Heute ist Freedom Day in England
Sieben-Tage-Inzidenz: Während in Deutschland Werte über 10 bereits als kritisch gesehen werden, liegt der Wert in Großbritannien weit über 400. Boris Johnson hebt dennoch Maskenpflicht und andere Maßnahmen auf und bittet in Quarantäne-Video um Vorsicht
"Spinnen die Engländer?", lautete die Frage, als Premierminister Boris Johnson den "Freedom Day" verkündete, die Aufhebung der wichtigsten Corona-Beschränkungen ab 19. Juli. So ist ab heute das Maskentragen in Innenräumen mit Menschenmengen nicht mehr verpflichtend, sondern nur mehr dringlichst empfohlen: "Please, please please", be cautious -vorsichtig!, appelliert Boris Johnson an die Bevölkerung.
Er erwähnt in seinem Video auch den beachtlichen Anstieg der Infektionen durch die Delta-Variante. Dazu gab es in der jüngsten Zeit Zahlen von Neuinfektionen, die sehr weit über 40.000 täglich lagen, zum Teil waren es sogar über 50.000. Das wurde auch außerhalb Englands zur Kenntnis genommen und lässt den Feldversuch mit der Eigenverantwortlichkeit noch waghalsiger erscheinen. Dazu kam, dass britische Wissenschaftler die Abschaffung der Maßnahmen als "gefährlich, verfrüht und unethisch" bezeichneten. Sie warnten vor Hundertausenden von Ansteckungen.
Grenzen
Mit 100.000 Neuinfektionen pro Tag wäre tatsächlich eine Grenze erreicht, wenn man den Erfolgs-Kriterien folgt, die Professor Neil Ferguson vom Imperial College aufstellt. Dieser wird von der Zeitung The Telegraph zitiert, dass die Fallzahlen der Neuinfektionen die Spitze von 100.000 täglich kurz erreichen dürfte, um dann aber darunter zu bleiben. Die täglichen Krankenhauseinweisungen sollten unter der 1.000-Marke bleiben. Derzeit stehe der Durchschnittswert der letzten sieben Tage (seven-day rolling number of admissions) bei 616 Einweisungen täglich, berichtet die Zeitung.
Der Telegraph-Artikel versucht, das Erschrecken über die hohen Zahlen der registrierten Neu-Infizierten zu relativieren, in dem er ein zentrales Argument der Regierung unterstützt: Dass die Impfung den Zusammenhang zwischen Corona-Infektionen und dem schweren Verlauf einer Corona-Erkrankung stark geschwächt habe.
Das bekräftigte Boris Johnson in seinem aktuellen Video erneut und die Skepsis darüber ist das Hauptargument der genannten Wissenschaftler. Mittlerweile sollen sich rund 1.000 Wissenschaftler dem Appell an die Regierung angeschlossen haben, mit der Aufhebung der Maßnahmen doch noch zu warten.
Laut Telegraph zeigt sich gegenwärtig ein ganz anderes Bild als in früheren Corona-Wellen, als bei Weitem noch nicht so viele Menschen geimpft waren (Stand 17. Juli waren 68,3 Prozent im UK vollständig geimpft und 87,9 Prozent einfach).
Die Todesfälle würden "derzeit nur ein Sechzehntel des Niveaus" betragen, "das während ähnlicher Infektionsraten in früheren Covid-Wellen gesehen wurde", so die Zeitung, die sich auf neueste Zahlen beruft:
Die jüngsten Daten zeigen, dass trotz eines Anstiegs der Fallzahlen die täglich gemeldete Zahl (der Corona-Toten, Einf. d. A.) am Sonntag nur 25 betrug, verglichen mit 414 am 29. Januar, als die siebentägige Fallrate nahe der aktuellen Rate von 45.000 Neuinfektionen pro Tag lag.
Der tägliche Durchschnittswert der "seven-day rolling daily death rate" liegt derzeit bei nur 40 im Vergleich zu 559 am 29. Dezember (…).
Die Sterberate in England und Wales liegt derzeit 5,2 Prozent unter dem Fünf-Jahres-Durchschnitt, so die Zahlen des Office for National Statistics (ONS), wobei Covid nur noch 1,2 Prozent der Todesfälle ausmacht.
Die Zahl der Krankenhauseinweisungen liegt bei einem Viertel des Wertes zum gleichen Zeitpunkt der Winterwelle, während die Zahl der Patienten im Krankenhaus bei einem Fünftel des damaligen Wertes liegt.
Telegraph
Covid sei für die meisten Menschen "durch die Impfung eine viel mildere Krankheit geworden". Der Satz des Epidemiologen Tim Spector enthält die Wette der englischen Regierung. Berichtet wird, dass ein Anstieg von Infektionen auch von Doppelt-Geimpften beobachtet wird. Wie sich dies weiterentwickelt, ist die Bewährungsprobe.
Dafür gibt es einen prominenten Fall, die Covid-Infektion des Gesundheitsministers Sajid Javid, der zuvor zweimal mit Astrazeneca geimpft worden war. Die Symptome seien mild, sagte der Politiker, der erst seit einigen Wochen im Amt ist. Eine Beobachtung am Rande dazu ist, dass die Erkrankung des Gesundheitsministers auch in vielen Live-Tickern hierzulande gemeldet wurde, der Hinweis darauf, dass die Erkrankung - jedenfalls bislang- mild verläuft, stand meist im Kleinergedruckten einige Sätze unterhalb der dickgedruckten Titelzeile.
Pingdemic
Javid wie auch sein Vorgesetzter Johnson stehen gerade im nächsten Tumult über die Corona-Maßnahmen, da sie versucht hatten, einer zehntägigen Quarantäne zu entgehen, die für ihre Fälle (Ansteckung, Kontakt zu Angesteckten) vorgesehen ist. Sie versuchten dies über eine Freistellung zu erreichen, die durch eine Teilnahme einer Pilotstudie möglich ist. Diese untersucht, ob die Quarantänebestimmungen durch ständige Tests zu ersetzen wäre.
Johnson und Javid mussten wegen öffentlicher Empörung ("VIPs, die Sonderregelungen für sich zu ergattern versuchen" - beide hatten sich nicht rechtzeitig für den Pilotversuch angemeldet") in die Quarantäne. Nun ist aber die Quarantäne-Regelung in der Kritik. Eine App des Gesundheitssystems verlangt die Quarantäne, wenn eine Ansteckung oder die Nähe zu einem Angesteckten gemeldet wird. Dies gilt auch für Doppelt-Geimpfte.
Angesichts der Höhe der Neuinfektionen schnellten auch die Zahlen der verordneten Selbst-Quarantänen in die Höhe.
Es sollte nicht überraschen, dass 530.126 Personen in der ersten Juliwoche von der mobilen App "angepingt" wurden - eine Verzehnfachung in einem Monat - wenn man bedenkt, dass in derselben Woche 186.422 Personen positiv getestet wurden.
Financial Times
Für die Geschäftswelt, darunter auch Supermärkte, die sich vom Ende der Maßnahmen den Anfang einer starken Erholung versprechen, ist das ein Problem, wenn viele Angestellte zuhause bleiben müssen. Deshalb soll die Regierung nachkorrigieren. Bislang ist es vage, wie dringlich die Selbstquarantäne befolgt werden muss, da dies gesetzlich nicht vorgeschrieben ist. Die Unternehmer wollen jetzt Sicherheit über die "Pingdemic"-Maßnahme.