Harte Strafen für Behindertenrechtsaktivisten
Von der Flughafen-Blockade zur Gerichts-Blockade: Die ableistische Gesellschaft in Frankreich und Deutschland
Dieses Kapitel der Geschichte endet - vorläufig - mit harten Strafen. Gegen 15 der Angeklagten wurden vom Strafgericht in Toulouse "beispiellose Haftstrafen" auf Bewährung verhängt. Hinzu kommen Geldstrafen. Angeklagt waren 16 Aktivist:innen mit Behinderungen.
Zur Last gelegt wurde ihnen, dass sie im Jahr 2018 einen TGV im Bahnhof Matabiau blockiert und dann später die Start- und Landebahnen des Flughafens Toulouse-Blagnac "gestürmt hatten".
Sechs Monate Haft auf Bewährung sprach das Gericht für Odile Maurin, der Präsidentin von "Handi Social" aus; ein weiterer Rollstuhlaktivist erhielt eine viermonatige Bewährungsstrafe, die anderen zweimonatige Bewährungsstrafen. Ein 16. Angeklagter erhielt eine Geldstrafe von 750 Euro, berichtet der Figaro von der Urteilsverkündung am gestrigen Mittwoch. Das Gericht sei damit etwas milder gewesen, als die Staatsanwaltschaft es forderte.
Die Anwälte der Aktivistengruppe "Handi Social" bewerteten das Urteil als "skandalös". Die friedliche Aktion sei aus einer Notwendigkeit geboren, so Christophe Lèguevaque: "Die Aktivisten hätten keine andere Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen". Man wolle Berufung einlegen und bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen.
Der Prozess gegen die Aktivist:innen von "Handi Social" begann am 23. März 2021. Sie hatten ihren Forderungen nach Barrierefreiheit und mehr Rechten für Menschen mit Behinderung mit gewaltfreien Aktionen Ausdruck verliehen. Von der Staatsanwaltschaft wurde ihnen demgegenüber ein schwerer Eingriff in den Bahn- und Flugverkehr vorgeworfen. Die Aktivist:innen nutzten den Prozess als politische Bühne und prangerten "Ableismus" (strukturelle Behindertenfeindlichkeit) und mangelnde Barrierefreiheit an.
Das Gericht machte dabei keine gute Figur, es reproduzierte genau diesen gesellschaftlichen Ableismus und missachtete die Würde und die Rechte der Angeklagten. Zur Ironie der Geschichte gehört: Der 23. März 2021 endete schließlich mit einer Besetzung des Gerichtsgebäudes aufgrund mangelnder barrierefreier Rückfahrmöglichkeiten.
Die Situation in Deutschland ist vergleichbar, auch hier wird die UN-Behindertenrechtskonvention oft missachtet.
Protest um "accessibilité" und ein Leben in Würde
"Accessibilité" ist der französische Begriff für "Barrierefreiheit" und bedeutet wörtlich übersetzt "Zugänglichkeit". Menschen mit Behinderung werden in ihrem Alltag mit zahlreichen Hürden konfrontiert. Das ist in Frankreich nicht anders als in Deutschland. Die Politik beschränkt sich auf Lippenbekenntnisse. Taten folgen nicht oder selten.
Es kommt sogar schlimmer. Nicht selten wird ein Gesetz verabschiedet, das das Leben von Menschen mit Behinderung erschwert. Weil nicht mit ihnen, sondern über sie geredet und entschieden wird. Weil die Interessen der Wirtschaft mächtiger sind, als die Belange einer Minderheit.
In Deutschland ist das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz IPReG ein gutes Beispiel dafür. Das im Sommer verabschiedete Gesetz wurde gegen den Protest zahlreicher Interessenverbände verabschiedet. Künstlich beatmete Menschen werden durch dieses Gesetz faktisch dazu gezwungen, in Heimen zu leben. Viele Betroffene sagen, dass sie lieber sterben wollen, als einsam und fremdbestimmt weit weg von ihrem sozialen Umfeld zu leben.
Gesundheitsminister Spahn begründet die neue Regelung damit, dass man die Pflege verbessern wolle, die Menschen seien in Heimen besser aufgehoben. Für diese Aussage gibt es keine Belege und die Kritik von Betroffenen und Verbänden wird ignoriert. Selbst wenn, wie vor wenigen Wochen in Potsdam Oberlinhaus, eine Pflegerin vier Menschen tötet und eine weitere Person schwer verletzt.
Der Fokus der Öffentlichkeit liegt auf der Täterin und ihrer möglichen psychischen Erkrankung, nicht auf den Opfern und der lange schon von Betroffenen, ihren Angehörigen und Verbänden angeprangerten tagtäglichen Gewalt in den Einrichtungen.
In Frankreich wurde 2018 das Gesetz "Elan" verabschiedet. Das Akronym Elan steht für "l'évolution du logement, de l'aménagement et du numérique"; auf Deutsch: "Entwicklung der Wohnung, der Gestaltung und des Digitalen". Das Gesetz sorgte bei Menschen mit Behinderung für großen Unmut.
Die Anforderungen an die Barrierefreiheit für Neubauten wurden mit diesem Gesetz gesenkt. Nur noch 20 Prozent der neu gebauten Wohnungen müssen barrierefrei gestaltet sein. Ein Gesetz aus dem Jahr 2005 sah 100 Prozent vor. Bei den übrigen 80 Prozent soll lediglich die Möglichkeit eines späteren Umbaus bestehen.
Sowohl bei dem Gesetz "Elan" als auch beim vorgängigen Gesetz aus dem Jahr 2005 beziehen sich diese Zahlen auf den Neubau von Wohnungen, die entweder im Erdgeschoss liegen oder mit einem Aufzug zugänglich sind. Eine Pflicht einen Aufzug zu bauen, besteht nur bei Gebäuden mit mehr als zwei Etagen.
Für die Aktivist:innen von Handi Social war das Maß voll. Wenn Worte nichts bewirken, braucht es radikaleren, aufsehenerregenden Protest, überlegten sie. Gegenstand der Gerichtsverhandlung, die am 23. März begann, waren zwei Aktionen am Bahnhof und am Flughafen von Toulouse - sowie eine Blockade der Zementfabrik von Lafarge.
Die Protestaktionen
Die erste Aktion richtete sich gegen die Zementfabrik von Lafarge. Der Eingang wurde blockiert, weil der Konzern die in der FFB (fédération francaise du Bâtiment: Interessenvertretung der Bauwirtschaft) zusammengeschlossenen Firmen mit Zement versorgt. Die FFB tritt als Lobbyist für die Entschärfung der Verpflichtungen zur Barrierefreiheit in der Gebäudewirtschaft ein.
Die zweite Aktion sorgte für große Aufregung: Aktivist:innen mit unterschiedlichen Behinderungen drangen auf das Rollfeld vom Flughafen Toulouse-Blagnac. Die Aktion am 14. Dezember 2018 gelang trotz erhöhten Sicherheitsvorkehrungen wegen Anschlagsgefahr am Flughafen. Flugzeuge wurden umgeleitet. In einem Video zur Aktion verleihen die Aktivist:innen ihren Forderung Ausdruck:
Wir sind hier, weil wir Fortschritte statt Rückschritte in Sache Barrierefreiheit wollen. Wir sind hier, weil wir eine Verbesserung und keine Verschlechterung von gesetzlichen Nachteilsausgleichen für behinderte Menschen wollen. Wir fordern ein würdiges Mindesteinkommen für Menschen mit Behinderung, ohne dass das Einkommen des Ehepartners gegengerechnet wird
Handi Social
Odile Maurin, Rollstuhlfahrerin und Vorsitzende von Handi-Social: "So lange es keine Freizügigkeit für uns in diesem Land gibt, wollen wir Sie am fliegen und fahren hindern."
Aktion am Bahnhof Matabiau im Herbst 2018, Forderung nach Barrierefreiheit
Die Aktivist:innen hatten zuvor die mangelnde Barrierefreiheit im öffentlichen Personenverkehr mit einer Blockade der Bahngleise am Bahnhof Toulouse Matabiau angeprangert. Das Kollektiv hinderte den TGV Toulouse-Paris an der Abfahrt.
"Es ging darum, auf die nicht eingehaltenen Zusagen der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF hinzuweisen, die Barrierefreiheit des Bahnhofs zu verbessern. Verpflichtungen, die acht Jahre alt waren und nicht umgesetzt worden waren", erklärt Odile Maurin. Die SNCF versprach nach der Aktion, Bauarbeiten durchzuführen, dieses Versprechen wurde jedoch nur zur Hälfe umgesetzt.
Die mangelnde Barrierefreiheit im öffentlichen Personenverkehr ist in Deutschland ebenfalls ein Dauerproblem. Wer mit der Bahn im Fernverkehr reisen will, muss sich beim Mobilitätsdienst zwei Tage im voraus anmelden, damit beim Einstieg ein Hublift für den Rollstuhl zur Verfügung steht.
Im Nahverkehr gibt es ebenfalls viele Hindernisse. Nur ein Bruchteil der Bushaltestellen ist beispielsweise barrierefrei umgebaut. "Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen", heißt es im Personenbeförderungsgesetz.
Hintergrund ist die UN-Behindertenrechtskonvention, wonach die Vertragsstaaten, zu denen seit dem Jahr 2009 auch die Bundesrepublik Deutschland gehört, zu Barrierefreiheit verpflichtet sind. Die zuständigen Behörden halten sich an diese Vorgaben jedoch nicht, das Gesetz bietet viele Schlupflöcher und Ausnahmeregelungen.
Unhaltbare menschenunwürdige Zustände vor Gericht
Der Gegenstand des Prozesses in Toulouse wurde fast anekdotisch, da sich die Debatten um die Behandlung der Angeklagten drehten, die alle eine Behinderung haben.
Es begann damit, dass die Angeklagten im Rollstuhl den Gerichtssaal nicht erreichen konnten, weil der Aufzug, der einem Lastenaufzug ähnelte, nicht durch die Betroffenen alleine bedient werden konnte und das Gericht kein Personal dafür bereitstellte. Die Polizei half schließlich aus.
Die Gerichtsverhandlung fand unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Für Presse und Publikum war auf Grund der Corona-Bestimmungen kein Platz. Der Saal war bereits mit dem Gericht, den 16 Angeklagten, ihre Betreuungspersonen und ihren drei Anwälten voll. Die Verteidigung twitterte über den Prozess, um die Öffentlichkeit auf dem Laufenden zu halten.
Die Rechte der Angeklagten wurden im Saal weiter missachtet, auf Kritik reagierte das Gericht "ableistisch". Der Fall von Bédria, die Schwierigkeiten hat, sich zu äußern, ist symptomatisch dafür. Das Gericht stellte keinen Dolmetscher zur Verfügung, und als sie sprach, unterbrach die Richterin sie, um ihr mitzuteilen, dass sie nicht verstanden habe.
"Ich weiß, es ist schwer für Sie, aber es ist auch schwer für das Gericht", sagte die Richterin und löste damit Empörung im Gerichtssaal aus. Es gab außerdem keine Übersetzung der schriftlichen Dokumenten in Braille-Schrift für eine Person mit Sehbeeinträchtigung. Eine Person musste im Saal urinieren, weil es keine zugängliche Toilette für sie gab. Andere hatten mit Diskriminierung gerechnet und Windeln angezogen.
Der ableistischen Gesellschaft den Prozess machen
Die Angeklagten erläuterten, sofern es ihnen praktisch möglich war, ihre Beweggründe und Forderungen vor Gericht.
"Ich warte bereits 40 Jahren auf Barrierefreiheit, wir leben im permanenten Lockdown. Die Flugzeuge und die Züge können für die Dauer einer Aktion warten," begründete Odile Maurin die Legitimität der Aktion.
Die Anwälte der Verteidigung stellten verfahrensrechtliche, grundrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen in den Vordergrund. Es könne keinen gefährlichen Eingriff in den Schienen und Flugverkehr gegeben haben, da niemand zu Schaden gekommen oder gefährdet worden sei. Sie plädierten auf Freispruch oder Einstellung wegen Verfahrenshindernis. Die Staatsanwaltschaft beantragte Gefängnis auf Bewährung zwischen 3 und 8 Monaten und Geldstrafen.
Gerichtsgebäude besetzt
Der erste Prozesstag endete, wie er begann: mit Barrieren. Das Gericht hatte die Anträge und Warnungen der Verteidigung stets ignoriert. Die Verhandlung hatte um die Mittagszeit begonnen und wurde erst um 22 Uhr geschlossen. Die Angeklagten hatten um 20 Uhr eine Vertagung beantragt, weil sie den barrierefreien Dienst des lokalen ÖPNV Anbieters für diese Uhrzeit gebucht hatten.
Sie müssen eine solche Fahrt sieben Tage im Voraus anmelden, da nur eine Metro-Linie in Toulouse barrierefrei ist. Sie hatten nicht mit einem so späten Ende der Verhandlung gerechnet. Pflegebedürftige Angeklagte mussten zudem kurzerhand ihre abendliche Versorgung umorganisieren.
Die Angeklagten, ihre Anwälte und Unterstützer beschlossen spontan, das Gerichtsgebäude zu besetzen, bis eine Lösung gefunden wird. Die Aktion trug ihre Früchte. Der Präsident des Amtsgerichts und der Oberstaatsanwalt kamen zum Gericht und es wurde eine Rückreisemöglichkeit gefunden. Die Angeklagten wurden gegen Mitternacht mit barrierefreien Bussen des lokalen ÖPNV-Anbieters abgeholt.
Rechtsanwalt Christoph Leguevaques fasste den Tag aus Sicht der Verteidigung so zusammen: "Sie müssen sich eines vergegenwärtigen: Gestern (am 23.3.2021, Anm. d. A.) fand nicht ein Prozess gegen Menschen mit Behinderungen statt, die sich über Verbote hinweggesetzt haben, sondern ein Prozess gegen eine Gesellschaft, die nicht weiß, wie sie ihre Worte mit ihren Taten in Einklang bringen kann. Barrierefreiheit ist ein grundlegendes Prinzip. Es liegt an uns, diesen hochtrabenden Worten Substanz zu verleihen, damit Menschen mit Behinderungen endlich als das anerkannt werden, was sie sind: Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten."
Ableismus - aus dem Englischen to be able (= fähig sein) - bezeichnet die Abwertung und strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Beim Ableismus geht es darum, wie nicht-behinderte Menschen das Leben von Menschen mit Behinderung bewerten; welche Bilder und Stereotypen sie im Kopf haben, wenn sie an behinderte Menschen denken. Es geht aber auch um die Barrieren, die die Gesellschaft schafft und aufrecht erhält. Menschen werden durch die Gesellschaft behindert.