Hat Sars für einen Durchbruch gesorgt?

Eine Bestandsaufnahme des chinesischen E-Business

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Der Frühling wird bald vorbei sein. Die Kaiserstadt Peking hat noch nie einen so düsteren Frühling erlebt wie im Jahr 2003: Sars hat den normalen Rhythmus des Lebens durcheinander gebracht. Die Schritte von denjenigen, die zur Arbeit gehen, sind schneller geworden. Ohne Atemmaske wird man geradezu als "fremdes Element" betrachtet. Sars hat eine Sonderumwelt und merkwürdige Straßenbilder geschaffen. Kein reges Leben mehr in den Fußgängerzonen; überall riecht es nach Desinfektionsmitteln. Öffentliche Verkehrsmittel und Taxis mit offenen Fenstern sind gähnend leer. Träge sind abends die Neonlichter in den Straßen; auch die Stätten des "Entertainment" sind menschenleer.

Sprunghafte Zahlen, nach unten wie nach oben

Was das Wirtschaftsleben angeht, so finden hier sonst unzählige nationale und internationale Veranstaltungen statt. Konzernbosse und Bankiers waren willkommene Gäste; Milliardenverträge wurden hier unterzeichnet. Jählings wurde die Hauptstadt mit einem Kampf um Leben und Tod konfrontiert. Das Wirtschaftszentrum nähert sich dem Gefrierpunkt: Termine werden verschoben oder gestrichen; Verhandlungstische bleiben leer. Messegelände geschlossen; still sind die Börsenhäuser...

In der "Goldenen Woche" nach dem 1. Mai sind in Wangfujin, der Hauptgeschäftsstraße in Peking, 70% Menschen weniger als früher gezählt worden. Das Absatzvolumen der Geschäfte ist um 93,84% gesunken. Keine Touristen, kaum Kunden; die Kassiere haben endlich Zeit fürs Teetrinken. Dieses Desaster betrifft vor allem Peking, aber nicht nur. Denn das ganze Land wurde von dem Schweren Akuten Atemwegssyndrom in Panik versetzt. Man bleibt nun möglichst viel zu Hause. Die chinesische Wirtschaft hat also eine schwere Prüfung zu bestehen.

Um so mehr sind, fast über Nacht, Online-Shopping oder E-Business en vogue geworden, als hätte man plötzlich etwas Neues entdeckt. Online-News lesen, Chatten, Emailen: das alles ist in einigen Kreisen noch populärer geworden. Niemand weiß im Moment, wie lange der Kampf gegen die Lungen-Epidemie noch andauern wird. Eins steht aber fest: das Internet hat sich in dieser Zeit des Vermeidens eines direkten Kontakts richtiggehend bewährt.

Die Zahl der täglichen Pageviews bei Sina.com hat sich um 40% erhöht. 263.net, der größte Pekinger Access-Provider für private Nutzer, musste in kürzester Zeit 5000 Access-Points zusätzlich ausrüsten. Nicht nur Chaträume und Online-Spiele melden andauernd Rekorde, was die Besucherzahlen angeht. Es scheint sich auch anzukündigen, dass der seit langem ersehnte Frühling der Internetwirtschaft nun endlich zurück gekommen ist. Und das E-Business partizipiert an dem Trend ganz gewaltig:

Joyo.com, die größte online Shopping-Mall für Media Player in China (B2C), hatte im Mai dieses Jahres in der ersten Monatshälfte ein Absatzvolumen von 15 Millionen Yuan, während früher das durchschnittliche monatliche Absatzvolumen ca. 1 Million Yuan betrug. Das Absatzvolumen der allseits bekannten Eachnet.com (C2C) beträgt im Moment jeden Tag ca. 1,7 Millionen, das bedeutet fast eine Verzehnfachung gegenüber früher. Alibaba.com, mit 1,2 Millionen registrierten Unternehmen und Firmen angeblich die weltweit größte Website für B2B-Geschäfte, unter anderem darauf spezialisiert, chinesische und ausländische Firmen zusammenzuführen, veröffentlicht jeden Tag ca. 20.000 Angebote und Nachfragen - vier mal so viel wie zur gleichen Zeit im Vorjahr! Und die Monatsbesucherzahl seit drei Monaten beträgt 160 Millionen. In der Sars-Zeit ist landesweit das E-Business in den Bereichen der Produktionsmittel-Industrie und der Konsumgüter-Industrie um 50% bzw. 100% gestiegen, die elektronischen Handelsaktivitäten zwischen Verbrauchern nahmen um ca. 30% zu.

Online-Shopping - nur aus purer Neugier

Endlich ist ihre Chance gekommen, so denken viele E-Business-Akteure: Das chinesische Wort für "Krise" bedeutet ja doch zugleich "Gefahr" und "Chance". Sars habe die Konsumgewohnheiten der Menschen geändert, heißt es in den chinesischen Medien. Es habe einen neuen Konsumtrend hervorgebracht. Während man fast gezwungenermaßen dem traditionellen Geschäft die kalte Schulter zeigt, erklomm das E-Business, das in China alles andere als beliebt war, nun abrupt Rekordhöhen in der Gunst der Verbraucher.

Besonders in dem jetzigen Sars-bedingten "Ausnahmezustand" ist E-Business eine optimale Möglichkeit zum Geschäftemachen, oder einfach auch für manche eine Erleichterung im täglichen Leben. Die Anzahl der Geschäftsreisen ist stark reduziert worden und der normale Verbraucher geht, wenn es nicht unbedingt nötig ist, im Moment wohl auch nicht mehr ins Geschäft. Wer weiß, wo die Sars-Keime sich verstecken? Hat also die Epidemie dieser ungewöhnlichen Lungenentzündungen, so bitter es auch klingt, das Aufblühen der Internetwirtschaft gezeitigt?

Dem neuen Bericht von China Internet Network Information Center (CNNIC-Bericht: 1/2003) zufolge haben 70% der chinesischen Internetnutzer im Jahr 2002 kein einziges Mal online eingekauft. In der Umfrage gibt nur 0,1% der Internetnutzer überhaupt Online-Shopping als das Hauptmotiv an, ins Netz zu gehen; 1,0% nennt als Zweck Handelsaktivitäten. Bei dem oft besuchten Informationsservice betreffen jeweils 11,5% der Nachfragen Online-Shopping und 5,5% den Aktienhandel. Die meisten der 0,1% jener Internetnutzer, die im letzten Jahr das Internet zum Online-Shopping nutzten, haben übrigens lediglich aus purer Neugier online eingekauft, so heißt es in demselben Bericht. Das heißt: In China hatte sich trotz rasanter Zunahme der Internetnutzer noch keine verhältnismäßig stabile, das Netz nutzende Verbrauchergruppe gebildet. Selbstverständlich spielen bei dem Geschäftsmodell B2C die Konsumgewohnheiten der Verbraucher aber eine große Rolle.

In diesem Kontext muss man wirklich sehr realitätsfern sein, um zu glauben, was man im Moment in der chinesischen Presse oft zu lesen bekommt, nämlich dass China gerade ein großes "Netzleben-Manöver", einen Test der Alltagstauglichkeit und Relevanz des Netzes für das Leben der Bevölkerung erlebt. Denn in dem Riesenreich machen selbst 59,1 Millionen Internetnutzer nur 4,6% der Gesamtbevölkerung aus.

Wie unpopulär bei diesen das E-Business ist, zeigt noch eine andere umfangreiche Untersuchung von Chinalabs.com (Mai 2003), welche die Internetnutzer in fünf Typen einteilt: In China gehen 22,14 Millionen Menschen vor allem wegen der Informationsgewinnung (News, Search, Online-Lektüre etc.) ins Internet, 21,42 Millionen wegen der Kommunikation (Chatten, Email, SMS, BBS etc.). Entertainment (Online-Spiele, Multimedia etc.) steht auf Platz drei: 12,93 Millionen. Ihnen folgen die 4,22 Millionen Nutzer, die wegen des im Netz angebotenen Online-Service (E-Learning, E-Medical Advice/ärztliche Beratung etc., einschließlich Downloaden) das Internet nutzen. Als Letztes kommt das E-Business (Online-Shopping, Aktienhandel etc.) mit nur 1,77 Millionen Nutzern. Also verwundert es nicht, dass in China, nach den USA die zweitgrößte Internetnation der Welt, im Jahr 2002 der Gesamtumsatz des E-Business weniger als zwei Milliarden Yuan (ca. 250 Millionen US$) betrug, während weltweit ein Absatzvolumen von 30 Milliarden US$ zu verzeichnen war.

Flaschenhals des E-Business

Obwohl die chinesische Regierung in Sache Förderung des Internet vor allem wirtschaftliche Interessen verfolgt und ihr zentrales Anliegen dementsprechend auch eine optimale Ausnützung des ökonomischen Potentials der neuen Technologien ist, haben die neuen Modelle des E-Business noch nicht viel an den herkömmlichen Geschäftsmodellen verändert. Das E-Business befindet sich in China noch immer in einer Anfangsphase und die Geschäftsfunktion des Internet ist im Moment, wie ja auch die statistischen Zahlen zeigen, noch ziemlich begrenzt.

Man erinnert sich allerdings noch gut an die Zeit, als das E-Business als neue Geschäftschancen in der chinesischen Debatte viel bejubelt wurde. Ein ganzes Jahr lang, nämlich im letzten Jahr des vergangenen Jahrtausends, schienen die allgegenwärtigen Dotcom-Firmenschilder in dem Pekinger Stadtviertel Zhongguanchun, das man auch das chinesische Silicon Valley nennt, einen wahren Boom anzukündigen: Eine andere Zeit schien angebrochen zu sein. Die CEOs auf den Chefsesseln galten natürlich als die "einfallsreichen jungen Leute", hinter ihnen standen die "Risikokapitalisten". Sie alle mussten ziemlich bald feststellen, dass der Nasdaq sich wohl über die Dotcoms nur lustig gemacht hatte. Die New Economy ging in den Keller; sie hat sich bis heute von der Erfahrung erheblicher Kapitalvernichtung, die der überzogenen Euphorie folgte, nicht erholt. Die Dynamik der kapitalistischen Krise, die im weltweiten Börsencrash kulminierte, hatte gerade diese Zukunftssparte als das enthüllt, was sie war: ein überschätztes Kind der Spekulation.

Die unzähligen "digitalen Helden", welche - eine neue Identität gewinnend und die Ärmel hochkrempelnd - zusammen mit der ganzen Nation die "digitale Kluft" überspringen wollten, verschwinden seither einer nach dem anderen. Es scheint wirklich eine andere Zeit gekommen zu sein, und damit auch eine andere Jahreszeit. Im Frühling und im Sommer des ersten Jahres des neuen Jahrtausends spürte man ja fast nur den Frost. Man befand sich, so wurde von den unverbesserlich Hoffnungsvollen orakelt, noch im "Winter des IT-Sektors". Die Zahlen belegten den Trend: Anfang 2000 gab es in China insgesamt 1665 B2C-Websites; bis Ende des Jahres waren es noch ca. 1300; ein Jahr später sogar nur 1188, welche der kalten Strömung des Nasdaq die Stirn boten.

Viele heute bestehende E-Business-Websites sind zwar nicht mehr so aufgebauscht, die Unternehmen nicht mehr so absolut überbewertet; aber von wirklicher Gesundung kann wohl nur sehr bedingt die Rede sein: Geld verdienen tun nur wenige, in erster Linie die großen und bekannten. Die Konsolidierung des Sektors läuft hinaus auf Konzentration - eine Tendenz, die wir ja auch in Europa und Nord-Amerika wieder verschärft bemerken.

Diejenigen, die sich mit dem E-Business in China beschäftigen, kennen vielleicht - was B2C betrifft - dessen bekannte hybride Struktur: Bestellung per Mausklick, Auslieferung per Fahrrad und Bezahlung in bar. Mit anderen Worten: Das Umschwenken auf Online-Business kann in vielen Bereichen, vor allem im Einzelhandel, Probleme wie Verkehrstaus, schlechte Qualität der Waren und Schwierigkeiten mit der Warenrückgabe gar nicht lösen. Diese Mängel der Organisation wie auch der Infrastruktur hemmen schon seit geraumer Zeit den chinesischen B2C Handel und dies trifft in hohem Grade auch heute noch zu.

Man hat also feststellen müssen, dass die Ambition allein, die "digitale Kluft" zu überspringen, nicht ausreicht, um die realen Hürden zu nehmen. Hinzu kamen immer wieder auch Betrugsfälle, die das E-Business diskreditierten und die Verbraucher skeptisch bleiben ließen, und natürlich die mangelhaften elektronischen Zahlungssysteme, welche ebenfalls die Zuverlässigkeit des E-Business in Frage stellen und die potentiellen Kunden außen vor halten. Man ruft nach gesetzlicher Gewährleistung.

Nach einer Umfrage von Mastercard.com (Ende 2002) betreffen die ersten drei Fragen, welche die chinesischen Netz-Kunden beschäftigen, das Sicherheitsproblem: 73% eines Samples von 1.000 Befragten lassen ihre elektronischen Handelsaktivitäten in den folgenden drei Monaten von der Sicherheitsgarantie abhängen; 70% machen sich Sorgen wegen der Unzuverlässigkeit oder der Möglichkeit von Betrug beim online shopping; 63% haben Angst, dass die Geheimzahl ihrer Kreditkarte von Hackern geknackt werden könnte.

Das mangelnde Interesse am E-Business sowohl bei den (End-)Verbrauchern als auch bei Firmen und Händlern ist also immer noch auf die niedrige Akzeptanz des E-Business infolge der Wahrnehmung seiner Schwachstellen zurückzuführen; dies stellt ein Handicap für eine gesunde Entwicklung der Internetwirtschaft in China dar. Während man sich in der Produktionsindustrie bislang noch höchst ungern von Face-to-face-Verhandlungen trennen will, ist für den normalen Verbraucher nach wie vor von Bedeutung, dass dem Online-Shopping der Erlebnischarakter des herkömmlichen Einkaufsbummels als gemeinschaftlicher Freizeitgestaltung fehlt, auf den man - seit man in den letzten Jahrzehnten "auf den Geschmack" gekommen ist - fast in allen gesellschaftlichen Milieus (trotz vereinzelter, kritischer Gegenstimmen) großen Wert legt.

Der Lange Marsch hat erst angefangen

Wenn auch das E-Business in der Sars-Zeit eine glänzende Erfolgsstory zu verbuchen hat, beschränkt es sich, wie das Internet überhaupt, im Moment hauptsächlich noch auf die Küstenregionen und die Großstädte. Diese "digitale Kluft" innerhalb Chinas ist Hauptgrund dafür, warum das E-Business sich nicht von einigen wenigen, an die internationale Entwicklung Anschluss findenden Städten ins Landesinnere ausweiten kann. Hier erschweren - abgesehen von den Grenzen der Kaufkraft und der Spezifik der Bedürfnisse - unter anderem auch mangelnde Systematisierung und Spezialisierung sowie mangelnde Effizienz des Warentransports weiterhin maßgeblich eine schnelle Entwicklung des E-Business.

Euphorisch oder zuversichtlich sind aber die Chefs mancher E-Business-Websites dennoch, sofern sie offenbar überzeugt sind, dass der Triumph des elektronischen Handels während der Sars-Zeit nicht allein auf den durch die Epidemie erzeugten "Ausnahmezustand" zurückzuführen sei. Sie wollen in den plötzlich besseren Geschäftszahlen vielmehr ein logisches Ergebnis ihrer Anstrengungen und einer Verbesserung des Geschäftsmilieus sehen. Ob das Geschäft aber weiterhin so gut läuft, bleibt abzuwarten, denn die Sars-Epidemie wird nicht ewig dauern. Die Engpässe hinsichtlich der Infrastruktur des E-Business jedoch werden die Chinesen noch lange Zeit beschäftigen. Der steinige Weg des chinesischen E-Business ist sicher nicht mit Sars-Epidemien zu glätten. Auch die ungleichmäßige Entwicklung des Internet in China ist nicht über Nacht zu ändern, wenn auch Sars fast über Nacht die Konsumgewohnheiten mancher Internetnutzer verändert hat.

(Weigui Fang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des medienwissenschaftlich-sinologischen Forschungsprojekts "Das Internet in China" an der Universität Trier)