Hetze gegen Flüchtlinge

Seite 2: Gewollte Abschreckung, gewollter Rechtsruck

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Die Medien verbreiten allabendlich Bilder von gesunkenen Flüchtlingsbooten und überfüllten Flüchtlingslagern. Mehr und mehr drängt sich der Eindruck auf: Die Politik selbst - die mitverantwortlich für das Elend ist - hat gar keine allzu großen Probleme mit diesen Bildern. Sie sollen einerseits die Flüchtlinge abschrecken, andererseits sollen sie vor der vermeintlichen "Flüchtlingsflut" warnen, die man rigoros eindämmen müsse.

Allein das ständige Gerede von einer "Flut" suggeriert, dass Europa unter Menschenmassen versinke. Trotz aller Horrorszenarien, mit denen "besorgte Bürger" und die rechte Mitte der Gesellschaft derzeit Stimmung machen (Angesichts des Zustroms an Flüchtlingen agiert die rechte Szene immer aggressiver): Europa kann (und muss!) die geflüchteten Menschen allesamt aufnehmen - nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen, nicht nur aus humanitären Gründen und nicht nur aus dem Gebot der Nächstenliebe, sondern auch rein logistisch. Allein, es fehlt der poltische Wille, uneingeschränkt Hilfe zu leisten.

LAGeSo Berlin, 8. Oktober 2015: Zwei Flüchtlinge aus Syrien, 15 und 24 Jahre alt, mit all ihrem Hab und Gut und einem Regenschutz. Aus Furcht vor dem IS, vor dem sie aus Syrien geflohen sind, möchten sie unerkannt bleiben. Sie warten bereits seit 37 Tagen auf ihre Registrierungsnummer und übernachten seitdem in einem Gebüsch im nahegelegenen "Kleinen Tiergarten". Foto: P. Spät

Das Horrorszenario besteht nicht in der "Flüchtlingsflut". Vielmehr steht zu befürchten, dass eine neue Welle aus rechtem und faschistischem Gedankengut über Europa rollt. Schon längst haben sich in Skandinavien, Frankreich, Italien und Griechenland rechtsextreme Parteien stark positioniert und den Weg in die Parlamente gefunden. Zuletzt hat der Wahlsieg der FPÖ in Österreich abermals gezeigt, dass sich mit Stimmungsmache gegen "Ausländer" Wahlen gewinnen lassen.

Die Flüchtlingsthematik wird auch in den nächsten Jahren nicht vom Tisch sein. Der gesellschaftliche Rechtsruck provoziert einen parlamentarischen Rechtsruck innerhalb der "Nationalstaaten". Fast jede Woche Tag brennen in Deutschland Flüchtlingsunterkünfte. Langsam aber sicher kriecht der Faschismus aus seinen Verstecken und zeigt unverhohlen seine Fratze.

Falsch kanalisierte Wut - und die Ursachen von Flucht

Die Wut der sogenannten "besorgten Bürger" sollte sich nicht an geflüchteten Menschen entladen, sondern an den wahren Verursachern. Spätestens seit den 1920ern und 1930ern Jahren ist natürlich fast jedem denkenden Menschen klar, dass marginalisierte und drangsalierte Menschengruppen leider ein guter und bequemer Blitzableiter sind, um von den wirklichen Gründen für Krieg, Hunger und Armut abzulenken.

Früher haben die europäischen Kolonialherren die Menschen des Globalen Südens überfallen, ausgeraubt, ermordet, zwangschristianisiert, versklavt und in die Schuldknechtschaft getrieben. Heute überschwemmt die EU den afrikanischen Markt mit Billigfleisch und anderen Agrarprodukten, während die dortigen Märkte den Bach runtergehen und die Menschen weiter verarmen. Dabei handelt es sich nicht nur um die medial häufig zitierten, tiefgekühlten Hähnchenreste, sondern beispielsweise auch um die großen Milch-Überschüsse der EU: Die überschüssige Milch wird in Europa in ihre Bestandteile zerlegt und wandert als sogenanntes "fat filled milk powder" nach Afrika. Das Fett der zuvor entzogenen Butter wird durch billiges Palmfett ersetzt und dann mit dem Magermilchpulver vermengt. Gleichzeitig kaufen Nestlé, Campina, Danone und andere Lebensmittelkonzerne dutzendfach afrikanische Molkereien auf, so dass die afrikanischen Staaten auf die ausländischen Milch-Importe angewiesen sind.

Afrika wird nach Strich und Faden ausgeplündert - egal, wie irrsinnig die Methoden sind, solange sie Profit versprechen, ist den Konzernen alles recht. Und selbst internationale Gesetze und Vereinbarungen entpuppen sich als wirkungslos: Im ersten Artikel des UN-Sozialpakts von 1966 heißt es: "In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden."

Konzerne und Industriestaaten kaufen hektarweise Anbauflächen (Land Grabbing) sowie Wasserquellen (Water Grabbing) und entreißen den Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern damit die Lebensgrundlage. Jede Nacht dringen zig europäische Fischtrawler illegal in die Hoheitsgewässer des Senegal und anderer afrikanischer Staaten ein und rauben den Menschen ihre wichtigste Nahrungsquelle. Ein einziger Trawler holt binnen 24 Stunden über 200 Tonnen Fisch aus dem Meer - dafür muss ein senegalesischer Fischer über 50 Jahre auf Beutefang gehen.

Die EU-Grenzpolizei Frontex sollte die illegalen Fangflotten der europäischen Großkonzerne überwachen - und nicht Flüchtlinge "abwehren", die nämlich deshalb fliehen müssen, weil Europa ihnen die Lebensgrundlage raubt.

Unsere sogenannten Handelsüberschüsse, gepriesen von Politik und Medien, sind deren Handelsdefizite, schließlich ist der Kapitalismus ein System, das auf Ungleichheit und Konkurrenz setzt. Die europäischen Konzerne bereichern sich am Desaster des Globalen Südens. Die Wohlstandinsel EU ist nur möglich, weil um sie herum ein Meer aus Elend ist - ein Wohlstand freilich, der auch innerhalb der EU-Staaten und deren Gesellschaften höchst ungleich verteilt ist.

Die Ungleichheit und Unfreiheit sind gewollt, und oft genug sind Rassismus und Menschenfeindlichkeit für die Machteliten ein willkommenes Ablenkungsmanöver von den wahren Gründen für das globale Desaster. Die Waren sollen frei zirkulieren, nicht aber die davon betroffenen Menschen. Armen Avanessian schreibt treffend: "Das neoliberale Schwadronieren vom freien Personen- und Warenverkehr ist blanker Zynismus. […] Das hegemoniale Zentrum lebt von seiner Kontrolle über den Transit von Menschen und Gütern."

NATO und Co bombardieren mit europäischer Unterstützung Länder des Nahen Ostens und Afrikas; im Hintergrund werden Diktatoren und War Lords mit Waffen und Geldern unterstützt, während die CIA Putschversuche initiiert. Die NATO-Mächte sind ganz klar Kriegsgewinnler. Nicht umsonst steht Deutschland auf Platz 3 der Waffenexportnationen. Nicht umsonst ist das deutsche Unternehmen Junghans Microtec Weltmarktführer bei Zündern und Zündsystemen, der deutsche Panzerhersteller Krauss-Maffei Wegmann führend in Europa und Heckler & Koch unter den weltweit fünf größten Pistolen- und Gewehrproduzenten. Nicht umsonst ist der gerade angeschlagene VW-Konzern einer der drei größten Automobilhersteller der Welt. Nicht umsonst steht Bayer CropScience mit 17,1 Prozent Marktanteil weltweit auf Platz 2 der Pestizidbranche, dicht gefolgt von der BASF mit 12,3 Prozent. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen …

Es geht auch anders: Solidaritätsbekundung für Flüchtlinge über einer Hofeinfahrt in Berlin-Kreuzberg. Foto: P. Spät

"Actions speak louder than words"

"Das feste Land ist mit einer unübersehbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen sind, ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind", schrieb B. Traven 1926 in seinem Roman "Das Totenschiff".

Man kann den Einsatz der vielen namenlosen Helferinnen und Helfer gar nicht groß genug hochschätzen: Tagtäglich versorgen sie geflüchtete Menschen und arbeiten an den Grenzen der Belastbarkeit. "Actions speak louder than words" - Taten sind in der Tat lauter als Worte.

Es kann aber nicht sein, dass all diese Helfer Flickwerk betreiben müssen, wo die Politik sehenden Auges versagt. Es ist eine riesengroße Schande, wie Politik, Machteliten und die ganzen Faschisten in diesem Land und in der EU mit Flüchtlingen und Geflüchteten umgehen. Die abgefeierte und immer wieder hochgehaltene Menschenwürde im Grundgesetz entpuppt sich derzeit immer öfter als hohle Phrase einer Wohlstandsinsel inmitten eines Meers aus Elend und Totenschiffen. Das Zuchthaus Europa muss endlich zu seinen selbsterklärten Werten des Humanismus stehen - und die unübersehbare Mauer der Menschenfeindlichkeit einreißen.

Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin.