Heuchler, Spione, Perverse und ein Todesfall: Großbritannien und die Profumo-Affäre

Hans Schmid

Heute vor 45 Jahren starb Stephen Ward, der im größten britischen Politskandal des 20. Jahrhunderts als Sündenbock herhalten musste, damit alles so bleiben konnte, wie es war. Ein Rückblick

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Oft fängt etwas, das schlimm endet, ganz harmlos an. Nehmen wir den Skandal, der zum Rücktritt eines Ministers und eines Regierungschefs führte, beinahe eine Börsenpanik verursacht hätte, die NATO und das FBI in Alarmzustand versetzte, uns eines der am häufigsten reproduzierten Photos der 1960er schenkte und einen Stuhl weltberühmt machte: die „Profumo-Affäre“.

Man kann sagen, dass alles an einem schönen Sommertag begann, mit einer Bootsfahrt auf der Themse. „Mit mir im Motorboot“, schreibt Stephen Ward in seinen nachgelassenen Memoiren kokett, „waren eine berühmte Schauspielerin (die Hauptdarstellerin in The King and I - ich habe ihren Namen vergessen), Lord Astor, und die zweite Lady Astor ...“ Natürlich hatte er den Namen nicht vergessen. Stephen Ward war ein name dropper - also einer, der anderen nur zu gern erzählte, mit welchen Berühmtheiten er Umgang hatte. Die Schauspielerin war Valerie Hobson, die nach kurzer Hollywood-Karriere (Elizabeth in Bride of Frankenstein) in einigen der besten britischen Filme der 1940er mitgewirkt hatte (Great Expectations, Kind Hearts and Coronets) und 1953 als Hauptdarstellerin der Londoner Bühnenproduktion von Anna und der König von Siam gefeiert worden war. 1954 hatte sie John Profumo geheiratet und für ihn ihre Karriere aufgeben wie bald danach auch Grace Kelly für den Fürsten von Monaco (an eine Carla Bruni war damals, vor 50 Jahren, noch nicht zu denken).

Stephen Ward: Frauenversteher und Chiropraktiker der High Society

Bill Astor, der Bootsbesitzer, hatte seinen Titel genauso geerbt wie ein riesiges Vermögen. John Profumo, Valeries Gatte, entstammte dem nach England ausgewanderten Zweig eines uralten und sehr reichen italienischen Adelsgeschlechts mit eigenem Bankhaus, saß für die Konservativen im Parlament, wurde 1960 Kriegsminister im Kabinett von Harold Macmillan und galt als potentieller Nachfolger des Premierministers. Er gehörte zu mehreren Seilschaften, in denen sich die alten Herrschaftseliten die Hand reichten. So war er eines von nur 60 Mitgliedern des von Churchill gegründeten Other Club, der als der exklusivste Club der Welt galt. Als Kind hatte er die Eliteschule Harrow besucht. Macmillan, ebenfalls Mitglied im Other Club, war ein Absolvent von Eton und hatte die Tochter eines Herzogs geheiratet, was in einer Klassengesellschaft wie der britischen auch nicht schaden konnte. Und Stephen Ward? In seinem Lebenslauf stand ein Ort namens Cranford. Dort gab es eine jener Schulen, auf die Eltern ihre Söhne schickten, wenn sie etwas Geld hatten, sich Eton oder Harrow aber nicht leisten konnten. So einer durfte vielleicht eine Weile lang mit den Reichen und den Mächtigen im selben Boot sitzen, musste aber damit rechnen, als Erster über Bord zu gehen, wenn es stürmisch wurde.

Ward war Chiropraktiker von Beruf. Im Zweiten Weltkrieg in Indien stationiert, renkte er Mahatma Gandhi den Nacken ein und befreite ihn von seinen Kopfschmerzen. Das erzählte er später, in London, Winston Churchill, der sich ebenfalls von ihm behandeln ließ. Churchill empfahl ihn weiter. Ward erzählte jetzt von Gandhi und von Churchill. In keinem anderen Land werden Berufsgruppen so sehr mit einem Straßennamen identifiziert wie in Großbritannien: Filmproduzenten mit der Wardour Street, Presseleute mit der Fleet Street, Ärzte mit der Harley Street. Als Ward sich selbständig machte, konnte er sich die teure Harley Street nicht leisten. Deshalb eröffnete er eine Praxis am Cavendish Square. Das war gleich um die Ecke. Zur Einweihungsfeier kam auch Prinz Philip. Zu Wards Patienten gehörten Ava Gardner, Mel Ferrer und der Ex-König von Jugoslawien, aber auch die Showgirls der Vergnügungsetablissements in Soho und im West End. Berühmt waren seine Spontanbehandlungen. Er war deshalb ein gerngesehener Gast auf den Partys der High Society, die nach dem Krieg dabei war, sich neu zu formieren.

Stephen Ward

Ward hatte keine Berührungsängste, und es machte ihm Freude, in einem Land rigider Klassengegensätze mühelos von einer Schicht in die andere zu wechseln. Vor diesem Hintergrund sollte man wohl auch diejenigen seiner Aktivitäten sehen, die ihn später vor Gericht brachten. Bei ihm kamen häufig junge Frauen unter, die aus irgendeinem tristen Provinznest nach London geflohen waren. Ward gab ihnen ein Sprechtraining, brachte ihnen bei, sich zu bewegen wie ein Model und ließ sie täglich die Zeitung lesen, damit sie sich besser unterhalten konnten. „Er war“, sagt Christine Keeler über ihn, „wie Peter Pan im Never-Never-Land - natürlich mit dem Unterschied, dass er ein Magnet für von zuhause weggelaufene Mädchen war, nicht für weggelaufene Jungen.“ Die Presse erklärte ihn 1963, als man ihm den Prozess machte, zum modernen Pygmalion, oder sie nannte ihn, in Anlehnung an Shaws gleichnamiges Bühnenstück und das darauf basierende Musical My Fair Lady, „Professor Higgins“.

Wenn Ward den jungen Mädchen genug Stil antrainiert hatte, nahm er sie zu den Partys mit, zu denen er auch deshalb eingeladen war, weil er immer junge, gutaussehende Frauen mitbrachte. Und weil er immer öfter mit seinem Patienten Bill Astor unterwegs war (Astor hatte Rückenschmerzen, seit er bei der Fuchsjagd vom Pferd gefallen war), wurde er zu immer exklusiveren Partys eingeladen. So profitierten alle. Auch die Mädchen, fand Ward. Er unterstützte und beriet sie, führte sie in die Gesellschaft ein. Offenbar machte er es aus Hilfsbereitschaft, aus der Lust am Experiment, und um seine Stellung als Freund der Reichen und Mächtigen zu sichern. Finanzielle Vorteile zog er daraus nicht. Seine Praxis warf mehr ab, als er brauchte. Geld war ihm nicht wichtig.

Palast und Jodelbalkon: „You Never Had It So Good“

Großbritannien brauchte sehr lange, um sich vom Zweiten Weltkrieg zu erholen. Die 1950er waren von Rationierungsmaßnahmen und Warenknappheit geprägt. Aber am Ende des Jahrzehnts ging es aufwärts. Premierminister Macmillan bewarb sich 1959 mit dem Wahlslogan „Ihnen ist es noch nie so gut gegangen“ um eine weitere Amtszeit. Das Wahlvolk hatte große Erwartungen. Man wollte endlich seinen Spaß haben. Angeführt wurde der Reigen von der Oberschicht, die sich auch vorher schon einiges gegönnt hatte. Während der Herrschaft der Konservativen durfte sich der britische Hochadel, obwohl anachronistisch anmutend, weiter als die Spitze der Gesellschaft fühlen. Im England der 1950er und frühen 1960er unterhielt er noch prächtige Häuser und Paläste, in denen man Feste feierte und die Wochenenden verbrachte. Dort genoss man die alten Privilegien und fühlte sich, als sei die Zeit stehen geblieben.

Cliveden, der Landsitz der Astors, lag an der Themse (bei Maidenhead) und war von einem riesigen Park umgeben. Eine Meile vom Haupthaus entfernt stand das ungenutzte Spring Cottage. Auf dieses Gebäude wurde Ward bei der schon erwähnten Fahrt mit dem Motorboot aufmerksam. Sein Freund Bill Astor war bereit, es ihm zu vermieten – für den symbolischen Preis von einem Pfund und die Zusicherung des Doktors, ihn und seine Gäste bei Bedarf zu massieren und einzurenken, besonders nach der Fuchsjagd. Das Cottage hatte einen geschnitzten Holzbalkon, was Ward an ein bayerisches Bauernhaus erinnerte. Deshalb legte er einen kleinen Wasserfall an und schichtete Felsbrocken auf, die er mit Alpenblumen bepflanzte. Von diesem Bauernhof-Imitat mit Jodelbalkon aus wurde das britische Empire erschüttert.

Christine Keeler: Vom Eisenbahnwaggon auf die Showbühne

An einem Nebenarm der Themse, auch nicht weit von Maidenhead entfernt, liegt das Dorf Wraysbury. Am Dorfrand hatten sich damals Menschen aus der Unterschicht angesiedelt, die hierher gekommen waren, weil es in London keine bezahlbaren Wohnungen gab. In zwei umgebauten Eisenbahnwaggons lebte Christine Keeler mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Anfang 1959 war sie schwanger, vermutlich von einem schwarzen US-Soldaten. Für eine legale Abtreibung waren zwei psychiatrische Gutachten erforderlich, die der werdenden Mutter bestätigten, dass sie andernfalls schweren geistigen Schaden nehmen würde. In London gab es Gynäkologen, die es auch ohne Gutachten machten, aber das war teuer. Wer sich den Gynäkologen nicht leisten konnte, versuchte es mit Gin, Whiskey, Rizinusöl, Stricknadeln, einem Kugelschreiber. Christine erreichte nur, dass ihr Kind zu früh geboren wurde. Sechs Tage später war der Säugling tot.

Im Sommer 1959 ging sie, gerade 17 geworden, nach London. Eine der Attraktionen des Londoner Nachtlebens war Murray’s Cabaret Club in Soho, in der Beak Street. Prinzessin Margaret, die Schwester der Königin, trank hier ihren Champagner, König Hussein von Jordanien gehörte zu den Stammgästen. Einige der Showgirls hatten reiche Männer geheiratet, für andere begann hier eine Karriere als Schauspielerin. Der Club beschäftigte 45 Mädchen, und Hunderte warteten auf eine freiwerdende Stelle. Christine stellte sich vor und wurde, obwohl sie eigentlich nichts konnte, sofort als „Tänzerin“ engagiert. Die Attraktion im Murray’s waren nicht die Tanznummern, sondern die jungen Damen, die nur dastanden und ihren Körper zur Schau stellten, während die anderen tanzten. Zu der Zeit gab es in Großbritannien seltsame Gesetze, mit denen man versuchte, die weibliche Sexualität (und die männliche Libido) unter Kontrolle zu halten. Eines davon legte fest, dass in Nachtclubs nur dann nackte Busen gezeigt werden durften, wenn diese sich nicht bewegten. Christine stand also zur Fleischbeschau auf Murrays Showbühne, und meistens trug sie dabei eine sehr ausladende Kopfbedeckung. Das verlangte der Gesetzgeber. Frau konnte schlecht ihre Brüste in eine aufreizende Bewegung versetzen, wenn sie gleichzeitig ein turmhohes Etwas auf dem Kopf balancieren musste.

Im Murray’s lernte Christine Stephen Ward kennen, der sofort von ihr fasziniert war und mehr noch davon, wie fasziniert die anderen Gäste von ihr waren. Pygmalion glaubte, eine neue Galatea gefunden zu haben. Vorerst jedoch wurde Christine die Geliebte von Peter Rachman. Dieser Immobilienhai verdiente ein Vermögen damit, dass Hausbesitzer nicht gern an Huren vermieteten. Rachman posierte als Herr aus besseren Kreisen, mietete Wohnungen und gab sie zu horrenden Preisen an die Prostituierten weiter. Als immer mehr Menschen aus Westindien in das gleichermaßen von Arbeitskräftemangel wie von Wohnungsnot geplagte Großbritannien kamen, weitete er sein Geschäftsmodell aus. Rachman vermietete jetzt an schwarze Einwanderer, die er unter menschenunwürdigen Bedingungen in seine Slumwohnungen in Bayswater und Notting Hill stopfte. Sein Immobilienimperium ließ er durch einen Schlägertrupp kontrollieren, der die alten (weißen) Mieter zum Ausziehen zwang und die neuen terrorisierte, wenn sie nicht zahlen wollten. Der englischen Sprache bescherten seine Aktivitäten ein neues Wort. Das Concise Oxford Dictionary definiert den Begriff „Rachmanism“ als „Ausbeutung von Slumbewohnern durch skrupellose Vermieter“.

Ward war ein talentierter Zeichner und versuchte, sich ein zweites Standbein zu schaffen. Er porträtierte seine prominenten Patienten, hatte im Juli 1960 seine erste Ausstellung und wurde dann von Sir Colin Coote, dem Chefredakteur des Daily Telegraph, nach Jerusalem geschickt, um den Prozess gegen Adolf Eichmann mit dem Zeichenstift festzuhalten. Seine Bilder kamen so gut an, dass Coote eine Reise nach Moskau finanzieren wollte. Ward sollte Nikita Chruschtow und andere russische Führer porträtieren, bekam aber kein Visum. Coote stellte den Kontakt zu Sergeij Ivanov her. Ivanov war stellvertretender Marineattaché bei der sowjetischen Botschaft und ein Spion. In Agentenkreisen war das kein Geheimnis, denn der stellvertretende Marineattaché war immer ein Spion. Ward flog nie nach Moskau, freundete sich aber mit Ivanov an, der wie er gern die Londoner Nachtclubs besuchte. Vermutlich tat er es auf Bitten des britischen Geheimdienstes, für den er Ivanov aushorchen oder zum Überlaufen bewegen sollte. Mehrere Geheimdienstleute räumten später ein, dass sie sich mit Ward getroffen hatten. Die Briten hatten den Krieg gegen Hitler gewonnen, ihren Status als Weltmacht aber verloren. Während der Kubakrise träumte die Regierung davon, durch eine Atomkonferenz in London die alte Bedeutung wiederzuerlangen. Ward und Ivanov sollen als Mittelsmänner fungiert haben. Die Sache wurde nie wirklich aufgeklärt.

Neckereien am Pool: Das Model und der Kriegsminister

Am Samstag, dem 8. Juli 1961, begann – zumindest meteorologisch gesehen – das heißeste Wochenende des Jahres. Lord Astor hatte einige hochkarätige Gäste nach Cliveden eingeladen, darunter Lord Mountbatten, den Präsidenten von Pakistan und das Ehepaar Profumo. Stephen Ward und Christine Keeler verbrachten das Wochenende in Spring Cottage, dem Lederhosenhaus mit Wasserfall. Nach dem Abendessen fuhren sie zum Swimmingpool der Astors. Christine planschte nackt im Pool, als plötzlich Bill Astor und John Profumo auftauchten. In der Eile griff sie sich ein viel zu kleines Handtuch, mit dem sie sich notdürftig bedeckte.

In diesem Juli verlegten die Briten ein größeres Truppenkontingent nach Kuwait, um eine befürchtete Invasion durch den Irak zu verhindern. Die Regierung versprach, mit dieser Aktion zu beweisen, dass Großbritannien doch noch eine Weltmacht sei. Die Opposition prophezeite eine Blamage. Der Kriegsminister (Familienmotto: Virtue and Work) stand stark unter Druck und konnte eine Ablenkung gut gebrauchen. Er und Bill Astor, zwei neckische Herren mittleren Alters, machten also Jagd auf die 19-Jährige und versuchten, ihr Handtuch zu erhaschen. Dann kamen die anderen Gäste dazu. Es gab einen peinlichen Moment, ehe Astor die Anwesenden einander vorstellte. Profumo bat Christine zur Hausbesichtigung, von der sie in einer Ritterrüstung wiederkam. Das sollen alle sehr lustig gefunden haben. Tags darauf traf man sich zu neckischen Schwimmwettbewerben, bei denen auch Ivanov mit von der Partie war. Einer der Gäste machte Photos, die später verschwanden.

John Profumo

Am Dienstag lud Profumo Christine zu einer Spazierfahrt ein, im Dienstwagen mit Chauffeur. Ein paar Tage später kam er im Mini Cooper und brachte sie zu seiner Residenz am Regent’s Park, wo sie, Christine zufolge, Sex im Ehebett hatten. Meistens trafen sie sich aber in Wards Wohnung. Sir Roger Hollis, der diskrete Chef des Geheimdiensts MI 5, wusste schon sehr früh von der Affäre und hätte sich kaum eingemischt, wenn da nicht noch Ivanov gewesen wäre, der auch hin und wieder in Wards Wohnung vorbeischaute. Der wahrscheinlichsten Version nach ließ Hollis am 9. August Profumo durch einen Vertrauten des Premierministers Macmillan die Information zukommen, wer der Russe war, den er bei Astor am Pool kennengelernt hatte. Am selben Tag schickte Profumo Christine Keeler eine Nachricht, die mit "Darling" begann und mit "Love J." endete. Darin sagte er das nächste Rendezvous ab. Später behauptete er, er habe mit dem Brief das Verhältnis beendet. Man kann das glauben, muss aber nicht.

Sex mit Schwarzen und am Nachmittag: Die Lage spitzt sich zu

Vielleicht hätte Profumo nie zurücktreten müssen, wenn Stephen Ward nicht angefangen hätte, schwarze Immigranten aus Westindien zu porträtieren und die Szene in Notting Hill zu erkunden, um seinen Freunden aus der Oberschicht etwas Neues bieten zu können. Bei einer dieser Exkursionen, im Oktober 1961, kaufte Christine Keeler Marihuana von Aloysius „Lucky“ Gordon. Lucky war sofort fixiert auf Christine, und er war voll Wut, die er nur schwer unterdrücken konnte. Er soll sie in seine Wohnung gelockt, tagelang festgehalten und immer wieder vergewaltigt haben, wurde aber nie von ihr angezeigt. Christine entkam, doch Lucky blieb eine Bedrohung. Ein problembeladener Mensch war auch der Jamaikaner Johnnie Edgecombe, von dem Christine sich Schutz erhoffte. Bei einem Streit verletzte Johnnie Lucky mit einem Messer und floh vor der Polizei. Im Dezember 1962 gab Johnnie vor Christines Wohnung mehrere Schüsse ab, weil sie nicht öffnete. Bald darauf wurde er verhaftet. Der Daily Mirror berichtete in großen Lettern über das Ereignis. In Gewalt mündende Dramen zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern waren allemal für eine Schlagzeile gut, weil sie die gängigen Klischees bedienten. Und beim Namen Christine Keeler wurde manch ein Reporter hellhörig.

Seit einiger Zeit waren Gerüchte über Ivanov und Profumo im Umlauf. Das Revolverblatt Sunday Pictorial hatte Christine Keeler Geld für ihre Geschichte bezahlt, traute sich aber nicht, diese zu veröffentlichen – aus Angst, von den Astors und den Profumos verklagt zu werden. Ganz anders würde sich die Sache verhalten, wenn beim Prozess gegen Johnnie Edgecombe die Namen Profumo und Ivanov fallen würden. Man wartete also voller Spannung auf die Verhandlung. Bei denen, die mittlerweile in die Affäre verwickelt waren (Agenten, Politiker, Millionäre, Adelige), schrillten spätestens am 3. Februar 1963 die Alarmglocken. An diesem Tag veröffentlichten die News of the World ein Photo von Christine Keeler: im Badeanzug und mit dem Hinweis, dass sie im Prozess gegen Edgecombe, einen Schwarzen aus Westindien, als Zeugin auftreten werde. Aber am 14. März, dem ersten Verhandlungstag, hatte sich die Zeugin nach Spanien abgesetzt.

Der Daily Mirror demonstrierte am 15. März, wie man Verbindungen herstellt, ohne sie offen auszusprechen. Einen Teil des Titelblatts füllte ein Bericht über Profumo, der, so hieß es, wegen Umstrukturierungen im Verteidigungsministerium zurücktreten werde. Rechts davon war ein Photo von Christine zu sehen. Überschrift: „Verschwundene Old Bailey Zeugin“. Die Botschaft wurde verstanden. Auch vom Generalstaatsanwalt, der bei Profumo anfragte, ob er etwas mit dem Verschwinden von Christine Keeler zu tun habe. Am 16. März druckte der Daily Sketch einen Exklusivbericht, in dem Mandy Rice-Davies, ehemaliges Showgirl im Murray’s und Ex-Geliebte von Peter Rachman, über ihr Leben mit Christine Keeler und Stephen Ward erzählte. Profumo kam darin als „sehr bekannter Mann“ vor. Ivanov wurde namentlich genannt. Er war wieder in Moskau und würde nicht klagen.

„Keine Unschicklichkeiten“: Chronologie eines Rücktritts

Wenn alles so gewesen wäre, wie man es sich wünschen würde, wäre Profumo zurückgetreten, als herauskam, dass die britischen Truppen in Kuwait so schlecht ausgerüstet waren, dass sie im Falle eines irakischen Angriffs keine Chance gehabt hätten. Aber Profumo war ein gewiefter Stratege, zog durch ein politisches Manöver den Kopf aus der Schlinge und galt danach bei den Tories umso mehr als der kommende Mann. Trotzdem trug das Kuwait-Desaster dazu bei, dass er sein Ministeramt verlor. Der Labour-Abgeordnete George Wigg verstand sich als Anwalt der Soldaten. Profumos arrogantes Taktieren nahm er sehr persönlich. Darum sann er auf Rache. Weil er seinen Plan nicht für sich behielt, kam ihm ein Parteifreund, der unbedingt in die Zeitung wollte, zuvor. Am Vormittag des 21. März erwähnte der Hinterbänkler plötzlich und unvermittelt den Fall des verschwundenen Models, das, wie man höre, einem Minister der Regierung zu Diensten gewesen sei. Der Parlamentarier sagte das bei einer Sitzung des für die Londoner Kanalisation zuständigen Ausschusses, und weil er vorher einen Journalisten informiert hatte, wurde er sofort mit Interviewanfragen überhäuft. Zwölf Stunden später, um 23 Uhr, ergriff George Wigg im Unterhaus das Wort. Er verlangte eine offizielle Erklärung der Regierung, dass die Gerüchte über Miss Keeler, Miss Rice-Davies und den schießwütigen Mann aus Westindien jeder Grundlage entbehrten. An diesem 21. März 1963 platzte die Bombe.

Premier Macmillan ließ Profumo nach Wiggs Auftritt aus dem Bett holen. Der Kriegsminister versicherte vor fünf führenden Politikern seiner Partei, darunter zwei seiner Schulfreunde, dass er nie ein Verhältnis mit Christine Keeler gehabt habe. Damit waren die fünf Herren zufrieden. Am 22. März verlas Profumo im Unterhaus eine Erklärung, in der er feststellte, dass es zwischen ihm und Christine Keeler nie zu „Unschicklichkeiten“ gekommen sei. Wer wollte, konnte die Erklärung so verstehen, dass der Minister nur das Pech gehabt hatte, durch seine Gattin, die ehemalige Schauspielerin, mit einigen zwielichtigen Figuren bekannt zu werden und dass Valerie eigentlich viel mehr mit ihnen zu tun hatte als er. Das war ziemlich schäbig, nützte ihm aber nichts mehr.

George Wigg sprach im Fernsehen von Sexskandalen, Sicherheitsrisiken, Spionen und angeblich ausgeforschten Atomsprengköpfen in der BRD. Ein Verschwörungstheoretiker verteilte Dossiers. Vor Murray’s Cabaret standen die Touristen Schlange. Christine und Mandy genossen die Aufmerksamkeit und tischten dauernd neue Versionen ihrer Geschichte auf. Wigg hatte eine Lawine losgetreten, die drohte, auch den Premierminister unter sich zu begraben, weil sich in Politik, Adel und Hochfinanz einige Gestalten tummelten, neben denen Bill Clinton und Kollegen wie Waisenknaben wirken. Die Gemüter waren so erhitzt, dass die Zeitungsente, der zufolge acht Mitglieder des Obersten Gerichtshofs in einem Londoner Park an einer Orgie teilgenommen hätten, zu einer Krisensitzung in der Downing Street Number 10 führten, dem Amtssitz des Premierministers.

Irgendwie wurde mit der Londoner Affäre sogar ein Scheidungsprozess in Schottland verquirlt, bei dem ein Photo präsentiert worden war, auf dem man sah, wie die Herzogin von Argyll, nur mit einer Perlenkette bekleidet, einen nackten Unbekannten (der Kopf war abgeschnitten) oral befriedigte. Daraus entstand das genüsslich verbreitete Gerücht, ein in Verdacht geratener Minister habe Macmillan – zu Vergleichszwecken – seinen Penis gezeigt (das Gerücht war nicht völlig frei erfunden: später soll sich herausgestellt haben, dass der Schwiegersohn von Winston Churchill beim Premierminister als Unschuldsbeweis ein beglaubigtes Photo seines Geschlechtsteils abgegeben hatte, weshalb der neue Hauptverdächtige, Douglas Fairbanks Jr., noch nach Jahren beteuern musste, dass auch er es nicht gewesen war).

Die Dämonisierung des Dr. Stephen Ward: Ein Prozess als Ablenkungsmanöver

Schließlich scheint jemand auf die Idee gekommen zu sein, dass man einen Sündenbock haben sollte, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Einen, der nicht dieselben Schulen besucht hatte wie alle anderen. Stephen Ward. Die Polizei befragte Christine, Mandy und diverse Frauen, die Prostituierte waren oder es hätten sein können, nach ihrer Beziehung zu dem Chiropraktiker. Der Aufwand stand in keinem Verhältnis zum Ertrag. In Hunderten von Vernehmungen wurden, teils durch massive Einschüchterung, Indizien gesammelt, die beweisen sollten, dass Ward ein Zuhälter war. Hinweisen auf Spionage und Landesverrat wurde gar nicht erst nachgegangen.

John Profumo konnte das alles nicht mehr retten. In seinem Rücktrittsgesuch vom 4. Juni hieß es, er müsse zu seinem Bedauern zugeben, dass es doch Unschicklichkeiten in seiner Beziehung mit Christine Keeler gegeben habe. Er habe den Premierminister, seine Kollegen im Kabinett und das Parlament getäuscht, um seine Familie zu schützen. Von Spionen und Sicherheitsrisiken war nicht die Rede. Am 6. Juni veröffentlichte der Daily Mirror einen Leitartikel mit einem Satz, der später immer wieder zitiert wurde: „Was zum Teufel ist bloß los in diesem Land?“ Offenbar hatte es mit Stephen Ward zu tun. Am 8. Juni 1963 wurde er wegen Zuhälterei festgenommen.

Lady Catterley's Lover

Die Konservativen wussten längst, was los war im Land. Schuld war die sich wandelnde Sexualmoral. Eine Kommission empfahl, zur Entkriminalisierung der Homosexualität die Gesetze zu ändern. Der Antrag wurde im Parlament niedergestimmt, aber schon die Tatsache, dass ein solcher Antrag überhaupt eingebracht worden war, galt in manchen Kreisen als Beleg für den Kulturverfall. Im Oktober 1960 gewann der Penguin-Verlag den Prozess um Lady Chatterley’s Lover von D.H. Lawrence. Zum ersten Mal durfte der Roman im Vereinigten Königreich ungekürzt veröffentlicht werden. Der Verlag druckte sofort 300.000 Exemplare, und nach acht Monaten waren bereits zwei Millionen Bücher verkauft. Als Gegenreaktion gründeten einige konservative Parlamentsabgeordnete im Februar 1961 eine Aktionsgruppe, die sich die „Verteidigung moralischer Prinzipien im öffentlichen Leben“ zur Aufgabe machte. Barbara Cartland, Autorin von Liebesromanen und zukünftige Stiefmutter von Lady Di, machte mit. Vor konservativen Politikern verbrannte sie ein Männermagazin und verlieh unter donnerndem Applaus der Hoffnung Ausdruck, dieses kleine Feuer möge im ganzen Land einen gewaltigen Brand entfachen. Ein Opfer der Flammen wurde Stephen Ward.

Am 22. Juli 1963 begann der Prozess des Jahres - oder, wie der Daily Telegraph es nannte: die „schauerlichste cause célèbre seit Oscar Wilde“. Verhandelt wurde im Saal Nr. 1 des Old Bailey, dem zentralen Ort der britischen Justiz. Die Anklage vertrat Mervyn Griffith-Jones. Dieser Jurist hatte im Chatterley-Prozess erfolglos gegen den Penguin-Verlag gestritten und Sozialhistorikern ein immer wieder gern genommenes Zitat geschenkt: „Ganz ehrlich - ist das ein Buch, von dem Sie sich wünschen würden, dass Ihre Frau oder Ihre Dienstboten es lesen?“ Der Jurist mit Cambridge-Examen hatte durchgezählt und in dem Roman mehr als dreißig Mal das Wort „fuck“ gefunden, die fickende Lady Chatterley aber trotzdem nicht verhindern können. Diese Schmach wollte er jetzt tilgen. Ihm zur Seite stand Sir Archibald Pellow Marshall (Oxford-Absolvent), ein Mann vom Land und von christlich-fundamentalistischer Gesinnung. Richter Marshall hatte sich von einer Bekannten Stephen Wards porträtieren lassen und diese beim Liebesspiel mit ihrer Partnerin überrascht. In seinem Weltbild hatte nur der zur Fortpflanzung dienende Sex zwischen Mann und Frau Platz. Alles andere fand er widerlich. Im Verlauf des Prozesses machte er daraus kein Hehl. 1963 war das Jahr der Anti-Baby-Pille - das Jahr, in dem, wie Philip Larkin in seinem Buch Annus Mirabilis schreibt, der Geschlechtsverkehr erst richtig angefangen hat. Zu Gericht saß man im Saal Nr. 1 auch über die sexuelle Revolution.

Überall Gruppensex und Kommunisten: J. Edgar Hoover ermittelt

Einen prominenten Platz in diesem heute absurd anmutenden Sittengemälde sicherte sich Stella Marie Capes, die wir hier Mariella Novotny nennen wollen, weil sie diesen Namen am liebsten verwendete. Mariella war in einschlägigen Kreisen als „Miss Kinky“ bekannt. Sie gab exklusive, besonders gern von konservativen Parlamentariern besuchte Dinnerpartys, bei denen sie als Domina präsidierte und die Gäste spätestens nach dem Essen die Kleider ablegten. 1961 war sie nach New York gereist, wegen Prostitution festgenommen und abgeschoben worden. Seitdem erzählte sie von Doktorspielen mit John F. Kennedy. Bei den Vertretern der Skandalpresse fand sie nun ein offenes Ohr. Immer weiter ausgesponnen wurde die Geschichte vom Mann mit der Maske, der bei Mariellas „Pfauenfest“ als nackter Sklave das Essen serviert und selbst wie ein Hund aus einem Blechnapf gefressen hatte. Hinter der Maske hatte sich der Verkehrsminister verborgen, oder ein Mitglied der Königsfamilie, oder Anthony Asquith (Sohn eines Premierministers und Regisseur einer Film-Version von Pygmalion). Bis heute wird in Büchern und Aufsätzen über seine Identität spekuliert. Ward hatte Mariella porträtiert und an einigen ihrer Veranstaltungen als Gast teilgenommen. Das reichte, um ihn zum Organisator perverser Sexorgien zu machen.

Auch Christine Keeler und ihre Freundin Mandy waren nach New York gereist, hatten mit ihren kurzen Röcken für einiges Aufsehen gesorgt und sich einen Sonnenbrand geholt. Sonst war nichts passiert. Aber der KGB hatte J. Edgar Hoover, dem Chef des FBI, einen falschen Überläufer (Codename: Fedora) untergejubelt. Fedora bestätigte Hoover, was der immer schon gewusst hatte. Überall bei den Vereinten Nationen waren kommunistische Spione am Werk. Es gab einen kommunistischen Callgirl-Ring, zu dessen Kunden zahlreiche, vorzugsweise schwarze UN-Diplomaten gehörten, die regelmäßig Staatsgeheimnisse ausplauderten. Einen solchen Callgirl-Ring, sagte Fedora, gab es auch in London. Aufgebaut hatte ihn Sergeij Ivanov.

Am Tag von Stephen Wards Verhaftung legte das FBI eine Akte mit der Überschrift CHRISTINE KEELER. JOHN PROFUMO. INNERE SICHERHEIT - RUSSLAND, GROSSBRITANNIEN an. Falls Hoover noch Zweifel an Fedoras (frei erfundenen) Mitteilungen gehabt haben sollte, wurden sie am 16. Juni 1963 endgültig ausgeräumt. In der Zeitschrift Journal-American erschien ein Artikel, in dem ein gemeinsamer Bekannter von Ward und Ivanov behauptete, dass der Russe gedroht habe, England auszuradieren und vor der amerikanischen Küste eine Atombombe abzuwerfen. In London wurden daraufhin zwei FBI-Agenten installiert, die - unterstützt von der britischen Polizei - umfangreiche Vernehmungen durchführten. Die inzwischen freigegebenen Teile der Akte „Bowtie“ (Fliege) zeichnen ein vernichtendes Bild von Großbritannien. Das Land ist durchsetzt mit russischen Spionen, Zuhältern, Huren und Perversen.

Produktpiraten und Ikonen: Ein Photo geht um die Welt

Christine Keeler hatte mittlerweile einen Manager und einen Anwalt, die ihre Geschichte für 23.000 Pfund (nach heutigem Wert eine Viertelmillion) an das Skandalblatt News of the World verkauften. Weil die beiden Herren für die Vermarktung ihrer Klientin Bilder brauchten, wurde der Photograph Lewis Morley engagiert. In seinem Atelier entstand eine Photoserie mit Christine und der Kopie eines vom Designer Arne Jacobsen entworfenen Stuhls. Ein Abzug von einem der Bilder landete irgendwie beim Mirror, der es sofort in seiner Sonntagsausgabe abdruckte: Christine Keeler sitzt, die Lehne vor der Brust, nackt und mit gespreizten Beinen, auf diesem Stuhl und blickt herausfordernd in die Kamera. Dann wurde das Photo mit Bedeutung angefüllt.

Peter Rachman hatte Christine (und später Mandy) eine Weile lang ausgehalten. Kürzlich war er gestorben. Der Slumlord konnte demnach weder klagen noch seine Schläger schicken. Man hätte nun trefflich über ausgebeutete Mieter diskutieren können sowie darüber, was Rachmans Geschäftsmodell mit den Ressentiments gegen schwarze Einwanderer und mit den rassistisch motivierten Gewalttaten zu tun hatten, die überall dort auftraten, wo die Wohnungsnot besonders groß war. Aber darüber sprach man nicht. Ein paar Jahre zuvor hatte Nigel Kneale im Fernsehen der BBC nur in Form einer Geschichte über Marsmenschen vom Rassenhass in Notting Hill erzählen können (Quatermass and the Pit). Seitdem hatte sich wenig geändert. Offiziell gab es keinen Rassismus im Vereinigten Königreich. Dafür gab es Christine Keelers Bekannte aus Westindien, Lucky Gordon und Johnnie Edgecombe, die sich so schön in das Klischeebild vom schwarzen Vergewaltiger und Kriminellen pressen ließen. Davon wurde ausgiebig Gebrauch gemacht.

Am in Polen geborenen Peter Rachman, dessen Familie die Nazis ermordet hatten, interessierte nur sein Sexualleben. Seine ehemalige Mätresse erteilte bereitwillig Auskunft. So erfuhr das staunende Publikum, dass Rachman immer nur nachmittags Sex gehabt habe, dass er seiner Partnerin dabei nicht in die Augen habe sehen können und dass Christine Keeler sich deshalb mit dem Rücken zu ihm auf ihn habe setzen müssen. Die Phantasie der Briten hat sich von jeher an den Nazis zugeschriebenen Spielarten der Erotik entzündet und nicht nur dann, wenn sie Vorsitzende eines Automobilverbands sind. Deshalb fügte Christine noch an, dass Rachmans Vorlieben irgendetwas mit seinen Erlebnissen im KZ zu tun gehabt hätten. Jedenfalls stand das so in der Zeitung.

Morleys Photographie wurde durch die Enthüllungen über schwarze Sexmonster, willige Nymphomaninnen, Lesben, Masochisten, peitschenschenwingende Dominas, freie Liebe und Sex am Nachmittag assoziativ immer stärker aufgeladen. So wurde das Photo mit dem gefälschten Designerstuhl, das bald unzählige Spinde und Junggesellenbuden schmückte, zum Sinnbild für Sexualpraktiken abseits des im Dunkeln und in Missionarsstellung vollzogenen Geschlechtsverkehrs, für die sexuelle Revolution schlechthin und überhaupt für alles, woran man als Durchschnittsbrite bisher kaum zu denken gewagt hatte. Christine Keeler machte das Bild zu einer Ikone der Sixties.

Öffentliche Hinrichtung: Stephen Ward als Sündenbock

Am Abend des ersten Verhandlungstages gab es in der Museum Gallery in Holborn eine Vernissage. Der gegen Kaution freigekommene Stephen Ward stellte seine Porträts berühmter Persönlichkeiten aus. Fünf Tage später erschien ein distinguierter Herr in der Galerie, bezahlte 5.000 Pfund und nahm alle Bilder von Mitgliedern der Königsfamilie mit. Sie tauchten nie wieder auf. Die BBC verbreitete über ihr Fernsehprogramm eine Kritik der Ausstellung, an die man sich in Kunstkreisen noch viele Jahre danach mit Schaudern erinnerte - als die brutalste öffentliche Hinrichtung eines Künstlers, die man je miterlebt hatte. Wards Arztpraxis war ohnehin ruiniert, seit die Polizei seine Patienten zum Verhör einbestellt hatte.

Die Indizien gegen Stephen Ward, den angeblichen Zuhälter, waren äußerst dünn. Die Kunden, denen er für Geld junge Mädchen zugeführt haben sollte, wurden nicht befragt, weil das eine Vorladung Lord Astors und anderer Persönlichkeiten aus der Oberschicht bedeutet hätte. Griffith-Jones konnte trotzdem punkten, weil er Zeugen dafür beibrachte, dass der Angeklagte an Gruppensex teilgenommen hatte. Eine wegen Prostitution verhaftete Blondine hatte zweimal bezahlten Sex mit Ward gehabt, erinnerte sich auf Anraten des ermittelnden Chefinspektors aber lieber an Männer, die Ward ihr angeblich vorgestellt hatte und die sie, in seiner Wohnung und unter seiner Anleitung, gepeitscht hatte. Zu Wards Nachteil wirkte sich auch aus, dass keiner seiner vornehmen Freunde als Leumundszeuge für ihn aussagen wollte. Der Staatsanwalt und der Richter werteten das als Beleg für die moralische Verkommenheit des Angeklagten und nicht etwa für die Feigheit dieser Repräsentanten der guten Gesellschaft.

Begonnen hatte die Affäre als Politskandal. Es ging um den Verrat von Staatsgeheimnissen, das mögliche Ausspionieren atomarer Anlagen und die Pflichtvergessenheit des Kriegsministers. Durch die Gerichtsverhandlung verschwand Profumo aus dem Licht der Öffentlichkeit. So wurde ein nationaler Skandal in einen Sensationsprozess über die moralische Verkommenheit eines Privatmannes verwandelt. Die Jury – elf Männer und eine Frau – befand, dass Stephen Ward von dem Geld gelebt hatte, das Christine Keeler und Mandy Rice-Davies mit der Prostitution verdient hatten. Damit war der Straftatbestand der Zuhälterei erfüllt. Beweise gab es keine. „Die meisten von uns“, sagte später einer der Juroren, „hatten sich ihre Meinung schon gebildet, als wir von diesen ganzen Perversionen und dem Sex hörten. Man muss bedenken, dass wir damals nicht so liberal waren wie heute. Für uns alle war das äußerst ekelhaft. Aber einige von uns fanden es seltsam, weil Stephen Ward nicht aussah wie das, was er getan haben sollte. Es war alles ein bisschen jenseits unseres Begriffsvermögens, diese Auspeitschungen und so etwas.“

Stephen Ward erlebte die Urteilsverkündung nicht mehr mit. In der Nacht vom 30. auf den 31. Juli schluckte er genug Nembutal-Tabletten, um nie wieder aus dem Koma aufzuwachen. Er starb am 3. August 1963. Ein Regierungsmitglied formulierte es später so: „Nun ja, wir waren allerdings ein klein wenig unfair gegenüber Ward.“ Für Harold Macmillan, kürzlich noch als „Supermac“ gefeiert, war das Teil der Staatsraison. Doch die vielen fetten Schlagzeilen über Korruption, Landesverrat und moralischen Verfall hatten sein Ansehen zerstört. Er vereinbarte mit den Granden seiner Partei, noch einige Zeit im Amt zu bleiben, damit es nicht so aussah, als sei er wegen der Profumo-Affäre zurückgetreten. Im Oktober 1963 räumte er den Stuhl des Premierministers. Von der Königin wurde er geadelt. Aus Harold Macmillan wurde Lord Stockton. Lord Astor bereute sein ausschweifendes Leben, wurde ein gläubiger Christ und befolgte den Rat seines Bischofs, zu der Affäre zu schweigen. Lady Astor bat einen Exorzisten, in Spring Cottage den Teufel auszutreiben. Dom Robert Petitpierre gab danach zu Protokoll, dass er selten Kräften des Bösen begegnet sei, die so stark waren wie in diesem Haus. Als Bill Astor 1966 starb, verpachtete seine Witwe Cliveden an die Stanford University. Im Herrenhaus wurde ein Zentrum zur Förderung der britisch-amerikanischen Beziehungen eingerichtet. Heute ist Cliveden ein Luxushotel.

Ein Orden für den Kloputzer: Profumo wird rehabilitiert

John Profumo hatte, so die allgemeine Wahrnehmung, einen Fehler gemacht und zuletzt doch noch wie ein Gentleman gehandelt. Dafür verdiente er Respekt. Er blieb stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender einer von seiner Familie kontrollierten Versicherungsgesellschaft und Mitglied des Aufsichtsgremiums einer Haftanstalt. Nach dem Skandal begann er, sich im Londoner East End für Alkoholiker, Drogenabhängige und Obdachlose zu engagieren. Sein Einsatz, von der bürgerlichen Presse wohlwollend begleitet (die Profumos hielten Anteile an der Tageszeitung The Observer), brachte ihm viele Sympathien ein. Damals wurde die Geschichte lanciert, dass er sich nicht zu schade war, die Toiletten zu putzen. Das hätte, weil doch ein wenig übertrieben, leicht nach hinten losgehen können. Aber es funktionierte. Die „einfachen Leute“ waren von so viel Demut sehr angetan. (Als Erfindung in einem Roman oder einem Film wäre das frauenfeindlich: Ein Politiker schläft mit einer 19-Jährigen, wird erwischt und putzt im Slum das Klo, um zu zeigen, dass er wieder brav sein will.)

Auch das Establishment vergab Profumo und nahm ihn in Gnaden wieder auf. 1975 wurde er, als Anerkennung für seine wohltätige Arbeit, im Buckingham-Palast mit einem Orden ausgezeichnet (aber nur mit einem mittelmäßigen). Als Elizabeth II. ein von der Attlee-Stiftung (Profumo saß im Vorstand) finanziertes Wohnheim für Sozialarbeiter eröffnete, legte sie besonderen Wert darauf, sich mit dem Ex-Minister zu unterhalten. Das bedeutete viel im Königreich. 1995 lud Margaret Thatcher „den armen Jack Profumo“ zur Feier ihres 70. Geburtstags ein, erklärte ihn zum Nationalhelden und ließ wissen, dass es endlich an der Zeit sei, „die Keeler-Sache“ zu vergessen. Dabei hatte Profumo in den vergangenen 30 Jahren selten gefehlt, wenn die High Society etwas wirklich Wichtiges zu feiern hatte; er hatte nur nicht in der ersten Reihe gestanden. Selbstverständlich war er auch mit dabei, als sich die Spitzen der Gesellschaft in St. Paul’s trafen, um der Königinmutter kurz vor ihrem 100. Geburtstag die Referenz zu erweisen. Er starb 2006 als allseits geachtete Persönlichkeit des gesellschaftlichen Lebens in Großbritannien.

John Trevelyan bedauert: Ein Skandal wird wegzensiert

Daran, „die Keeler-Sache“ möglichst schnell zu vergessen, arbeiteten auch andere. Die Sonntagszeitung News of the World brachte Christines Geschichte in Fortsetzungen, worauf die Bohrerfirma Black & Decker ihre Anzeigen zurückzog. TV-Spots, mit denen für die Artikelserie geworben werden sollte, wurden von der Aufsichtsbehörde untersagt. Die Redaktion der populären BBC-Sendung 24 Hours plante ein Interview mit Christine Keeler und sagte es im letzten Moment ab. Eine Dokumentation, die der spätere Filmregisseur Mike Hodges für das Privatfernsehen ITV vorbereitete, wurde abgewürgt.

Die Topaz Film Corporation wollte in aller Eile den Film zur Affäre drehen, mit Christine Keeler in der Hauptrolle. John Trevelyan, der Leiter der Zensurbehörde, lehnte das kategorisch ab, weil es junge Mädchen dazu verleiten konnte, sich ähnlich skandalös zu verhalten. Also wurde The Christine Keeler Affair ohne Christine Keeler hergestellt, mit Yvonne Buckingham in der Titelrolle (nur Mandy spielte sich selbst). Christine trifft sich in dem Film mit älteren Herren zum Tête á Tête, oder sie geht in die Sauna, in der sich Schwarz und Weiß einträchtig versammelt haben (vermutlich zum Gruppensex). Natürlich trägt sie das berüchtigte Handtuch. Dieses Handtuch steht stellvertretend für John Profumo, der es Christine damals, am Pool von Lord Astors Landsitz, vom Leib reißen wollte. Der Kriegsminister selbst kommt nur am Rande vor.

The Christine Keeler Affair

In Großbritannien wurde dem Film jegliches Zertifikat verweigert, und ohne ein Zertifikat der Zensurbehörde durfte er nicht öffentlich gezeigt werden. Die Uraufführung fand in Dänemark statt. 1970 wurden die Zensoren wieder mit dem Film konfrontiert. Die neue Fassung enthielt etwas mehr Material über Profumo, und es gab einleitende Worte von Christine Keeler. Das Zertifikat wurde erneut verweigert, obwohl Trevelyan in seinen Memoiren (What the Censor Saw) zugibt, dass der Film in Wort und Bild nichts enthielt, was den Richtlinien nach ein „X“ (Freigabe ab 16 Jahren) verhindert hätte. Vorwürfe, er habe sich dem Druck der Regierung gebeugt, wies er vehement zurück. In seinem Erinnerungsbuch verweist er stolz auf die völlige Unabhängigkeit seiner Behörde. Wozu auch Druck ausüben, bei so viel vorauseilendem Gehorsam?

Amazonen, Peitschen und ein weißes Nashorn: Hammer verfilmt die Profumo-Affäre

Die Angelegenheit war also – gelinde gesagt – sehr heikel. Sie konnte aber auch sehr profitabel sein. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, welchen Gedankengängen man damals in Hammer House folgte, dem Hauptquartier der Firma Hammer in der Wardour Street (nur ein paar Straßen von Murray’s Cabaret entfernt). Aus der Affäre ließ sich durchaus ein Film machen, der in Großbritannien aufführbar war. Man durfte nur keinem auf die Nase binden, dass der Film mit Christine Keeler, Profumo und Ivanov zu tun hatte. Am besten, er würde in einer anderen Zeit spielen, und in einem anderen Land. Vielleicht irgendwo in Afrika, weil dann kein Zensor etwas gegen Schwarze einwenden konnte (und weil der Weltkriegskämpfer Profumo aus Afrika einen sehr karriereförderlichen Orden mitgebracht hatte). In Michael Carreras, dem Sohn des Chefs, hatte man einen Experten für die Londoner Nachtclub-Szene. Ihm fiel die Aufgabe zu, den Film zu realisieren, sobald sich die erste Aufregung gelegt hatte.

Martine Beswick in Slave Girls

Slave Girls (dt. Verleihtitel: Sklave der Amazonen) ist der bizarrste Eintrag im an Bizarrerien nicht gerade armen Oeuvre des Michael Carreras. Es gibt weiße Großwildjäger, schwarze Krieger, eine böse Königin, Sklaven und Amazonen sowie einen Nashornkult. Dieser Film, zu dem Michael Carreras selbstkritisch anmerkte, dass es ein Fehler gewesen sei, keine Sprechblasen einzufügen wie im Comic Strip, scheint rein gar nichts mit John Profumo und Christine Keeler zu tun zu haben. Und doch: Die verfeindeten Amazonen sind dunkelhaarig bzw. blond wie Christine und Mandy, die seit 1963 eine sehr öffentlich geführte Privatfehde austrugen. Martine Beswick, die Kari-Darstellerin, war ein zweifaches Bond-Girl, vor allem aber auf den Westindischen Inseln geboren, was in Pressetexten zum Film ausführlich gewürdigt wurde, weil Hammer längst gelernt hatte, mit den Assoziationen des Publikums zu arbeiten und so die Zensur zu umgehen.

In der beengten Atmosphäre der Studiokulissen wird Karis Reich zur „afrikanischen“ Version von Murray’s Cabaret. Hier führen junge, spärlich bekleidete Mädchen lasziv gemeinte Tänze auf, und gelegentlich wird ausgepeitscht wie bei den Abendveranstaltungen der Domina Mariella Novotny. Wenn Martine Beswick nicht gerade damit beschäftigt ist, den Helden mit einem Paarungstanz zu becircen oder ihm im Bade zu begegnen wie Christine dem Kriegsminister, trägt sie zum knappen Fell-Bikini eine Art Tiara und einen Flokati-Umhang – das ist die Camp-Version des ohnehin schon ziemlich campigen Outfits, in dem Christine Keeler bei Murray auf der Bühne stand.

Wer die Berichterstattung zum Skandal verfolgte, konnte leicht den Eindruck gewinnen, dass das männliche Personal aus weißen Masochisten mit Gesichtsmaske und schwarzen Vergewaltigern von den Westindischen Inseln bestand. In Slave Girls tragen die Schwarzen phallische Masken und erhalten schöne hellhäutige Frauen als Opfergabe, während die Weißen angekettet in einer Höhle gehalten werden und unter entwürdigenden Umständen ihr Essen bekommen wie die Masochisten bei Mariella Novotny. Slave Girls ist kein guter Film, und sein Ruf ist noch viel schlechter. In seinen besseren Momenten ist er trotzdem von fast dokumentarischer Qualität, weil er, in einer absurden Geschichte versteckt, ein Stimmungsbild jener Zeit bietet, in der die Zeitungen sich mit immer neuen Enthüllungen überboten und fast alles für möglich gehalten wurde. Sadomasochistische Männerphantasien und weiße Nashörner stehen dann urplötzlich in enger Beziehung zur britischen Wirklichkeit. So ist auch eine Kritik in der Zeitschrift Films and Filming zu erklären, wo Hammer-Produktionen sonst nur verrissen wurden: „Jawohl - als bloßes Unterhaltungsstück mag der Film langweilig sein, aber er ist mit Sicherheit ein sehr ernst gemeintes Kunstwerk, und als solches hat er viel zu sagen.“

Damals bestand ein Kinoabend noch aus zwei Filmen. Dr. Stephen Ward, der junge Frauen nach seinen Vorstellungen neu „erschaffen“ hatte, geisterte auch als „Professor Higgins“ oder als „Pygmalion“ durch die Gazetten, und Mrs. John Profumo hatte, noch als Valerie Hobson, die Frau von Frankenstein gespielt. Das passte hervorragend zu einem Projekt, das man seit einigen Jahren in der Schublade hatte. Frankenstein Created Woman wurde nun kräftig mit Profumo-Elementen angereichert. In einer Gerichtsverhandlung wird ein Mann aus einfachen Verhältnissen zum Tode verurteilt, während die wahren Schuldigen, drei Schnösel aus der Oberschicht, amüsiert im Publikum sitzen. Mitte der 1960er ging man damit so weit, wie das überhaupt nur möglich war.

Frankenstein erschuf ein Weib oder: Ein Handtuch als Politikum

Als die von Frankenstein (Peter Cushing) erschaffene Frau wurde das österreichische Starlet Susan Denberg verpflichtet. Dietlinde Zechner, wie sie mit bürgerlichem Namen hieß, kam mit PR-Photos für die Verfilmung von Norman Mailers An American Dream nach London (sie hatte darin eine kleine Rolle als Ruta, das mannstolle Zimmermädchen aus Deutschland). Die Photos zeigten sie fast nackt, nur in ein Handtuch gehüllt. Das war perfekt. Schließlich war es eine Hammer-Spezialität, den Zuschauer mit vorweg verabreichten Bildern (und dadurch hervorgerufenen Erwartungen) ins Kino zu schicken und ihn (in seiner Phantasie, nicht auf der Leinwand) Dinge sehen zu lassen, die der Zensor Trevelyan nie erlaubt hätte. Die Photos wurden in die Werbekampagne für Frankenstein Created Woman integriert, weil Denberg und das Handtuch Assoziationen an Christine Keeler und den Pool von Cliveden hervorriefen. Wer das überinterpretiert findet, sollte berücksichtigen, dass 1969 ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob die Mini Coopers in The Italian Job (das Original mit Michael Caine) als Anspielung auf die Profumo-Affäre gemeint waren (Profumo fuhr im Mini zum Schäferstündchen mit Christine Keeler).

Susan Denberg

Leider machten Vater und Sohn Carreras dann einen strategischen Fehler: sie kündigten Slave Girls und Frankenstein Created Woman als Doppelprogramm an, bevor diese ein Zensur-Prädikat erhalten hatten. Anschließend wollten sie es nicht mehr riskieren, dem durchaus gewitzten John Trevelyan beide Filme gemeinsam vorzulegen. Slave Girls kam erst zwei Jahre nach Frankenstein Created Woman (und in einer stark gekürzten Fassung) in die britischen Kinos. Es lohnt sich, beim Sehen der Filme daran zu denken, dass sie einmal als Double Feature konzipiert wurden. Oft traut sich die Populärkultur viel schneller und mutiger an heikle Themen heran als die Hochkultur. Mitunter erhält man so neue, spannende Einsichten in für bekannt gehaltene Zusammenhänge. Auf Hammer-Produktionen trifft das erstaunlich oft zu. Man muss nur genau hinschauen, ohne sich von Frankenstein-Monstern, Amazonen und weißen Nashörnern abschrecken zu lassen. Zu beiden Filmen sind übrigens kaum Zensurunterlagen erhalten. Das überrascht, wenn man weiß, wie penibel in Trevelyans Behörde die Akten geführt wurden. Aber vielleicht wurden sie nur entsorgt, um Platz zu schaffen.

Unterhosen und Spione: Christine Keeler enthüllt

Der Löwenanteil der 23.000 Pfund, die Christine Keeler von den News of the World erhalten hatte, landete bei Anwälten, Managern und sonstigen falschen Freunden. Im Dezember 1963 wurde sie wegen einer Falschaussage in einem anderen Verfahren zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, von denen sie sechs absitzen musste. Nach ihrer Entlassung hatte sie Affären mit einem Verwandten der Krays (die Kray-Zwillinge waren berüchtigte Londoner Gangster) und einem Popsänger. Ihre Ehe mit einem einfachen Arbeiter ging in die Brüche, als ihr überforderter Gatte dem Stern gegen Bezahlung gestand, in eine deutsche Blondine verliebt zu sein. Wie Profumo kümmerte sie sich ehrenamtlich um die Rehabilitation von jugendlichen Drogenabhängigen, wurde dafür aber weder mit einem Orden dekoriert noch von Margaret Thatcher zur Geburtstagsparty eingeladen. Ein Bild von ihr hängt heute allerdings im Londoner Victoria and Albert Museum. Natürlich ist es das Morley-Photo mit dem gefälschten Designerstuhl.

Scandal

Christines Ehe mit einem Metallfabrikanten endete mit einem komplizierten Scheidungs- und Sorgerechtsverfahren und dem Umzug in eine Sozialwohnung. Diese Wohnung konnte sie wieder verlassen, als sie die Filmrechte an ihrer Geschichte an die US-Produktionsfirma Miramax verkaufte. „Hier ist endlich die Wahrheit!“ versprach sie im Vorwort zu Scandal, dem unter ihrem Namen veröffentlichten Buch zum Film. Der Film ist erstaunlich blutleer, arbeitet brav die wichtigsten Personen und Ereignisse ab und bleibt doch fragmentarisch. Die Produzenten haben ihn drastisch gekürzt, oder der Drehbuchautor konnte sein Material nicht organisieren. Obwohl auf dem Plakat Joanne Whalley-Kilmer in der bekannten Pose auf dem Jacobsen-Stuhl sitzt (diesmal scheint es ein Original zu sein), fehlt sogar das berühmte Photo Shooting. Der Slumlord Peter Rachman wird als irgendwie negative Figur präsentiert, aber wer nicht vorher etwas über ihn wusste, ist hinterher auch nicht schlauer. Der Kriegsminister sieht aus wie ein Clown, weil der Maskenbildner nicht wusste, wie er Ian McKellen die Profumo-Glatze aufkleben sollte. Ivanov faselt etwas von westlicher Dekadenz, trinkt Wodka und weint nach dem Ehebruch mit Christine, weil Russen das eben so machen. Der Gruppensex, die Masochisten und die Phallus-Statuen auf Wards Esstisch waren offenbar so bedrohlich, dass sie durch eine aufgesetzte Liebesgeschichte neutralisiert werden mussten. Christine Keeler mag ihre Mutter und liebt sonst nur Stephen Ward, der das aber nicht merkt, oder nur ihr väterlicher Freund sein will, oder so ähnlich. Michael Carreras’ Amazonen und das weiße Nashorn werden schmerzlich vermisst.

1993 bezahlte der Daily Express Christine Keeler eine Reise nach Moskau. Auf dem Roten Platz traf sie den jetzt 67-jährigen Evgenij Ivanov, von dem es geheißen hatte, er habe sich entweder in die USA abgesetzt oder sei vom KGB liquidiert worden, bis 1992 seine Memoiren erschienen (The Naked Spy). Ivanov ließ sich dabei photographieren, wie er Christine einen Kuss gab und eine Schachtel mit russischen Pralinen schenkte. Später gab er zu, damals, 1961, mit ihr geschlafen zu haben, weshalb seine Gattin sich von ihm getrennt habe. Valerie Hobson stand bis zu ihrem Tod treu an der Seite ihres Mannes und wurde dafür von den Honoratioren der besseren Kreise gern als „das einzig Erfreuliche“ an der ganzen Affäre gewürdigt. Ivanov fand es ungerecht, dass er wegen der Affäre seine Frau verloren hatte und Profumo nicht. Jedenfalls behauptet das Christine Keeler in ihrer Autobiographie, die ein Verfasser schlecht recherchierter Bücher über Madonna und John Travolta für sie geschrieben hat: The Truth at Last (2001). Der Leser erfährt, dass die züchtige Christine ihr Höschen anbehalten hatte, als sie sich im Photoatelier auf den nachgemachten Designerstuhl setzte und dass Ward einen russischen Spionagering leitete, zu dem neben Ivanov auch der Chef des MI 5 gehörte. Ivanov konnte das nicht mehr kommentieren, weil er 1994 gestorben war.

Truth at Last

Opfer der Heuchelei

Der Sündenbock, der durch die Affäre seine bürgerliche Existenz verlor und in den Selbstmord getrieben wurde, ist weitgehend vergessen. Wenigstens heute, an seinem Todestag, sollte man sich kurz an Stephen Ward erinnern. Das Krankenzimmer, in dem Ward in den ersten Augusttagen des Jahres 1963 noch mehr als 70 Stunden im Koma lag, bevor er starb, war voller Blumen, deren Absender lieber anonym bleiben wollten. Sechs Tage später wurde der eingeäscherte Leichnam beigesetzt. Ort, Datum und Uhrzeit wurden geheimgehalten. Deshalb waren nur sechs Trauergäste anwesend, und keine Schaulustigen. Es gab zwei Kränze. Einer war von der Familie des Toten. Der andere bestand aus hundert weißen Nelken. Geschickt hatten ihn die Dramatiker John Osborne, Arnold Wesker und Joe Orton; die Kritiker Kenneth Tynan und Penelope Gilliatt; und die Jazzsängerin Annie Ross. Beiliegend eine Karte mit der Aufschrift: „Für Stephen Ward, Opfer der Heuchelei.“