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Halbe Wahrheiten sind keine

Medienkritik zum Corona-Journalismus - Teil 3

Die Corona-Berichterstattung wird die Medienforschung noch intensiv beschäftigen. Erste Studien zeigen einzelne Problembereiche auf, kommen aber zu recht guten Gesamtbewertungen. Anhand von vielen Beispielen zeigt unser Autor Defizite für einzelne Qualitätskriterien auf. Damit ist keine quantitative Wertung verbunden. Vielmehr wollen die vielen Einzelfälle und Aspekte Angebote sein, wo sich eine wissenschaftliche oder medienjournalistische Vertiefung lohnen könnte. Im dritten Teil geht es um das Qualitätskriterium "Vollständigkeit".

Eine journalistische Berichterstattung, die faktisch richtig ist, muss noch lange nicht gut sein. "Gut" als Qualitätsurteil meint hier: Orientierung bietend (siehe Teil 2: Wenn schon die Fakten nicht stimmen [1]). Denn es kann alles richtig sein und doch ein völlig falsches Bild ergeben. Vollständig ist eine journalistische Darstellung, wenn nicht durch weitere Informationen ein relevant anderes Bild entsteht. Wer mag, darf das Qualitätskriterium Vollständigkeit [2] auch als Teil der Richtigkeit sehen (weil "die halbe Wahrheit" eben gerade keine Wahrheit ist und auch juristische Konsequenzen haben kann).

In jedem Fall ist Vollständigkeit ein eigener Prüfaspekt in der Medienkritik. Die Bedeutung der Vollständigkeit eines Beitrags hat Brigitte Fehrle als ein Fazit ihrer Arbeit in der "Relotius-Kommission" [3] des Spiegel auf den Punkt gebracht:

Die am weitesten verbreitete Manipulation ist im Übrigen nicht das Hinzuerfinden, sondern das Weglassen.

Brigitte Fehrle, in: journalist 7/2019, S. 36-40

Allerdings verlangt Manipulation Vorsatz. Wo es diesen in der Corona-Berichterstattung gegeben haben mag, soll hier nicht untersucht werden. Lücken in der medialen Darstellung sind jedoch weit verbreitet. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden: der einzelne Beitrag und das publizierende Medium (Zeitung, Sender, Website).

Ein Beitrag muss so vollständig sein, dass er alle für die Orientierung notwendigen Informationen zum konkreten Ereignis bzw. behandelten Problem enthält. Dazu gehört auch, nicht zu schließende Lücken aktiv zu benennen, anstatt sie schweigend zu übergehen. Für die Berichterstattung eines Mediums verlangt Vollständigkeit, den weiteren Verlauf im Blick zu behalten, Reaktionen und Entwicklungen aufzugreifen und stets zu prüfen, ob insgesamt, in der Summe der eigenen Beiträge, ein für die individuellen Nutzer wie die Gesellschaft hilfreiches Angebot besteht.

Die alte Denksportdisziplin von den Erkenntnisbegrenzungen des Menschen können wir dabei ignorieren: Dass kein Lebewesen "die Realität" erfasst, sondern aus einigen wenigen Informationen eine "eigene Wirklichkeit konstruiert", ist geradezu banal, auch wenn etwa das "Funkkolleg Medien und Kommunikation" [4] diese Selbstverständlichkeit vor 30 Jahren auf Romanlänge ausgebreitet hat (jedenfalls in meiner Erinnerung). Regalmetern Konstruktivismustheorie zum Trotz klappt Verständigung in der Praxis immerhin evolutionsstabil, sogar über Artgrenzen hinweg, was schon weit mehr ist, als der Journalismus leisten muss.

Die pragmatische Feststellung, dass eine Berichterstattung unvollständig ist, wenn durch weitere Informationen ein relevant anderes Bild entsteht, kann dabei selbstverständlich weiteren Qualitätsaspekten widersprechen. Die Nachricht von einem Fahrradunfall kann beim Rezipienten zu unterschiedlichen Emotionen führen, je nachdem, ob sie die Info enthält "Der Radler trug keinen Helm" oder nicht. Oder den Hinweis, es handele sich beim Unfallopfer um einen geflohenen Vergewaltiger. Deshalb sagt die Feststellung einzelner Qualitätsdefizite natürlich noch gar nichts darüber aus, wie "gut" oder "schlecht" eine Berichterstattung ist, so wie sich die Qualität eines Medikaments nicht mit Blick auf die Nebenwirkungen beurteilen lässt.

Unvollständige Beiträge

Die Unvollständigkeit beginnt oft schon mit dem Gebrauch einzelner Schlagworte. Als im Frühjahr an vielen Stellen mehr Obduktionen gefordert [5] wurden, gab es allenfalls pragmatisch begründeten Widerspruch. Ethische Bedenken hingegen blieben wohl auch deshalb aus, weil schlicht nicht darüber gesprochen wird, was die Obduktion eines Leichnams bedeutet.

Natürlich hängt das u.a. davon ab, nach was gesucht wird und wie modern die Pathologie ausgestattet ist; aber in vielen Fällen ist die Prozedur weit entfernt von der Harmlosigkeit im Fernseh-Krimi. Bei vollständiger Berichterstattung dürften sich wohl einige Angehörige sowie ante mortem Patienten selbst wenig begeistert zeigen vom staatlichen Anspruch, zur Aufklärung eines Epidemiegeschehens Verstorbene sehr gründlich auseinanderzunehmen.

Im Videobeitrag "Coronaleugner demonstrieren in Berlin" [6] schreibt der Tagesspiegel (Satzendzeichen und "sic"-Hinweise von TP):

Gegendemonstranten protestierten entlang der Route zur Siegessäule. Beide Lager beschimpfen sich gegenseitig als Nazi [sic]. "Ihr maschiert [sic] mit Faschisten" skandieren die Gegendemonstranten.

Demonstranten und Gegendemonstranten sind dabei nie gemeinsam im Bild zu sehen, weil die Polizei sie wie üblich auf großem Abstand zueinander hielt. Mindestens an vielen Stellen ("an allen" kann ich nicht belegen) war es gar nicht möglich, das andere "Lager" zu sehen. Dass Demonstranten ihre Plakate vorbereiten und deren Aussagen nur schwer den realen Geschehnissen anpassen können, mag sich der "mündige Leser" (siehe Teil 2 [7]) denken, aber dass die Ihr-marschiert-mit-Faschisten-Rufer gar nicht sehen konnten, wer da mit wem demonstriert, wäre für ein vollständiges Bild relevant gewesen. Ebenso wie natürlich irgendwelche Informationen zum Anliegen der Demonstranten, die beim Tagesspiegel schlicht "Corona-Leugner" sind, was einzig mit der Aussage belegt wird: "Verschwörungstheorien werden ausgetauscht", bebildert mit zwei Aluhüte tragenden Männern.

Wem das Beispiel zu klein ist, hier eines mit dem Gewicht von "1400 Milliarden Euro". Unter dem nachrichtlich-nüchternen Titel "Bundestag beschließt Rettungspaket: 156 Milliarden gegen die Corona-Krise" schildert die politische Reporterin der Berliner Zeitung diesen "nicht normalen Sitzungstag" des Parlaments, im Verlauf dessen u.a. 156 Milliarden Euro neue Schulden beschlossen werden. Der Artikel wirkt wie eine Hommage an Kischs "Die Schittkauer Mühlen in Flammen" (ab Seite 381 [8]; zum Hintergrund siehe: "Debüt beim Mühlenfeuer" [9].

Von Standing Ovation für das Gesundheitspersonal und der Erregung einer grünen Abgeordneten über zu geringen physischen Abstand zwischen zwei AfD-lern bis zu Altmeiers hastig eingenommenem Mittagessen aus der hygienischen Pappschachtel erfahren wir allerhand zur Kulisse, in der ein "Rettungsprogramm für die Wirtschaft von nie gekanntem Ausmaß" beschlossen wurde. Aber was nun genau mit dem Geld geschehen soll, woher es kommt, was bei dieser Prioritätensetzung künftig nicht mehr wie geplant möglich sein wird, ob irgendein Abgeordneter noch etwas Erhellendes beizutragen hatte (oder wegen der guten Regierungsarbeit die Legislative nur noch eine Formsache ist) - wir erfahren nichts dazu, wofür die Autorin auch eine Begründung hat, die in sehr vielen Fällen von Unvollständigkeit trägt:

Die Reden unterscheiden sich auch sonst nur wenig. Wie auch, es ist in dieser Situation alternativlos, die Wirtschaft mit Krediten und Zuschüssen zu unterstützen und die Bürger - soweit es geht - in ihren Existenzen zu sichern.

Berliner Zeitung

Anstatt so vollständig zu informieren, dass der "mündige Leser" selbst zu einer Meinung kommen kann, liefert der Journalismus direkt die Meinung ("Rettungspaket"), ohne sich mit dem mühsamen Geschäft des Recherchierens und Erläuterns aufzuhalten. Es ist alternativlos, was Legislative und Exekutive da gemeinsam machen, Punkt, aus, fertig. Es gibt keine anderen Möglichkeiten, keine weiteren Ideen, keine Kritik.

Diese weit gebräuchliche Unvollständigkeit durch Meinung statt Fakten kommt oft sehr subtil daher. Für Heribert Prantl ist die Rede von einem "Corona-Regime" wahrheitsfernes Fabulieren [10], wiewohl seine eigene Zeitung intensiv den Begriff "Corona-Kabinett" [11] nutzt. Da wäre eine Erläuterung, warum das eine mehr oder weniger absurd, das andere nachrichtlich korrekt ist, doch sehr hilfreich. Vollständigkeit wird durch Meinung ersetzt. Permanent lesen und hören wir von "umstrittenen" Aussagen, ohne dass berichtet würde, wer genau was mit welchen Belegen bestreitet oder attackiert, und ob die Vorwürfe (noch) Substanz haben.

Das ewig zitierte Spiegel-Motto "Sagen, was ist" verlangt eben Tatsachen statt Autorenmeinungen. Die dürfen gerne noch als Interpretationsangebot dazu kommen, können aber Informationen nicht ersetzen. "Es war ein heißer Tag" ist eine Meinung, die ohne weitere Angaben nur die Belanglosigkeit vermittelt, wie der Autor empfunden hat oder gar - weit verbreitet - mutmaßt, wie ein Protagonist empfunden haben wird, ohne dies wenigstens als Meinungsbehauptung belegen zu können. Nicht selten werden Bauern "schönes Wetter" als Katastrophe empfinden, angeblich "triste", weil regnerische Herbsttage lassen die Herzen von Pilzsammlern höher schlagen. Ob eine bestimmte Zahl an Corona-Neuinfektionen einen "dramatischen Anstieg" [12] darstellt, ist eine Interpretation, zu der selbst zu kommen "mündigen Leser" offen stehen sollte, was weit mehr Informationen als die Zahlen an sich verlangt.

Fehlende Einordnung

Früh schon wurde in der Medienkritik darauf hingewiesen, dass Zahlen zur Pandemie ohne Einordnung keinerlei Orientierung bieten (so bspw. Stephan Ruß-Mohl [13] oder Roland Schatz [14]; für eine Übersicht siehe Spiegelkritik [15]).

Es hat lange gedauert, bis wenigstens die täglichen "Corona-Zahlen" in Relation zur Zeit und Fallzahlen in Bezug zur Einwohnerschaft ausgewiesen wurden. Irreführende Angaben wie die Addition aller jemals Infizierten [16] hingegen haben sich bis heute gehalten. Und Vergleiche mit anderen Erkrankungen oder Unfällen bleiben weiterhin Marginalien, was zur schon lange bekannten unrealistischen Risikoeinschätzung in der Bevölkerung beiträgt, hier also zu einer Überschätzung des Risikos einer Covid-19-Erkrankung [17] gegenüber anderen Gesundheitsgefahren. Einzelne Todeszahlen [18] und Krankheitsdaten ohne Einordnung können keine Orientierung bieten.

Aber nicht nur Zahlen benötigen eine Einordnung, um Informationen vollständig zu vermitteln. Jedes mediale Spotlight auf Einzelereignisse ist geeignet, eine hilfreiche Sichtweise auf die Welt zu verhindern. So wurden im Fernsehen Intensivstationen gezeigt, Lokalzeitungen brachten Reportagen aus ihren Krankenhäusern. Doch eine Verortung des aktuellen Corona-Geschehens in der sonstigen Arbeit der Stationen unterblieb meist. Personal in Schutzausrüstung wurde als Corona-Katastrophenfall wahrgenommen, obwohl es auf Infektionsstationen Alltag ist.

Bilder von Militärfahrzeugen, die im italienischen Bergamo Särge abtransportierten, waren prägend für die Pandemiewahrnehmung und wurden rund um den Globus gesendet, obwohl es nur um 60 Tote in einer Großstadt ging. Natürlich waren dort Menschen gestorben, auch überproportional viele, doch das mediale Katastrophenszenario war mit Sicherheit keine realitätsnahe Darstellung: wie viele Tote gibt es an normalen Tagen, wie schnell kommt das lokale Bestattungswesen an seine Grenzen, insbesondere wenn es durch politische Vorgaben und eigene Quarantänefälle nicht so arbeiten kann wie üblich [19]? Wo nur Ausschnitte berichtet werden, kann kein Gesamtbild entstehen - wie im Gleichnis von der punktuellen Betrachtung eines Elefanten [20].

Whataboutism ist Pflicht

Versuche der Einordnung werden häufig, insbesondere online, als "Whataboutism" geschmäht. Tatsächlich aber ist es eine der W-Fragen, die zu jedem Vollständigkeitsbemühen gehört: What about...? Was ist mit diesem und jenem? Im Zusammenhang mit der alles dominierenden Corona-Politik nach Klimaschutz zu fragen, ist kein rhetorischer Trick, sondern eine Notwendigkeit. Wenn über den Schutz Alter und Kranker in Deutschland gesprochen wird, gehört die Frage nach den Nebenwirkungen jeder möglichen Maßnahme zur vollständigen Problembetrachtung dazu. Es ist gerade die Aufgabe des Journalismus, auch das nicht auf den ersten Blick Sichtbare sichtbar zu machen - spätestens, wenn es ihm auf dem Silbertablett serviert wird.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat genau dies Ende April angeboten: über die Nebenwirkungen der gewünschten Wirkungen zu sprechen, konkret über die durch Shutdowns verursachten Todesfälle. Doch anstatt spätestens nun dieser Frage nachzugehen und zu recherchieren, erzählten die Medien durchgängig die viel einfachere, kundenfreundlichere Boulevardgeschichte vom menschenverachtenden Wichtigtuer und dem Bemühen seiner grünen Partei, ihn vor die Tür zu setzen (ausführlich hier auf TP [21]).

Fünf Monate später wies Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) ebenfalls auf das Problem hin: "An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr sterben als am Virus", sagte er in einem Interview [22], und führte als einen der Gründe dafür an: "Weil wir Industrieländer uns so sehr auf die Coronabekämpfung zu Hause fokussieren, dass wir andere Probleme aus dem Blick verlieren." Und Hans Peter Vikoler vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen sagte im TP-Interview [23]: "Wenn man die Folgen der Lockdowns im globalen Maßstab betrachtet, dann kann es einen nur ratlos machen, dass solche Maßnahmen überhaupt ergriffen wurden. Die wirtschaftlichen und sozialen Schäden, die durch die Bekämpfung des Virus verursacht wurden, übersteigen die gesundheitlichen Schäden durch das Virus um ein Vielfaches. [...] Unser Umgang mit dem Virus war kleinkariert und absolut unverantwortlich."

Um sich überhaupt eine Meinung zu Sinn, Zweck und Umfang von staatlichen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie bilden zu können, müssen solche "What about?"-Fragen gestellt und beantwortet werden. Demokratie verlangt, dass den Bürgern alle entscheidungsrelevanten Informationen zur Verfügung stehen, auch wenn gerade nicht gewählt wird.

Ein Musterbeispiel der Vollständigkeitsverweigerung ist die Spiegel-Titelgeschichte "Albtraum Lockdown" [24] im Heft vom 17. Oktober, die auch sonst Anschauungsmaterial für viele andere Qualitätsdefizite bietet. Der Untertitel auf dem Cover: "Warum jetzt doch droht, was alle ausgeschlossen haben". 26 Autoren werden für diese Geschichte aufgeboten, doch sie verlieren nicht ein einziges Wort über die Nebenwirkungen eines Lockdowns. Stattdessen bietet der Spiegel folgende Engführung:

Es heißt, in der Krise zeige sich, wie gut Deutschland regiert werde, da die Zahlen besser sind als in fast allen anderen europäischen Staaten. Das stimmt grundsätzlich, heißt aber nicht, dass hier alles glatt läuft. Dass Reiserückkehrer im Sommer das Virus nach Deutschland brachten, schien die Politik zu überraschen, es dauerte lange, bis Jungen und Mädchen zum Präsenzunterricht an die Schule zurückkehren konnten, es fehlte an Masken, um nur einige Beispiele zu nennen.

Der Spiegel

Nicht-quarantänisierte Urlauber, Schulausfall und fehlende Masken, das sind die Probleme, die 26 Spiegel-Journalisten recherchiert haben. "Die Zahlen" in, aus oder für Deutschland sind besser als anderswo. Kein Wort über schädliche Nebenwirkungen in Deutschland, keine Wort über tödliche Nebenwirkungen weltweit. Und, Gipfel der Unvollständigkeit, nicht einmal ein Wort darüber, warum der erneute Lockdown droht wie eine Naturgewalt, gegen die der Mensch machtlos ist, oder wie eine Falle, die plötzlich zuschnappt, aufgebaut von einer fremden Macht.

Nicht nur der Journalismus stellt häufig keine What-about-Fragen, auch die Journalismusforschung. Denn gerade Forschung schaut sich gerne losgelöst von der Welt nur kleinste Teilbereiche an: überschaubar, handhabbar, berufsdienlich. Das ist nicht nur legitim, sondern auch unproblematisch, solange diese Detailbetrachtungen nicht ohne Einordnung auf den Marktplatz getragen werden. Weil es ausgerechnet um journalistische Qualität geht, ein ausnahmsweise Corona-freies Beispiel, aber immerhin zur Gesundheit:

Professor Patrick Rössler, Kommunikationsforscher an der Uni Erfurt, hat gerade "Die Qualität der Berichterstattung über Ernährung" [25] untersucht. Seinen Beitrag für das nicht gerade tiefstapelnde Kompendium "Bericht zur Lage der Informations-Qualität in Deutschland" leitet er damit ein, ungesunde Ernährung als gesellschaftliches Finanzproblem zu sehen.

Die enormen gesellschaftlichen Belastungen aufgrund der direkten Behandlungskosten und der indirekten volkswirtschaftlichen Verluste durch krankheitsbedingte Ausfälle sind ebenso allseits bekannt wie die so genannten intangiblen Kosten für die Betroffenen.

Patrick Rössler

Oder kürzer, statt seiner vielen Zahlen: "Fette kosten die Dünnen verdammt viel Geld." Die Richtigkeit aller Berechnungen und Schätzungen unterstellt, ist das Problematisieren individuellen Verhaltens allerdings solange applausheischend statt aufklärerisch, wie es unvollständig bleibt. Wenn es wirklich ums Geld gehen soll, müsste schon das gesamte Sozialsystem betrachtet werden (eben: What about ...?). Was kosten uns die gesunden, pensionierten Medienforscher, die dank eines Privilegs nie in die gesetzliche Krankenversicherung oder Rente eingezahlt haben? Wie viel länger als fettleibige Frührentner können sie leben und damit von der Allgemeinheit Vollversorgung beanspruchen, bis die Kosten ihre höheren Steuerzahlungen verbraucht haben und sie als Problem benannt werden dürfen? Ab wann ist die Demenz des gesund uralt gewordenen Sportlers gesellschaftlich teurer als der Herzinfarkt des Hartz-IV-Beziehers?

Die Provokation muss wohl nicht weiter ausgeführt werden: Selbst wenn alles richtig ist, kann publizistische Unvollständigkeit zu einer katastrophalen Fehlorientierung führen. In manchen Themenbereichen ist das im journalistischen Mainstream auch völlig unbestritten: Keine Einzelmeldungen über bestimmte Verbrechen, kein Problematisieren bestimmter Minderheiten oder "Randgruppen" etc. - aber eben immer nur für bestimmte Themenfelder oder sogar nur für bestimmte Aspekte eines Themenfelds, was unter "Objektivität" diskutiert werden kann. Ohne "What about...?" jedenfalls ist Journalismus in vielen Fällen gefährlich unvollständig.

Pars pro toto

Bildausschnitte oder sogar selbst zusammengepuzzelte Konstrukte als "die ganze Wahrheit" auszugeben ist im Journalismus weit verbreitet. Euphemistisch wird das oft als Reduktion von Komplexität dargestellt, als notwendige Vereinfachung.

Quer durch die Medienlandschaft hat sich das Schlagwort von den "Corona-Leugnern" etabliert, mit dem jeder Kritiker der Corona-Politik belegt wird, der keine inhaltliche Auseinandersetzung verdient. Dass es sich dabei überwiegend gar nicht um Leugner handelt, war schon unter dem Aspekt der "Richtigkeit" Thema. Bedeutsamer aber ist, dass diese Vereinfachungen vieles weglassen. "Was siehst du auf diesem Bild?" möchte man wie in der Schule fragen, um eine möglichst exakte Beschreibung zu erwirken.

Die "CDU fordert" [26] irgendwas, lesen wir permanent, oder "SPD empört über..." [27]. Dass dabei niemals die ganze CDU, die ganze SPD, die ganze Arbeitnehmerschaft, eine Stadt, ein Land oder sonstwer etwas tut, fordert, kritisiert, gehört in die Kategorie "Richtigkeit" (Teil 2).

Aber selbst, wenn solche Aussagen formal richtig sind (weil sie sich z.B. auf Mehrheitsbeschlüsse stützen): Sie unterschlagen die vorhandene Vielfalt. Einzelstimmen werden zur "ganzen Wahrheit" aufgebauscht, davon Abweichendes wird unterschlagen. Diese Darstellungsform hat u.a. Hans Matthias Kepplinger [28] in vielen Studien zur Skandalisierung nachgewiesen.

Weit verbreitet ist die Darstellung von Einzelheiten als angeblich Ganzes bei der Vermittlung von Diskussionen oder Reden. Die Berliner Demonstrations-Rede von Robert Kennedy (den ein Mitglied der Tagesspiegel-Chefredaktion offenbar für tot hält [29]), wurde, wo es über das Schlagwort "Verschwörungstheoretiker" hinausging, als Warnung vor Bill Gates und dem Mobilfunknetz 5 G zusammengefasst [30]. Begonnen hatte er allerdings mit der Information, amerikanische Zeitungen hätten bereits im Vorfeld geschrieben, er werde in Berlin vor 5000 Nazis sprechen [31], was für die Einordnung der gesamten Berichterstattung nicht irrelevant ist. Zehn Minuten in ein oder zwei Sätze zu bekommen ist immer eine Herausforderung. Aber sie danach zu schmieden, dass sie in die vorhandene Erzählung passen, ist unredlich.

Unvollständige Medien

Die Forderung nach Vollständigkeit stößt bei einem einzelnen Beitrag natürlich schnell an Grenzen, u.a. von Zeit und Raum und Geld. Für die Beurteilung dieses Qualitätskriteriums müssen Orientierungsanspruch und Orientierungsmöglichkeiten gemeinsam betrachtet werden. Gleichwohl rechtfertigt keinerlei Ressourcenmangel, wider besseres Wissen unvollständig zu berichten. Das Mindestgebot lautet, auf bekannte Lücken hinzuweisen: "Weitere Positionen dazu in den nächsten Tagen", "Informationen zu XY liegen uns noch nicht vor", "die soeben erschienenen Studie haben wir selbst noch nicht gelesen" oder auch ein offenbarendes: "Wir wissen eigentlich nichts."

Das hat insbesondere in der Anfangsberichterstattung zu Corona gefehlt. Was die Politik gemacht hat, war ein riesiges Experiment, in welchem den Bürgern "durch politische Anweisungen das Verhalten im Experiment zugewiesen" wurde, wie es der emeritierte Journalistik-Professor Ulrich Pätzold beschrieb [32] und aus diesem Setting für den Journalismus folgerte: "Alle Nachrichten [...] müssen ihren Aussagewert an der Offenheit der experimentellen Anordnungen ausrichten."

Aber wo wurde dieses Nichtwissen deutlich artikuliert? Zu den schiefen Sprachbildern dieser Anfangsphase gehörte das "Fahren auf Sicht", was korrekt bedeutet: So langsam zu fahren, dass man jederzeit auf das Unvorhergesehene reagieren kann, tatsächlich aber meint: "Wir stochern mit allerlei Instrumenten im Nebel und schauen, wen wir treffen und was passiert." Eine kontinuierliche, vollständige Berichterstattung hätte diese schiefen Bilder durch Nachrichten ersetzt.

Zur vollständigen Berichterstattung eines Mediums gehört am Ball zu bleiben, wichtige Veränderungen mitzuteilen, vor allem Korrekturen, Widersprüche, neue Entwicklungen. Aber Redaktionen betrachten den Wert einzelner Nachrichten: Was wird gerade interessieren, was bringt Quote, womit werden die Kunden gehalten?

Nachdem Virologe Hendrik Streeck am 9. April erste vorläufige Ergebnisse [33] der "Heinsberg-Studie" vorgestellt hatte, überboten sich die Medien in Kritik und vermischten dabei alles: Wissenschaft, Politik und persönlich-berufsständischen Animositäten (weil die PR-Agentur von Ex-BILD-Chefredakteur Kai Diekmann für die Heinsberg-Studie aktiv geworden war). Als dann später die vollständigen Ergebnisse vorlagen, gab es kein Medieninteresse mehr. Stattdessen wird der Studie bis heute, wie Streeck beklagt [34], nach dem oben genannten Muster ein simples "umstritten" vorangestellt, anstatt die eigene Berichterstattung einmal upzudaten.

Diese stark verzerrende Unvollständigkeit ist gang und gäbe bei Vorwürfen: Strafanzeigen gegen (von den Medien wenig geschätzte) Prominente [35] finden regelmäßig große Aufmerksamkeit, die Einstellung der Ermittlungen und damit die juristische Bedeutungs- oder Haltlosigkeit Monate später hingegen nicht.

Im September wussten viele Medien von einer "Superspreaderin" in Garmisch-Patenkirchen [36] zu berichten. Sogar der 20-Uhr-Tagesschau war dies eine Meldung wert. Dass dabei mal wieder viel Wind um wenig [37] gemacht und allerhand Gemutmaßtes als Tatsachen verkauft worden war, fanden dieselben Medien später weniger interessant, die Superspreaderin darf im Gedächtnis bleiben, immerhin hatte auch schon Ministerpräsident Söder höchstselbst ein Urteil dazu gesprochen.

Zur Vollständigkeit der dankenswerten, aber zu späten Recherche des "Faktenfinders" hätte auch gehört, statt allgemein vom fragwürdigen Verhalten "einiger Medien" darüber zu sprechen, was eine solche Einzelfallmeldung ohne Beweise in der Hauptsendung der Tagesschau [38] zu suchen hatte.

Zur Vollständigkeit der Corona-Berichterstattung eines Mediums gehört, aus anderen Ländern nicht nur Infektionszahlen und politische Ge- und Verbote zu kolportieren, sondern auch kontroverse Debatten, Bürgerproteste und vieles mehr, das zu einem vollständigen Lagebild notwendig ist. Eine der vielen spannenden und wichtigen Fragen für die Medienforschung lautet daher: Was wissen wir Rezipienten eigentlich über die Corona-Pandemie? Wie gut decken sich unsere medial geprägten Bilder mit der Realität? Wie zum Beispiel hat US-Präsident Donald Trump auf die Corona-Pandemie reagiert? Was fällt uns ein, außer dass Trump angeblich geraten habe, Desinfektionsmittel zu trinken [39]?

Mit Trump sind wir mitten in einem eigenen großen Bereich von Vollständigkeit: der Meinungsvielfalt, um die es im vierten Teil gehen wird.

Teil 1: Elementare Defizite der Berichterstattung [40]
Teil 2: Wenn schon die Fakten nicht stimmen [41]


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Wenn-schon-die-Fakten-nicht-stimmen-4931119.html
[2] http://journalistikon.de/vollstaendigkeit/
[3] https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-abschlussbericht-der-aufklaerungskommission-a-1269110.html
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Funkkolleg
[5] https://www.dnn.de/Dresden/Lokales/Coronavirus-Dresdner-Pathologe-fordert-mehr-Obduktionen
[6] https://m.tagesspiegel.de/videos/berlin/video-zur-corona-demo-in-berlin-coronaleugner-demonstrieren-in-berlin/26058326.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Wenn-schon-die-Fakten-nicht-stimmen-4931119.html
[8] https://archive.org/stream/KischGW1112/Kisch%20GW%2011%3D12_djvu.txt
[9] https://www.projekt-gutenberg.org/kisch/sensatio/chap009.html
[10] https://heribertprantl.de/prantls-blick/corona-und-die-wahrheit/
[11] https://www.sueddeutsche.de/politik/aktuelles-lexikon-coronakabinett-1.4911230
[12] https://www.thueringer-allgemeine.de/regionen/erfurt/dramatischer-anstieg-40-neue-corona-faelle-in-erfurt-id230748702.html
[13] https://medienwoche.ch/2020/04/23/bei-solchem-journalismus-bin-ich-etwas-ratlos/
[14] https://kress.de/news/detail/beitrag/144784-7-tipps-fuer-einen-besseren-corona-journalismus.html
[15] https://www.spiegelkritik.de/2020/10/20/medienkritik-zum-corona-journalismus-sammlung/
[16] https://datawrapper.dwcdn.net/gmlUF/42/
[17] https://www.diw.de/de/diw_01.c.795735.de/publikationen/diw_aktuell/2020_0052/menschen_ueberschaetzen_risiko_einer_covid-19-erkrankung__beruecksichtigen_aber_individuelle_risikofaktoren.html
[18] https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?operation=previous&levelindex=1&step=1&titel=Ergebnis&levelid=1603553921272&acceptscookies=false#abreadcrumb
[19] https://www.vice.com/de/article/3a8ymy/coronavirus-italien-wohin-mit-den-toten
[20] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_blinden_M%C3%A4nner_und_der_Elefant
[21] https://www.heise.de/tp/features/Wir-retten-Menschenleben-mit-Menschenleben-ohne-darueber-zu-verhandeln-4715085.html?seite=all
[22] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/coronakrise-entwicklungsminister-mueller-an-den-folgen-der-lockdowns-werden-weit-mehr-menschen-sterben-als-am-virus/26209144.html
[23] https://www.heise.de/tp/features/Hunger-ist-gewollt-4930450.html
[24] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-albtraum-lockdown-warum-jetzt-droht-was-alle-ausgeschlossen-haben-a-00000000-0002-0001-0000-000173548904
[25] https://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/die-qualitaet-der-berichterstattung-ueber-ernaehrung
[26] https://www.berlin.de/aktuelles/berlin/6317656-958092-cdu-fordert-konsequentere-durchsetzung-d.html
[27] https://www.rheinpfalz.de/lokal/ludwigshafen_artikel,-quarant%C3%A4ne-app-und-fu%C3%9Ffessel-spd-emp%C3%B6rt-%C3%BCber-pl%C3%A4ne-der-cdu-landtagsfraktion-_arid,5062037.html
[28] https://www.kepplinger.de/content/publikationen
[29] https://www.tagesspiegel.de/berlin/corona-demonstration-in-berlin-unertraeglich-bizarr-aber-auch-legitim/26140676.html
[30] https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/08/demonstrationen-samstag-corona-querdenken-gegendemos.html
[31] https://www.youtube.com/watch?v=GHBzjfS3PdU
[32] https://www.uli-paetzold.de/beitrag-lesen-11/items/corona-und-journalismus.html?
[33] https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/zwischenergebnis_covid19_case_study_gangelt_0.pdf
[34] https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/hendrik-streeck-anti-drosten-missverstandener-medien-star-wer-ist-er-wirklich-a-00000000-0002-0001-0000-000173654768
[35] https://www.spiegelkritik.de/2015/06/06/strafanzeigen-haben-keine-journalistische-relevanz/
[36] https://www.rnd.de/panorama/33-neue-falle-an-einem-tag-reiseruckkehrerin-als-superspreaderin-in-garmisch-N64DXQ2JRYKVBWVRU6FTO3GXEQ.html
[37] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/superspreaderin-garmisch-corona-101.html
[38] https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-756207.html
[39] https://www.tagesschau.de/ausland/trump-desinfektionsmittel-101.html
[40] https://www.heise.de/tp/features/Elementare-Defizite-der-Berichterstattung-4926002.html
[41] https://www.heise.de/tp/features/Wenn-schon-die-Fakten-nicht-stimmen-4931119.html