Her mit dem "fucking manual"!
e-Sex: Geeks und geschlechtliche Gewohnheiten
Der Online-Journalismus hat die Sexualität entdeckt. Und er steht vor der Schwierigkeit, das alte Thema schick einzukleiden. Was bietet sich da besseres an, als über Zusammenhänge zwischen Sexualität und diversen elektronischen Lebensaspekten zu spekulieren.
Terrance Alan, Betreiber eines Nudisten-Internetcafés in San Francisco hält es für keinen Zufall, dass in seiner Heimatstadt sowohl die Schwulenbewegung als auch die Internetindustrie entstand und Annalee Newitz postuliert in einem "If code is free, why not me?" betitelten Artikel vom Mai dieses Jahres einen Zusammenhang zwischen Open Source und "offenen" Formen des Geschlechtslebens. "Coder" stehen ihrer Ansicht nach unverdientermaßen im Ruf, ein entkörpertes, asexuelles Leben zu führen: ihre Leidenschaft richte sich nur auf den Computer, der nicht-virtuellen Lust seien sie nicht fähig.
Nach Newitz ist das Gegenteil davon wahr. Die Geeks ihres Bekanntenkreises treiben es ohne Rücksicht auf soziale Konventionen. Vor allem die im Bereich freier Software aktiven Geeks sieht sie auch als sexuelle Avantgarde. Wer mit Code herumexperimentiert, so Newitz, der tut das auch gerne mit Sexualität. Das Ideal hinter Open Source und Free Software ist für sie auf mehr als nur Programme und Geschäfte anwendbar: es betrifft die Grundlagen der menschlichen Natur. Freie Software, so Newitz, ist eine geteilte Ressource, die nicht selbstsüchtig gehortet wird. Open Source Software ist eine alternative Form der Produktion, die Menschen in Gruppen zusammenarbeiten läßt, statt sie gegeneinander wetteifern zu lassen.
Wenn Programmierer sehen, dass die Softwareproduktion in einer nicht-kompetitiven freien Umgebung ohne beschränkten Zugang sich drastisch verbessert, wäre es da nicht natürlich für sie, das beim Programmieren Gelernte auf andere Bereiche des Lebens anzuwenden - unter anderem auf das Sexleben? Die logische Weiterführung im Bereich des Sexuellen beinhaltet nach Annalee Newitz geteilten Sex auf Sexparties, alternative Beziehungsmodelle, Homosexualität und nicht-monogame Beziehungsformen. In ihren Worten: "nicht-proprietäre Formen sexueller Zuneigung."
Was bei Newitz schlüssig klingt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als falsche Analogie. Die Analyse ist in ihrer schlichten Einfalt rührend und ärgerlich zugleich. Bei anderen Gruppen, die professionell mit Leihgaben arbeiten (wie etwa Bibliothekare) wurde bisher noch nicht über verstärkten Drang zur Promiskuität berichtet. Ebenso gut könnte man den ähnlich schlichten Vergleich Journalismus sei Prostitution anstellen oder über die Verbindung von freiem Journalismus und freier Software spekulieren.
Software und Körperlichkeit sind etwas völlig anderes: Unendlich vervielfältigbar ohne das Original zu tangieren vs. gar nicht vervielfältigbar. Annalee Newitz z.B. ist im Gegensatz zu Apache nicht beliebig oft reproduzierbar - es sei denn als Bild oder Film - aber gerade darauf will sie nicht hinaus. Sie schreibt von einem angenehmen sexuellen Erlebnis mit drei Apache-Benutzern auf einer Orgie - möglicherweise würde sich das ändern, wenn alle Apache-Benutzer ihr Zugriffsrecht einfordern würden. Oder ist der Apache-Hacker für Newitz das, was der Bauarbeiter in der Schwulenszene ist - ein schlichtes Symbol, das mit den tatsächlichen sexuellen Sitten wenig zu tun hat?
Nicht nur Windows-Apologeten, auch die meisten Open-Source-Anhänger sind wesentlich zurückhaltender, was die kostenlose Weitergabe von Hardware betrifft, als sie es bei Software sind. Der völlig unterschiedliche Charakter des Gegenstandes macht ein Auseinanderhalten der Bereiche leicht. Dementsprechend unterschiedlich ist der Umgang mit Software und Sex. Sexualität ist, im Unterschied zu Code, in viel stärkerem Maße ein System sozialer Hierarchie, während der Gebrauch von Windows 98, NT oder Linux mehr auf eine Haltung als auf einen sozialen Status schließen läßt. Open Source erscheint in der Newitz-Theorie nur als ein journalistisches Artefakt. Die Grundidee des Artikels ist die Verbindung zweier verkaufsträchtiger Themen: Sex und komische e-Spinner - eigentlich eine Idee für das nächste Stern-Cover: Sex und Open Source - mit einer halbnackten Frau die einen Pinguin felliert. Lacht der Pinguin vielleicht deswegen? Und worüber freut sich dann die Office-Büroklammer so diebisch?
Bereits 1997 prägte Katherine Mieszkowski in ihrem Artikel "Geek Love" den Ausdruck "Nerdverts", eine Kombination aus "Nerd" und "pervert". Sie beschrieb damit das Phänomen, dass Nerds weniger in Zweierbeziehungen als vielmehr in den Randbereichen von San Franciscos Sexualkultur auftauchen: Zweierbeziehungen sind im Amerika des frühen 21. Jahrhunderts von einem Ken-und-Barbie-Ideal geprägt - wer von diesem Ideal abweicht, ist aus dem sexuellen Mainstream, der Kultur des "Dating" bereits mehr oder weniger ausgeschlossen.
Die Evolutionsbiologin Nancy Burley stellte ein Experiment mit Zebrafinken an, das Einblick in das Funktionieren der Partnerwahl gibt: Eine Hälfte der Zebrafinken-Männchen erhielt weiße Mützen, die andere Hälfte rote. Die Zebrafinken-Weibchen wollten sich daraufhin nur noch mit den weißbemützten Zebrafinkenmännchen paaren und übernahmen sogar sonst dem Männchen übertragene Aufgaben bei der Brutpflege, während das weißbemützte Männchen andere Zebrafinken-Weibchen begattete. Nur in Ausnahmen ließ sich ein Weibchen mit einem rotbemützten Männchen ein - und das musste dann auch zusätzliche Arbeiten bei der Brutpflege verrichten.
Bodybuilding, Silikon und Sonnenstudio sind in der kalifornischen Sexualkultur das Äquivalent zu den weißen Mützen. Sind Geeks durch diese sexuelle Parallelwährung dem sexuellen Mainstream entkoppelt und suchen sie deshalb Situationen, in denen die sexuelle Distinktion nach anderen Regeln funktioniert? Das Bild des unter- oder übergewichtigen, pickligen und allgemein unattraktiven Nerds entspricht eher dem Hollywood-College-Film der 1980er Jahre als der körperlichen Realität im Kalifornien der 00er Jahre, und gerade mit einem Silicon-Valley-Gehalt kann man sich auch nach einem 10-Stunden-Arbeitstag bequem einen Ausgleichs-Workout gönnen.
Der Zusammenhang zwischen Geeks und abweichenden Formen der Sexualität lässt sich eher kulturell erklären. Jemand, der, wie der typische IT-Angestellte mit der Welt außerhalb des Silicon Valley wenig gemeinsam hat, der traditionellerweise viel SF liest und diese auch ernst nimmt, entwickelt leicht auch zur Sexualität eigene Referenzen und Theorien. Der archetypische Valley Nerd, der schon immer geglaubt hat, dass die meisten anderen Leute einen Knall haben und sich völlig unverständlich verhalten, bringt abweichenden Erscheinungen von vorneherein eher Sympathie entgegen. Bereits das Usenet war ein Platz, in dem sich sexuelle Abweichungen weitaus besser ausleben ließen als in der realen Welt. Das Usenet zog so die Abweichler an, die Geeks wiederum fanden in den elektronischen Foren der sexuellen Abweichung ein reichhaltiges Angebot.
Tatsächlich bedeutsam scheint auch die Unschärfe der Regeln in der geschlechtlichen Annäherung. Über das Phänomen Dating gibt es zwar Doktorarbeiten, aber kein "fucking Manual" (in jedem Sinne), das dem Hacker sonst bei Problemen weiterhilft. So ist vor allem der Bereich der Sex-Rollenspiele mit seiner offenen Kommunikation und seinen klar festgelegten Regeln ein Tummelplatz der Geeks. Und wenn die Regeln eben daraus bestehen, dass man sich gebrauchte Teebeutel aus der Hose hängen lässt, wie bei den Anhängern von alt.tasteless. Es kommt allein darauf an, dass Regeln beobachtet und angewendet werden können.
Wenn Sexualität mit einem Code zu tun hat, dann nicht mit Linux oder Apache, sondern eher mit einem Protokoll. Das Protokoll ist die naheliegende technische Metapher für Kommunikation. Kompatible Interfaces tauschen sich über dieses soziale Protokoll aus, wie in einem Netzwerk - meistens peer-to-peer, seltener multicast. Wenn man ausschließlich auf das Element "Kompatibilität" abzielt, dann passt die Einordnung in "Protokoll". Aber Protokolle sind nicht anstrengend. Sexualität ist kein reiner Code, sondern ebenso eine Dienstleistung - das, wofür auch die Free Software Foundation Geld verlangt. Dienstleistungen sind ein knappes Gut - ihre massenhafte Bereitstellung ist anstrengend.
Sexualität lebt (wenn man vom reinen Geschlechtsakt absieht) aber außerdem in einem kulturellen Raum von Bewertungen, Vergleichen und Kategorien. Entgegen der rein ökonomischen Sichtweise findet beim Zusammentreffen von Menschen selten ein bloßes Verkaufsgespräch statt, sondern meist eine wesentlich komplexere soziale Interaktion. Diese Kommunikation in Regeln zu gießen ( bzw. existierende Regeln zu entdecken und zu formalisieren) ist extrem schwierig, weil sie immer von der jeweiligen Mikrokultur der Beteiligten abhängig ist.
Diese Komplexität findet sich bei nichtindustrialisierten Völkern im gesamten Bereich des Gabentausches: Wenn ich dem Angehörigen des Volkes X die Felle gegen Mais eintausche, senkt dies zwar mein Prestige, das wird aber durch die Verheiratung der Tochter von Y mit dem Angehörigen meines Clans Z und der Tötung des A im letzten bewaffneten Konflikt wieder aufgehoben und so weiter - ad infinitum. In solche Systeme, die im Mindesten Prestige, materielle Bedürfnisse, die Geschichte von Gruppen und die Vermeidung von Konflikten berücksichtigen müssen, sind Sexualität (qua Abgabe von Töchtern) genauso wie Krieg und Weitergabe von materiellen Objekten noch in die sehr komplexe Kommunikation über Gaben integriert.
Das Auftreten einer allgemeinen Wertform (Geld) ermöglicht zunehmend die Formalisierung von Tauschvorgängen und deren Ausklammerung aus diesem Kommunikationsprozess. Die durch diese Geldwirtschaft erzeugte Wirtschaftsform tendiert jedoch dazu, immer mehr Elemente in diese abstrakte Form des Tausches zu integrieren (wodurch wiederum mehr Arbeitsteilung möglich wird). Wofür der deutsche Durchschnittsbürger z.B. vor 50 Jahren noch Frauen brauchte (Kochen, Auswahl von Kleidung, Waschen), die mittels einer komplexen Kommunikation "erworben" werden mussten, dafür gibt es heute Supermärkte, Takeaways, Lifestyle-Zeitschriften und Waschsalons. Dafür sind Frauen weitgehend als "normale" Produzenten und Konsumenten in die Warenökonomie integriert.
Immer mehr Bereiche nehmen Warenform an. So war Sexualität anfangs nur in einem Randbereich warenförmig (Prostitution), mittlerweile sind z.B. durch das Fernsehen auch andere Sektoren hinzugetreten. Weitaus interessanter, als Analogien von freier Liebe und freier Software zu finden, ist es deshalb, Tendenzen in Richtung totaler Kommodifizierung, die durch Vernetzung erst möglich wird, weiterzudenken: d.h. jemand bietet ganz selbstverständlich seine sexuellen Dienstleistungen bei einer Seite wie eBay an bzw. wählt aus einem Angebot an sexuellen Dienstleistungen das für sich praktischste aus (Kriterien: Entfernung, Aufwand, hat er/sie gerade etwas Geld übrig oder will er/sie sich eher was dazuverdienen, wie viel Zeit hat er/sie gerade ...). Der Warencharakter von Sexualität steht bisher eindeutig im Hintergrund. Es ist aber interessant, genau an diesem Punkt über mögliche Änderungen nachzudenken, weil technische Entwicklungen solche Tendenzen begünstigen.
Eine mögliche Ökonomisierung bisher von Kommunikation geprägter Betätigungen verändert nicht nur die Analyse, sondern auch das Leben selbst, weil das Komplexe (reden, kommunizieren nach unbekannten Regeln) durch das Einfache und Zeitsparende ersetzt wird. Nicht die Interpretation ändert sich in Richtung "das ist ökonomisch zu verstehen", vielmehr werden reale Abläufe tatsächlich geändert (was weit über die bloße Interpretation und Kontextbildung hinausgeht). Das heißt im Umkehrschluss, dass die Betrachtung von Welt und Gesellschaft als technischer Spielplatz (als Protokoll/Maschine/Computer/Hacken) nicht nur im Auge des Betrachters liegt, sondern zu tatsächlichen Änderungen führen kann: Analyse und Realität speisen sich aus der selben Quelle.1