfÀnglichen Papiers allein lÀsst nichts Gutes ahnen. Von Cybersex ist da die Rede, von Grooming, Empathieminderung, exzessiver Selbstdarstellung, Feindbildern, Hate Speech, Hypersexualisierung, Meinungsmanipulation, Online-Pranger, PÀdophilieforen, Propaganda, Populismus, Suizidforen, sexueller Ausbeutung, Sucht (=Auswahl!).
"WofĂŒr ich blowen wĂŒrde"
Was konkret bedeutet: Schon die GrundschĂŒler sind Texten und Bildern von Gewalt, Missbrauch, TierquĂ€lerei, Rassismus, Perversion, Hass und Mord ausgesetzt. Hier setzt Silke MĂŒllers Bestandsaufnahme an. Einige Beispiele (Fallschilderungen aus dem Buch):
Im FrĂŒhjahr 2022 flammt ein TikTok-Trend auf: "WofĂŒr ich blowen wĂŒrde", es geht da vorrangig um Kohle, Lifestyle, Luxus, angesagtes Outfit etc., alles unterm Hashtag #dingefĂŒrdieichblownwĂŒrde. Ein MĂ€dchen, etwa 13 Jahre alt, will Gras fĂŒr die Wochenendparty besorgen, sie fragt einen kaum Ă€lteren Jungen. Der verspricht Hilfe, ein Gramm soll zehn Euro kosten, man verabredet sich fĂŒr den Nachmittag auf dem Spielplatz der örtlichen Grundschule.
Es wird ein Joint geraucht, zunĂ€chst mit anderen, dann sondern sich die beiden ab, um ihren Handel zu tĂ€tigen. Nach kurzem GeplĂ€nkel einigt man sich auf Bezahlung ohne Geld, "wie im Trend": Das MĂ€dchen bekommt den Stoff, die Euros bleiben in ihrer Tasche, man hat sich anders geeinigt. MĂŒller schreibt:
Das 13-jÀhrige MÀdchen und der 14-jÀhrige Junge gehen nach Hause. Der nÀchste Tag wird sein wie jeder andere. Und gleichzeitig hat sich an diesem Tag alles verÀndert.
Silke MĂŒller
Dieser eben geschilderte Fall ist ein Beispiel dafĂŒr, wie stark die "echte" und die "virtuelle" RealitĂ€t verschrĂ€nkt sind, d.h. welche Wechselseitigkeiten herrschen. MĂŒller spricht wieder und wieder von der "Strahlkraft auf das reale Leben", sie plĂ€diert dafĂŒr, endlich aufzuhören, die analoge und die digitale Welt voneinander zu trennen. Wir mĂŒssen begreifen, sagt sie, dass wir in einer Gesellschaft und in einer Welt leben, die sich gleichzeitig im physischen Hier und Jetzt wie auf den virtuellen Datenautobahnen abspielt. Es ist eine Art Co-PrĂ€senz.
Virtuelle IntimitÀten
HĂ€ufig werden SpielrĂ€ume im Netz zum Ausgangspunkt fĂŒr Manipulation, wobei Vertrauen schmĂ€hlich ausgenutzt wird [8]. Ein zwölf Jahre alter Junge tappt beim Spielen von Fortnite in die Falle. Er wird wĂ€hrend des Spiels von einem vermeintlich Gleichaltrigen angeschrieben; der Austausch wechselt nach einer Weile zum Messenger Snapchat. Der Unbekannte pocht auf eine "Mutprobe", bei der der ZwölfjĂ€hrige Bilder von seinem Penis "im normalen und im erigierten Zustand" machen soll.
Der Gefragte schickt sie dem "neuen Freund", spĂ€ter sogar noch ein Video, auf dem er masturbiert. Zu seinem Schrecken landen die Bilder, das Masturbations-Video und ein Trommelfeuer erniedrigender Kommentare ("Schwule Nulpe", "Simons ekliges Coming-out") umgehend in einer WhatsApp-Gruppe mit "unzĂ€hlige(n) Nummern", darunter MitschĂŒlerinnen und MitschĂŒler.
Schulleitung und Polizei werden nach einigem Gekaspere eingeschaltet, der eigentliche TĂ€ter kann nicht dingfest gemacht werden. Mitmacher der WhatsApp-Gruppe, die sich durch Kommentare am SpieĂrutenlauf beteiligt haben, werden im konkreten Fall "schulisch sanktioniert", was immer das heiĂen mag. Der GeschĂ€digte, um eine Erfahrung reicher, musste in psychologische Behandlung und wechselte am Ende die Schule. Er war "bis dato ein völlig normales Kind (âŠ), integriert in die Klasse und im Sportverein".
Das sind nur zwei Beispiele von vielen aus dem "groĂen Haifischbecken". Das Netz ĂŒbt eine bedenkliche Faszination auf die GemĂŒter Heranwachsender aus, und es macht Nicht-Mitspieler zu AuĂenseitern, Losern und VerdĂ€chtigen. Dabei kennt es weder LĂ€ndergrenzen noch Grenzen des geltenden Rechts, worauf MĂŒller in ihrem Buch hinweist, die auch diese einfache Feststellung trifft:
Es ist nicht das Netz, das grausam ist. Es sind wir Menschen.
Silke MĂŒller
Nur ein Klick zur Folterszene
Gefakte Instagram-Profile, "Tasteless Videos" mit anstöĂigen Inhalten, hĂ€mische Kommentare (O-Ton: "Du billige Bitch, wĂ€rst du doch nur schon im Bauch deiner Mutter verreckt"), notorisch wiederkehrende Hitler-Memes (gerne Bilder mit darĂŒbergelegtem Text), dutzend-, hundert-, tausendfach gelikte Trends und Challenges appellieren an den Nachahmungstrieb junger Leute und animieren Kinder zu unglaublichen Aktionen.
Die Grenzen zwischen harmlos, lustig, geschmacklos, grausam, eklig und menschenverachtend sind flieĂend; die ĂberfĂŒlle kompromittierender Szenen und Dialoge ĂŒberfordert die kindliche SelbsteinschĂ€tzung, torpediert die psychischen, emotionalen und sozialen Kompetenzen der Heranwachsenden, stĂŒrzt normale Kinder in ein seelisches Chaos.
Dabei scheinen der Verrohung keine Grenzen gesetzt. Im Interview mit DAS! (NDR) schildert MĂŒller Anfang Mai, wie gerade ein widerwĂ€rtiges Video die Runde macht, nĂ€mlich wie eine Babykatze in einen Mixer geworfen und zerstĂŒckelt wird. Schnell wird der Clip geteilt; erste Screenshots landen bei Twitter, weiter gehtâs bei TikTok. AuĂer vom Video selber zeigt sich MĂŒller vom Grad der Abstumpfung geschockt [9], den viele Kids ihrem Eindruck nach beim Ansehen solcher Inhalte an den Tag legen.
Szenenwechsel: Kids sitzen im Bus auf der Fahrt zur Schule. Durch den Bus geht ein blutrĂŒnstiges Video von der Kastration eines Mannes, ĂŒber drei Minuten lang. Per Filesharing (Bluetooth/AirDrop) wird die Datei in Sekundenschnelle unter den GerĂ€ten ĂŒbertragen, die Folterszene landet in Windeseile in den GerĂ€te-Galerien und spielt sich auf Knopfdruck ab. "XY möchte dir ein Foto schicken", das reicht auf dem Display, um die Neugier zu wecken.
Man sieht den Korpus eines Mannes und die Arbeit des Skalpells. Die Kinder aus dem Schulbus klopfen morgens um 8:00 bei der Lehrerin an und fragen rĂŒcksichtsvoll: Frau MĂŒller, haben Sie schon gefrĂŒhstĂŒckt? Vom Grauen gefesselt.
GeschÀftsmodell Menschenverachtung
FĂŒr die Online-Imperien zĂ€hlt das Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie; dahinter verbirgt sich eine milliardenschwere Geldmaschine, fĂŒr die das Heer der Social-Media-Profile eine nicht abreiĂende Einnahmequelle sind.
Elf Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene besuchten im Schuljahr 2021/22 allgemeinbildende und berufliche Schulen in Deutschland (MĂŒller, 187). Vom Aufbau einer digitalen Ethik im Netz sieht Silke MĂŒller das Land weit entfernt, Empathie, Toleranz, RĂŒcksicht und Respekt im Schwundzustand. Das System Schule eine "Blase" - hoffnungslos veraltet und ĂŒberfordert.
Letztendlich greifen die sozialen Netzwerke vor diesem Hintergrund weitgehend ungehindert nach den kindlichen Seelen, kommerzialisieren deren Beziehungen und ramponieren die meist noch ungerichtete IdentitĂ€tssuche, in dem Fall besonders rĂŒcksichtslos, weil es sich um Kinder und Jugendliche handelt, deren Charaktere noch ungefestigt sind. Sozialisation und Charakterbildung finden im Netz statt, sagt MĂŒller.
Die Eltern geben sich oft ahnungslos; hinter den Fassaden kindlicher Selbstinszenierung endet daher so manche kindliche "Netz-Karriere" nicht nur im Schockzustand, sondern - hoffentlich â auch mit dem allmĂ€hlichen Erwachen der elterlichen Einsicht in KalamitĂ€ten, die auch 2023 noch allzu gern verdrĂ€ngt werden.
Das Netz kann auf bitterböse Weise real sein. Hier liegt auch eine ĂŒberfĂ€llige Hausaufgabe fĂŒr die Politik.
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https://www.heise.de/-9188040
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[1] https://eprints.lse.ac.uk/42757/1/mobileLifeEuropeanReport2007.pdf
[2] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/immer-fruher-langer-und-mobiler-3831958.html
[3] https://www.merkur.de/politik/markus-lanz-gewalt-schulen-ursachen-mobbing-tiktok-videos-lehreremangel-china-iran-waffen-usa-zr-92256468.html
[4] https://www.ardmediathek.de/video/das/das-mit-schulleiterin-und-autorin-silke-mueller/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS9wcm9wbGFuXzE5NjM0MTgxN19nYW56ZVNlbmR1bmc
[5] https://www.schau-hin.info/news/aufwachsen-mit-smartphone-bitkom-studie-2022
[6] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Online-Zeit-Kinder-Jugendliche-111-Minuten
[7] https://www.bzkj.de/resource/blob/197826/5e88ec66e545bcb196b7bf81fc6dd9e3/2-auflage-gefaehrdungsatlas-data.pdf
[8] https://www.mpfs.de/studien/jim-studie/jimplus-2022/
[9] https://www.ardmediathek.de/video/das/das-mit-schulleiterin-und-autorin-silke-mueller/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS9wcm9wbGFuXzE5NjM0MTgxN19nYW56ZVNlbmR1bmc
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