Harmonische Eintracht
Findet heute ein kosmisches Wunder statt?
Sonnenstürme! Mondfinsternis! Harmonische Eintracht! Esoteriker und Astrologen weltweit sind aus dem Häuschen, weil sich angeblich Großes anbahnt am Firmament. Und zwar bilden die Gestirne am Samstag, den 8. November 2003, um 12.20 Uhr [sic!] MEZ einen Sechszack - auch Christusstern, Davidstern, Hexagramm oder Solomonssiegel genannt. Wenn das kein Zeichen ist!
Leider kann man dieses großartige Ereignis hierzulande nicht mit eigenen Augen verfolgen, weil um diese Uhrzeit bekanntlich die Sonne scheint. Was spirituell angehauchte Zeitgenossen jedoch nicht anficht. Schließlich muss man die kosmische Energie nicht sehen, sondern fühlen. Und überhaupt: "die Vorbereitung auf die Zeremonie IST die Zeremonie". Das jedenfalls behauptet eine der zahlreichen englischsprachigen Websites zum Thema - und listet minutiös auf, wie entsprechende Rituale zu gestalten sind.
'Entdeckt' wurde das kosmische Wunder in den Vereinigten Staaten. Seit Wochen frohlocken auch deutschsprachige Seiten vom Engel-Portal bis zu vereinzelten Illuminationsmasseuren und beten nach, was der esoterische Astrologe Coe Savage verkündet hat: Dass eine kosmische Wende bevorsteht. Dass eine Menge Energie freigesetzt werden wird. Und dass man sich dieser Energie öffnen muss. Weil nichts von allein passiert. Man muss schon wollen, wie Savage erklärt: "The old free-will thing, you know."
Apropos freier Wille: Vielleicht geht es ja gar nicht um Himmelserscheinungen. Vielleicht ist das Ganze ja nur ein Prank des mit wenig Fortüne gesegneten Frankfurter Clubs? Jedenfalls stammt die letzte Meldung, die einerseits mit dem Verein zu tun hat und andererseits die Formulierung 'harmonische Eintracht' enthält aus dem Jahre 1998. Da käme so ein Energieschub aus dem All gerade recht. Schade nur, dass das Spiel gegen den aktuellen Tabellenführer VFB Stuttgart erst um 15.30 Uhr angepfiffen wird. Da wäre die harmonische Eintracht schon drei Stunden alt und das Kraftfeld schon wieder am schrumpfen. Doch halt! Die einschlägigen Websites behaupten doch glatt, die kosmische Ausnahmesituation dauere an bis Ende des Monats.
So weit, so gut. Bleibt nur noch ein klitzekleines Problem: der amerikanische Gewährsmann Coe Savage gibt den Zeitpunkt der maximalen Energie mit 8. November, 7.20 p.m. Central Standard Time an. Eingedenk der Zeitverschiebung von 7 Stunden wäre das bei uns der 9. November, 02.20 a.m. Auf den entsprechenden deutschsprachigen Websites steht - wenn überhaupt eine Zeit angegeben wird - jedoch hartnäckig 8. November, 12.20 Uhr. Passt wahrscheinlich besser ins deutsche Freizeit-Programm. Schließlich gibt es jede Menge zu tun: Die einen fasten und meditieren, andere trinken Kräutertee und futtern Kekse, manche schmieren sich mit High-Spirit-Öl ein, während ehemalige Waldorfschüler Eurythmie praktizieren, auf deutsch gesagt: sie wedeln mit bunten Tüchern durch den Raum. Klingt albern, ist dem Ereignis aber durchaus angemessen. Schließlich fand schon Lukianos von Samosata: "Jener Reigen der Gestirne, die Stellungen der Planeten gegen die Fixsterne, die schöne Ordnung und harmonische Eintracht in allen Bewegungen - was ist das alles anderes als das Bild jenes Urtanzes."
Am Himmel präsentiert sich die Harmonische Eintracht in Form zweier ineinander gestülpter sternförmiger Tetraeder: das eine wird gebildet von Mars, Saturn und Sonne, das andere von Mond, Jupiter und Chiron. Kleiner Schönheitsfehler: Chiron ist bloß ein Asteroid beziehungsweise ein Komet, beim Rest jedoch handelt es sich um waschechte Planeten. In der Astrologie spielt Chiron dennoch eine große Rolle. Weil der narbige Himmelskörper benannt ist nach dem Zentaur Ch(e)iron, der an einer unheilbaren Wunde litt und in der griechischen Mythologie als Erfinder der Heilkunst gilt. Dass es Chirons Entdecker und Namensgeber Charles Kowal nicht um die Zuschreibung heilerischer Kräfte, sondern vielmehr um die Kennzeichnung seiner Doppelnatur (Zentauren sind Fabelwesen mit menschlichem Oberkörper und Pferdeleib; Chiron, Pholus und die anderen so genannten Centauren sind eine Mischung aus Asteroid und Komet) ging, wird geflissentlich ignoriert. Die Geschichte mit der unheilbaren Wunde passt einfach zu gut ins Konzept. Flugs avancierte Chiron seit seiner Entdeckung anno 1977 zum Schutzpatron der Traumatisierten und gilt als Symbol für die persönliche Schwachstelle.
Ähnlich rigoros wird im Hinblick auf Vorzeichen verfahren. Zum Beispiel gibt es da einen aufwendig gestalteten Kornkreis. Die Aufnahme stammt zwar aus dem vorletzten Sommer, aber was nicht passt, wird halt passend gemacht:
Nicht schlecht, was? Dies ist einer der neuesten und größten Kornkreise, über den am 18. Juli 2002 erstmals berichtet wurde. Wir haben uns erlaubt, ihn (jedenfalls vorerst) inoffiziell 'Harmonische-Eintracht-Kornkreis' zu nennen. Wir [von der Website] begreifen ihn natürlich als eine Bestätigung von 'höheren Kräften', dass wir es mit etwas richtig Großem zu tun haben. Könnt ihr euch vorstellen warum? Die Tatsache, dass er in Avebury, England, unweit von Stonehenge, erschienen ist, scheint uns sehr bedeutungsvoll zu sein.
Natürlich. Mit ein bisschen gutem Willen kann man überall Wunder und Zeichen entdecken. Sogar in der modernen Malerei. Man denke nur an das Bild von Sigmar Polke mit dem Titel: 'Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!' (1969).
Dass die als 'Harmonische Eintracht' beschworene Konstellation ausgerechnet einem Davidstern entsprechen soll, ist ja ganz nett, aber genauso gut lassen sich am Firmament vom BMW-Kühlergrill über USB-Stecker bis hin zu Teletubbies alle nur erdenklichen Objekte sichten. Unsere tradierten Sternbilder sind ja nur eine von vielen Möglichkeiten, den Himmel einzuteilen, und es wäre es ein Leichtes, den altmodischen Großen Wagen durch ein zeitgemäßeres Modell zu ersetzen. Umgekehrt braucht man ja auch ein gerüttelt Maß an Fantasie, um in einem Haufen mehr oder wenig schwach leuchtender Punkte einen Luchs oder gar das Haar der Berenike zu erkennen. Anders ausgedrückt: Irgendwie erinnert dieses Wahrnehmungsproblem an jenes Bild von Martin Kippenberger mit dem Titel 'Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen': es kommt eben darauf an, was man sehen will.
Trotzdem muss sich niemand um sein Samstags-Event betrogen fühlen, schließlich gibt es in der Nacht von heute auf morgen eine totale Mondfinsternis. Im Gegensatz zur 'Harmonischen Eintracht', die - Zeitverschiebung hin oder her - am Tageshimmel auch beim besten Willen nicht zu erkennen ist, kann man die Mondfinsternis ab Mitternacht mit bloßem Auge verfolgen. Sofern es keine dichte Wolkendecke gibt. Ansonsten darf man darauf vertrauen, dass tausende Sternwarten und Astonomen weltweit ungetürkte Aufnahmen liefern, die man dann am Montag in der Zeitung bewundern kann.