Hat die Menschheit noch eine Chance?
Bild: Kristopher Roller/Unsplash
Die Klimakatastrophe ist nur eine von vielen Krisen. Zur BewÀltigung der Vielfachkrisen sind neue Wege notwendig. Höchste Zeit, sich von der westlich dominierten Vorstellung von "Entwicklung" zu verabschieden.
Wenn RWE LĂŒtzerath abbaggern darf, dann hat sich die Bundesregierung â allen voran die zustĂ€ndigen OlivgrĂŒnen â endgĂŒltig von einer ernsthaften Klimapolitik und vom ohnehin unzureichenden 1,5 Grad-Ziel verabschiedet.
Der 2022 erschienene Bericht "Earth for All [1]" des Club of Rome scheint ungehört zu bleiben, so dass wohl das darin beschriebene Szenario "Zu wenig, zu spÀt" eintreffen wird, mit noch mehr Ungleichheit, sozialen Spannungen und einem globalen Temperaturanstieg um weit mehr als zwei Grad, mit verheerenden Auswirkungen.
Das andere Szenario, das die Menschheit vor dem Aussterben retten könnte, wĂŒrde einen sofortigen "Riesensprung" erfordern: Abschaffung von Armut und Ungleichheit, ErmĂ€chtigung von Frauen, Aufbau eines gesunden Nahrungsmittelsystems und Nutzung sauberer Energien. All dies ist nicht â und schon gar nicht in dem erforderlichen Umfang und der notwendigen Geschwindigkeit â in Sicht.
Die Klimakatastrophe ist nur eine von vielen Krisen, die eine weitere Existenz der Menschheit ernsthaft infrage stellen. Auf dem Weltnaturgipfel COP15 im Dezember 2022 verhandelten Vertreter:innen aus fast 200 LĂ€ndern ĂŒber den Erhalt der BiodiversitĂ€t (siehe: Schutz der BiodiversitĂ€t: Die Illusion einer Lösung [2]).
Diese Konferenzen finden regelmĂ€Ăig statt, formulieren schöne Ziele, die jedoch nie erreicht werden. Durch die Ausbeutung und Verschmutzung der Natur schreitet das Artensterben immer schneller voran.
Die Bundesregierung bezeichnet die Ergebnisse des COP15 vollmundig als "Signal der Entschlossenheit [3]":
Bis 2030 sollen mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und MeeresflĂ€chen unter Schutz gestellt und der Pestizideinsatz halbiert werden. AuĂerdem soll es mehr Geld fĂŒr den Schutz der Artenvielfalt geben.
Bundesregierung
Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) kritisiert, es fehlten "konkrete Vereinbarungen zur Umsetzung und messbare Ziele" [4]. Nabu-PrĂ€sident Jörg-Andreas KrĂŒger betont:
Die Welt rast in der Natur- und Klimakrise auf einen Abgrund zu. Doch statt entschieden zu bremsen, geht sie lediglich etwas vom Gas.
Jörg-Andreas KrĂŒger
Westlich dominierter Naturschutz vertreibt Indigene
Je nach Umsetzung und Interessenlage können die wohlklingenden VorsĂ€tze auch das Gegenteil bewirken, wenn beispielsweise die Gelder in Greenwashing-Projekte flieĂen, oder wenn Indigene mit dem Argument des Naturschutzes vertrieben werden. Schon vor dem Gipfeltreffen hatten Amnesty International und andere NGOs an die Regierungen appelliert [5]:
Ohne eine drastische Ăberarbeitung wird das sogenannte 30Ă30-Ziel das Leben indigener Völker zerstören, die Lebensgrundlagen anderer Subsistenz-Landnutzer*innen massiv beeintrĂ€chtigen, und gleichzeitig von den wahren Ursachen fĂŒr den Zusammenbruch von Artenvielfalt und Klima ablenken.
Survival International, Amnesty International, Minority Rights Group International und Rainforest Foundation UK
Solche Naturschutzgebiete stellten "den Eckpfeiler typischer, westlich dominierter NaturschutzbemĂŒhungen" dar und hĂ€tten schon bisher "in vielen Teilen Afrikas und Asiens zu Vertreibungen, Hunger, Krankheiten und Menschenrechtsverletzungen, einschlieĂlich Tötungen, Vergewaltigungen und Folter gefĂŒhrt".
Um die Ăkosysteme zu schĂŒtzen, mĂŒssten die Rechte derjenigen geschĂŒtzt werden, "die in ihnen leben und auf sie angewiesen sind", denn 80 Prozent der gesamten biologischen Vielfalt der Erde komme "auf dem angestammten Land indigener Völker vor". Deren Rechte auf Land und Selbstbestimmung seien zu schĂŒtzen, so wie es "in internationalen MenschenrechtsĂŒbereinkommen festgeschrieben" sei.
In einer PrĂ€sentation fĂŒr den Deutschen Bundestag [6] hatte der WeltbiodiversitĂ€tsrat IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) 2019 auf die "BeitrĂ€ge indigener Völker und lokaler Gemeinschaften zur Verbesserung und zum Erhalt wilder und domestizierter BiodiversitĂ€t und Landschaften" hingewiesen und betont, dies sei auch ein "Angebot alternativer Konzepte der Mensch-Natur-Beziehungen".
Diesem Aspekt fehlt bisher die notwendige Aufmerksamkeit, und er sollte meines Erachtens in den KlimakĂ€mpfen eine gröĂere Rolle spielen.
Die Einsicht, dass der Kapitalismus strukturellen WachstumszwĂ€ngen unterliegt, ist weit verbreitet. Aber allein daraus erklĂ€rt sich noch nicht die GewalttĂ€tigkeit gegenĂŒber Mensch und Natur, die der kapitalistischen Wirtschaftsweise kulturell eingeschrieben ist.
Aus feministischer Perspektive ist eine andere Wirtschaft zwar notwendig, aber nicht hinreichend fĂŒr eine Postwachstumsgesellschaft, denn patriarchale und koloniale Macht, Herrschaft und Gewalt sind Ă€lter als der Kapitalismus (siehe dazu den Beitrag der Autorin unter #PoWaKap [7]).
Abschied nehmen von gewohnten Vorstellungen
Angesichts der vielfĂ€ltigen Krisen und Katastrophen halte ich ein grundlegendes Umdenken und die Auseinandersetzung mit anderen Welt- und Menschenbildern fĂŒr dringend notwendig und gehe davon aus, dass indigene Weltsichten dafĂŒr sehr hilfreich sein können.
Nicht um sie unkritisch zu ĂŒbernehmen, aber um die eigenen eingefahrenen Denk- und Empfindungsmuster, ja auch die eigenen Vorurteile gegen ganz andere Perspektiven auf Mensch und Natur, und auf das Leben selbst, kritisch zu hinterfragen.
Statt technologischer Scheinlösungen [8] und patriarchalem Machbarkeitswahn braucht eine Transformation zu einem guten Leben fĂŒr alle nach meiner Ăberzeugung vor allem Gewaltfreiheit und Respekt, ja Demut gegenĂŒber den Geheimnissen des Lebens, und zuzugeben, dass "wir" eben nicht alles wissen und machen können â was keineswegs bedeutet, nichts zu tun!
Allerdings ist es höchste Zeit, sich von der westlich dominierten Vorstellung von "Entwicklung" zu verabschieden. Die Begrenztheiten im WeltverstĂ€ndnis vermeintlich aufgeklĂ€rter Naturwissenschaften â insbesondere der Physik und Biologie â hat der Philosoph und KĂŒnstler Fabian Scheidler in seinem Buch "Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken mĂŒssen [9]" fĂŒr mich sehr ĂŒberzeugend dargelegt (Rezension der Autorin in der Graswurzelrevolution Oktober 2021 [10]).
Nach Wolfgang Sachs, der seit Jahrzehnten zu Fragen der Nachhaltigkeit forscht, ist Entwicklung "ein Plastikwort, ein leerer Begriff mit positiver Bedeutung". Es gehe dabei um einen Fortschritt, mit dem die Armut weltweit bekĂ€mpft werden sollte â was zwar teilweise gelang, jedoch "mit noch gröĂerer Ungleichheit und mit inzwischen irreparablen UmweltschĂ€den erkauft" wurde.
In einleitenden Worten zu dem Buch "Pluriverse â A Post-Development Dictionary [11]" (Pluriversum â Ein Post-Development Lexikon) fĂŒhrt er weiter aus, dass der Mythos der Entwicklung â ein Gedanke, der "von der Diktatur des quantitativen Vergleichs" lebe â 2015 mit der EinfĂŒhrung der Globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) [12] "formlos und noch dazu gerĂ€uschlos beerdigt" wurde. Nun sei nicht mehr vom Aufholen die Rede, sondern es wurden universelle Ziele fĂŒr die ganze Welt formuliert.
Ein Pluriversum
Die Ideen von Entwicklung sind noch lange nicht gÀnzlich verschwunden, vor allem stellt sich nun jedoch die Frage, was an ihre Stelle treten könnte. Ich misstraue grundsÀtzlich allen, die meinen, DIE eine Lösung und einzig mögliche Alternative zur kapitalistischen Wachstumswirtschaft gefunden zu haben.
Postwachstum und Postdevelopment, das heiĂt die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft ohne das auf Wachstum ausgerichtete Fortschritts- und Entwicklungsparadigma, kann ich mir nur als vielfĂ€ltige Wege vorstellen, die nicht geradlinig und selbstgewiss, quasi-militĂ€risch orchestriert verlaufen, sondern eher in spiralförmigen Suchbewegungen, fragend voran.
Darum hat mich das Pluriversum-Buch begeistert. Darin stellen mehr als 100 Autor:innen vielfĂ€ltige wirtschaftliche, sozialpolitische, kulturelle und ökologische Konzepte, Weltanschauungen und Praktiken aus aller Welt vor. Post-Development zeigt Alternativen auf, die das Leben auf der Erde schĂŒtzen und respektieren: Ein Pluriversum vieler möglicher Welten, das eine Vielzahl von Systemkritiken und Lebensweisen umfasst.
Dieses Lexikon möchte die laufende Debatte ĂŒber die sozial-ökologische Transformation re-politisieren, indem es ihre Vielschichtigkeit herausarbeitet. Das Buch ist all jenen gewidmet, "die sich fĂŒr das Pluriversum einsetzen, die sich gegen Ungerechtigkeit wehren und Wege fĂŒr ein Leben in Harmonie mit der Natur suchen".
Die Idee fĂŒr das Buch wurde auf der groĂen Degrowth-Konferenz 2014 in Leipzig erstmals von dem Wirtschaftswissenschaftler und ehemaligen ecuadorianischen Bergbauminister Alberto Acosta, dem Sozial- und Umweltwissenschaftler Federico Demaria und dem GrĂŒnder der indischen Umweltgruppe Kalpavriksh, Ashish Kothari, diskutiert.
SpĂ€ter schlossen sich die ökofeministische Wissenschaftlerin und Aktivistin Ariel Salleh, und der emeritierte Professor fĂŒr Anthropologie Arturo Escobar, dem Projekt an. Als Herausgeber:innen verstehen sie das Buch "als Einladung zur Erforschung dessen, was wir als beziehungsorientierte âArten des Seinsâ betrachten". Sie möchten die marxistische Analyse "durch Perspektiven wie Feminismus und Ăkologie sowie durch Vorstellungen aus dem globalen SĂŒden, einschlieĂlich Gandhianischer Ideale" ergĂ€nzen.
Die englische Erstausgabe erschien 2019 in Indien und wurde bereits auf Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch ĂŒbersetzt, weitere Sprachen sollen folgen.
Hinweis zur Transparenz: Die Autorin ist mit daran beteiligt, das Pluriversum-Buch auf Deutsch herauszubringen (im AG SPAK-Verlag). Damit das ca. 400-seitige Buch möglichst preiswert abgegeben werden kann, werden bis Ende Februar 2023 Spenden fĂŒr die Druckkosten gesammelt, mehr dazu: www.netz-bb.de.
Der Beitrag erschien zuerst im Blog Postwachstum [13].
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7484953
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.grueneliga-berlin.de/publikationen/der-rabe-ralf/aktuelle-ausgabe/rezensionen-16/#survival
[2] https://www.telepolis.de/features/Schutz-der-Biodiversitaet-Die-Illusion-einer-Loesung-7434553.html
[3] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/newsletter-verbraucherschutz/weltnaturkonferenz-montreal-2154600
[4] https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/naturschutz/weltweit/globale-biodiversitaetspolitik/25413.html
[5] https://assets.survivalinternational.org/documents/2413/Statement_30__DE.pdf
[6] https://www.de-ipbes.de/de/Globales-IPBES-Assessment-zu-Biodiversitat-und-Okosystemleistungen-1934.html
[7] https://www.postwachstum.de/postwachstum-und-kapitalismus-ein-widerspruch-3-20220905
[8] https://www.klimascheinloesungen.de
[9] https://www.piper.de/buecher/der-stoff-aus-dem-wir-sind-isbn-978-3-492-07060-7
[10] https://www.graswurzel.net/gwr/2021/10/der-notwendige-abschied-von-kalter-rationalitaet/
[11] https://globaltapestryofalternatives.org/publications:index#pluriversea_post-development_dictionary
[12] https://sdgs.un.org/goals
[13] https://www.postwachstum.de/author/elisabeth-voss
Copyright © 2023 Heise Medien