Hier ist das Berlin, das jeder haben will
Moritzplatz. Bild: Aufbau Verlag, Reno Engel / CC-BY-SA-4.0
Moritzplatz in Kreuzberg: "Kahlschlagsanierung" und neue Wirklichkeit
Hier ist das Berlin, das keiner haben will: zerbombt, abgerissen, lustlos wiederaufgebaut, hässlich. Keine Menschenseele würde sich für die Stadt interessieren, wenn sie überall so aussähe.
Udo Badelt: Der Moritzplatz: schlafende Schönheit, in: Der Tagesspiegel vom 5. Juli 2010
Ähnlich wie man heute mit Verachtung auf die Architektur der Nachkriegsmoderne blickt, sah man bis mindestens in die 1970er auf das "steinerne Berlin" der Gründerzeit. "Licht, Luft, Sonne!" war das Nonplusultra in West und Ost. Von "lustlos wiederaufgebaut" kann keine Rede sein.
Es herrschte Aufbruchstimmung, als der Wiederaufbau begann. Manch ein Stadtplaner sah in den Kriegszerstörungen sogar einen Segen. Der Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg wirkt heute vor allem deshalb so zerrupft, weil hier die Westberliner "Kahlschlagsanierung" zum Stillstand kam und nördlich Ostberlin begann.
Auf der Westseite hat 2011 das Aufbau-Haus des gleichnamigen Verlages samt eines sogenannten Kulturkaufhauses eröffnet, das seitdem scharenweise Kreative anlockt. Das war auch die Absicht der Betreiber, die an eine glorreiche Vergangenheit anknüpfen wollten, als diese Ecke Berlins "zum Inbegriff der Urbanität" wurde, wie es auf deren Webseite heißt. Gemeint ist die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Tatsächlich befand sich an der Stelle des heutigen Aufbau-Hauses mit der Bierquelle Aschinger ein großes Vergnügungsetablissement, und gegenüber, wo heute ein paar Unentwegte in den Prinzessinnengärten Landwirtschaft und einen Biergarten betreiben, eröffnete 1913 ein großes Wertheim-Kaufhaus. Deshalb gibt es hier überhaupt einen U-Bahnhof, denn der Wertheim-Konzern zahlte viel dafür, dass die U-Bahn hier einen Schlenker macht.
Allerdings war die Luisenstadt, wie die Gegend um den Moritzplatz bis 1920 hieß, Teil des proletarischen Berliner Ostens, wohin es viele arme Schlucker aus den preußischen Ostprovinzen zog. Zur Urbanität zählte damals auch eine große Wohnungsnot. Menschen, die auf Handkarren ihr gesamtes Hab und Gut durch die Straßen zogen, gehörten am Quartalsende zum normalen Stadtbild.
Die Hälfte der Berliner wechselte ein Mal im Jahr die Wohnung
Seinerzeit wechselten durchschnittlich knapp die Hälfte der Berliner ein Mal im Jahr die Wohnung, denn es gab keinerlei staatliche Regulierung der Mietverhältnisse und daher keinen Kündigungsschutz. Bisweilen mischten sich aber auch die Nachbarn ein oder zufällig anwesende sensationslüsterne Passanten. Dann konnte auch schon mal ein Vermieter verprügelt und seine Wohnung demoliert werden, und es kam zu kleineren Scharmützeln mit der herbeigerufenen Polizei.
Bereits Ende Juni 1863 geriet der Moritzplatz erstmals in die Schlagzeilen. Am 29. Juni kündigte der Gastwirt A. Schulze aus der Oranienstraße 64 seinen eigenen Rauswurf zum Monatsende an, indem er in seiner Kneipe ein entsprechendes Schild aufhing. Wegen des umsatzsteigernden Erfolges plakatierte er am Folgetag auch in den angrenzenden Stadtteilen. Damit lockte er genügend Menschen an, um Rabatz machen zu können und löste so die Moritzplatzkrawalle aus.
Diese breiteten sich bald im ganzen Viertel aus und verwandelten die Gegend bis zum 4. Juli in ein Schlachtfeld, auf dem es zu Hetzjagden auf Polizeibeamte kam, die ihrerseits mit blankem Säbel ins Gefecht zogen. Während der oppositionelle bürgerlich-liberale Publizist die Tumulte zu großstadtüblicher Randale kleinzuschreiben trachtete, sah die konservative, dem Obrigkeitsstaat verpflichtete Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung bereits "den Anfang einer Revolution der Mieter gegen die Vermieter", weil die bürgerliche Profitwirtschaft Unruhe geradezu provoziere.
"Zur Mütze"
In der Oranienstraße 64 befindet sich heute keine Kneipe mehr. Dafür lädt ein Haus weiter eine wundervolle Kaschemme namens "Zur Mütze" zum Verweilen ein. Gegen Feierabend sind die Plätze am Tresen fast alle belegt. Manch einer trägt noch seine Arbeitsklamotten. Es wird berlinert, geraucht und gesoffen. Wenn nicht gerade der Berliner Rundfunk vor sich hin dudelt, läuft aus der Jukebox Musik aus der Jugend der meisten Stammgäste, Uriah Heep etwa oder Black Sabbath.
Man kann Dart spielen oder sein Geld in einem der beiden Geldspielautomaten schreddern. Auf eine Wand sind die Noten des Gassenhauers "Das ist die Berliner Luft" von Paul Lincke, der hier in der Gegend wohnte, gemalt. Eine klassische Berliner Kneipe.
Otto-Suhr-Siedlung
Das Gebäude, in dem sich dieses Reservat für Berliner Urgesteine befindet, ist weniger klassisch. Es ist Teil der Otto-Suhr-Siedlung, die hier von 1956 bis 1963 in der Hochphase des Kalten Krieges entstand. Berlin war damals das Schaufenster zweier konkurrierender Systeme, und Ostberlin hatte mit der Stalinallee städtebaulich vorgelegt. Wie die Ernst-Reuter-Siedlung im Wedding, deren Bau kurz zuvor begonnen hatte, war die Otto-Suhr-Siedlung ein Vorzeigeprojekt, welches die Überlegenheit des westlichen Städtebaus vorführen sollte.
Beide Siedlungen entstanden ganz bewusst an der Sektorengrenze zum sowjetischen Sektor, damit sie von Ostberlin aus gesehen werden können. Das war zwar etwas albern, weil bis zum Mauerbau viele Ostberliner ohnehin regelmäßig Westberlin besuchten – zum Arbeiten oder zum Einkaufen, für Kinobesuche oder um einen der beiden Westableger des heutigen 1. FC Union Berlin anzufeuern.
Die Gegend bot sich aber auch deshalb für die Bebauung an, weil ein amerikanischer Luftangriff kurz vor Kriegsende große Teile der alten Luisenstadt dem Erdboden gleich gemacht hatte und hier deshalb relativ leicht Baufreiheit herzustellen war.
Viele der Häuser, die hier entstanden, könnten genauso gut in der gegen Ende der Weimarer Republik errichteten Wohnstadt Carl Legien in Prenzlauer Berg stehen. Die zählt seit 2008 immerhin zum Weltkulturerbe. Wie in allen Siedlungen der Moderne gibt es nur wenige Ladenräume, weshalb es hier für Kreuzberger Verhältnisse ausgesprochen ruhig ist. In der Kommandanten-/Ecke Alexandrinenstraße befindet sich ein kleines Zentrum, das fest in türkischer Hand ist.
Es gibt das Musikcafé Masal, das tagsüber hauptsächlich von türkischen Frauen besucht wird, sowie die Sportsbar Stadtmitte, deren Namen daran erinnert, dass das historische Zentrum Berlins von hier bequem zu Fuß zu erreichen ist. Begrenzt wird das Viertel in westlicher Richtung von einer größeren Wiese mit ein paar Bäumen und einem Sportplatz, die man etwas großspurig Waldeckpark getauft hat. Dahinter ist die Bundesdruckerei.
Etwa zwei Drittel der Bewohner haben heute einen Migrationshintergrund, zumeist einen türkischen. Die Otto-Suhr-Siedlung gehört zu den ärmsten Gegenden der Stadt. Ursprünglich hatte die städtische Wohnungsbaugesellschaft Bewoge alle Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtet.
Deutsche Wohnen: "Fallstudie Kreuzmitte"
Nach Privatisierungen und "In-sich-Verkäufen" an andere städtische Wohnungsbaugesellschaften verwaltet heute die aus der Ostberliner Kommunalen Wohnungsverwaltung Mitte hervorgegangene WBM knapp die Hälfte des Wohnungsbestandes und den größeren Teil die inzwischen zum Vonovia-Konzern gehörende, gewinnorientierte Deutsche Wohnen.
Da die deutsche Wohnungsbauförderung den Bauherren nur eine zeitlich begrenzte Sozialbindung als Gegenleistung abverlangt, ist diese in der Otto-Suhr-Siedlung längst ausgelaufen. Das Gleiche gilt für die Spring-Siedlung, die nach dem Mauerbau auf der anderen Seite der Oranienstraße als Erweiterung entstand.
Vor fünf Jahren schreckte denn auch die Deutsche Wohnen mit einer "Fallstudie Kreuzmitte" die Bewohner auf. Darin erhoffte sich die größte Vermieterin des Viertels mittelfristig eine um 100 Prozent höhere Marktmiete, die sie im Wesentlichen durch energetische Sanierung durchzusetzen gedachte.
Schnell bildete sich mit dem "Bündnis Otto-Suhr-Siedlung + Umgebung" eine Interessenvertretung der betroffenen Mieter. Gemeinsam mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist es ihnen immerhin gelungen, die nach der Modernisierung zu erwartenden Mieterhöhungen für die Bestandsmieter auf höchstens 1,79 Euro pro Quadratmeter zu deckeln.
Die Aldi-Filiale gegenüber der Mütze schloss aber trotzdem letztes Jahr. Stattdessen bietet jetzt Denns BioMarkt seine Waren feil.
Vom Moritzplatz in Richtung des U-Bahnhofs Prinzenstraße sah man bis vor kurzem noch einige Brachflächen und behelfsmäßige Bauten. Die Autovermietung Robben & Wientjes machte sich hier breit. Auf deren beiden Grundstücken errichtete die Pandonion AG zwei Bürogebäude mit wichtigtuerischen Namen. Es herrscht eine gewisse Goldgräberstimmung. Die Tankstelle an der Ecke zur Ritterstraße hält sich bisher noch. Ein zweigeschossiges Haus, in dem man Pumpen aller Art kaufen kann, steht jetzt inmitten zweier Baustellen. Wohnungen entstehen keine.
Stadterneuerung
Die merkwürdig zusammengestückelte Bebauung hier ist eine Spätfolge des ersten Flächennutzungsplans für Westberlin aus dem Jahr 1965. Er überzog Berlin mit einem Netz aus Stadtautobahnen und autobahnähnlichen Straßen. Nach diesen Plänen wäre der Moritzplatz noch um einiges ungemütlicher, als er heute ist.
Von Schöneberg kommend sollte die "Südtangente" auf der Höhe des heutigen Jüdischen Museums die Friedrichstraße kreuzen, am Moritzplatz in die Oranienstraße einfädeln und über den alten Görlitzer Bahnhof aus Kreuzberg wieder herausführen. An der Ritterstraße war eine Auffahrt geplant, und am Oranienplatz, unweit der Mauer, sah man ein Autobahnkreuz vor. Vier Jahre nach dem Mauerbau plante der Westberliner Senat trotzig weiter für die gesamte Stadt.
Die Planungen für eine autogerechte Stadt nach dem Vorbild von Los Angelos kostete in anderen Westberliner Bezirken Tausende von Wohnungen. Allerdings bestand die Westberliner Stadterneuerung bis in die 1980er-Jahre hinein sowieso im Wesentlichen aus großflächigem Abriss und anschließendem Neubau.
In Westberlin galten die alten Wohnungen in den Mietskasernen der Gründerzeitviertel damals als menschenunwürdige Behausungen, die die Bezeichnung Wohnung nicht verdienten. Das war nicht völlig von der Hand zu weisen. Tatsächlich hatten unsanierte Altbauwohnungen häufig nur eine Toilette auf halber Treppe, selten ein Bad, bestenfalls eine improvisierte Dusche in der Küche, waren nur mit Kohle zu beheizen und oft feucht. In den Berliner Stadtbädern gab es deshalb noch bis nach der Jahrtausendwende gesonderte Abteilungen mit Wannen- und Duschbädern.
Stadterneuerung betrachtete man im sozialdemokratischen Westberlin als sozialstaatliche Aufgabe, in die ein großer Teil des Landeshaushalts investiert wurde und die man auch politisch zu dominieren gedachte. Einerseits gestand man allen eine anständige, helle Wohnung mit Bad und Zentralheizung zu, andererseits wollte man ausdrücklich auch die soziale Zusammensetzung der Sanierungsgebiete grundlegend ändern. Der offizielle Begriff dafür lautete "Flächensanierung".
Das erste Stadterneuerungsprogramm von 1963 legte bereits eine Reihe von Vierteln als Sanierungsgebiete fest. In Kreuzberg betraf dies das Sanierungsgebiet um das Kottbusser Tor. Zuerst nahm man die Gegend um die Prinzen- und Ritterstraße und den Wassertorplatz in Angriff.
Üblicherweise erhielt eine gemeinnützige, meistens eine städtische Wohnungsbaugesellschaft den Auftrag, ein Viertel komplett zu sanieren. Sie war dann im Prinzip für alles zuständig, was im Kontext der Sanierung zu erledigen war. Sie kaufte den vielen Privateigentümern die Grundstücke ab – oft zu überteuerten Preisen, zur Not konnten die Hausbesitzer aber auch enteignet werden –, sie untersuchte die Sozialstruktur und legte fest, welche Gebäude abzureißen waren.
Sie war sowohl zuständig für den Leerzug der Häuser, als auch für die Beratung der Mieter, denen sie meist riet, in eine der neu entstehenden Trabantenstädte am Stadtrand zu ziehen, was die meisten auch taten. Ab 1968 war die Gegend um die Prinzen- und Ritterstraße und den Wassertorplatz leergezogen und konnte abgerissen und neu bebaut werden. Von der alten Bebauung blieb nur wenig erhalten.
Obwohl der Senat für den Bau der Häuser viel Geld ausgab, waren die neu entstandenen Sozialwohnungen erheblich teurer als die Altbauwohnungen vorher. Es zogen nach der Sanierung deshalb nur sehr wenige der Alteingesessenen zurück in die Gegend. Die neuen Mieter waren zunächst hauptsächlich Facharbeiter und Angestellte. Durch eine etwas merkwürdige Kombination aus zu hohen Mieten und einkommensabhängiger Sozialbindung zogen in der Folgezeit hauptsächlich Menschen ein, deren Miete das Sozialamt bezahlte.
Die Sozialstruktur
Die Sozialstruktur ist hier deshalb heute wieder so ähnlich, wie vor der Sanierung. Das wollte man eigentlich verhindern. Deshalb treibt das Quartiersmanagement Wassertorplatz, das auch die Otto-Suhr-Siedlung betreut, hier seit über zehn Jahren sein Unwesen und versucht dem Armenviertel wenigstens einen besseren Anstrich zu geben.
Die einst modernen Neubauten sind inzwischen ein halbes Jahrhundert alt, und vielen sieht man das auch an. Die städtische GEWOBAG, der fast alle diese Wohnungen in der Gegend gehören, ließ einige längst modernisieren. Am 13-Geschosser in der Prinzenstraße 97 prangt nun, weit sichtbar, deren Logo. Die Wurzeln der ebenso alten Straßenbäume haben im Laufe der Zeit das Verbundpflaster der Radwege gesprengt.
Die sind inzwischen zwar notdürftig geflickt, der Weisheit letzter Schluss dürfte das aber nicht sein. Es drängt sich eher der Eindruck auf, dass die im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg für Verkehr und Stadtentwicklung zuständigen Grünen die Hochhausviertel etwas stiefmütterlich behandeln. Ihre Vorgängerpartei, die Alternative Liste, ist schließlich mit dem Kampf gegen sie groß geworden.
Das Ende der Kahlschlagsanierung wurde zwar wesentlich in Kreuzberg durchgesetzt, aber andernorts eingeläutet. Im Sanierungsgebiet Klausener Platz am Schloss Charlottenburg kämpfte seit Anfang der 1970er-Jahre eine Mieterinitiative gegen die Sanierung und forderte den Erhalt der Sozialstruktur, den Verzicht auf Mietsteigerungen von über 30 Prozent sowie eine Miete von höchstens drei Mark den Quadratmeter, Instandsetzung der Häuser und die Vergabe leerstehender Wohnungen an von der Sanierung Betroffene aus der Nachbarschaft – also etwa das Gegenteil der damaligen Praxis.
Ergebnis war zwar nur ein Modellprojekt im Rahmen des Europäischen Denkmaljahres 1975, in dem ein Häuserblock des Viertels samt Hinterhäusern und Seitenflügeln erhalten blieb und man die Höchstmietenforderung berücksichtige.
In Fachkreisen war dieses Modellvorhaben aber äußerst populär, und auch in Kreuzberg tauchten in der Folge ähnliche Forderungen auf. In der Bauverwaltung begann deshalb ein vorsichtiges Umdenken. Man veranstaltete einen Ideenwettbewerb mit viel Bürgerbeteiligung und der Einbindung unabhängiger Bürgerinitiativen für die Stadterneuerung im östlichen Kreuzberg und beschloss, 1984 eine "Internationale Bauausstellung" durchzuführen, die sich dem Umgang mit der vorhandenen Stadt widmen, neue Leitbilder für die Wohnungspolitik sowie neue Wege in den Beziehungen zu den von der Planung Betroffenen entwickeln sollte.
In allen Westberliner Sanierungsgebieten standen viele Häuser leer. Andernfalls lassen sie sich nicht abreißen. Das verknappte einerseits das Angebot an billigem Wohnraum, schuf andererseits aber auch ungeahnte Handlungsmöglichkeiten für die stadtpolitische Opposition. Die ersten Hausbesetzungen in diesem Zusammenhang organisierte eine bereits in den Ideenwettbewerb eingebundene Bürgerinitiative, die auch eine eigene Stadtteilzeitung namens Südost Express herausgab, 1979 in Kreuzberg.
Hausbesetzerbewegung
Schnell entwickelte sich eine große Hausbesetzerbewegung, die den ursprünglichen Anstiftern bald aus der Hand glitt, und nach der polizeilichen Verhinderung einer Besetzung am Fraenkelufer südlich des Wassertorplatzes im Dezember 1980 nahm sie bisweilen den Charakter eines allgemeinen Aufstandes gegen die westliche Gesellschaft insgesamt an. Auf dem Höhepunkt der Bewegung im Sommer 1981 waren in Westberlin 165 Häuser besetzt, der sozialdemokratisch geführte Senat stürzte, und die Halbstadt galt als unregierbar.
Die Hausbesetzer genossen in weiten Teilen der Bevölkerung große Sympathien, und bei den Abgeordnetenhauswahlen zog mit der Alternativen Liste eine Kraft ins Parlament ein, die sich als deren Sprachrohr in Szene setzte. Der gleichzeitig an die Macht gekommene CDU-geführte Senat machte sich jedoch sofort daran, dem aus dem Ruder gelaufenen Treiben ein Ende zu setzen, indem er einerseits bis 1984 insgesamt 60 der besetzten Häuser mit großem Aufwand räumen ließ und auch keine Neubesetzungen mehr duldete, während er andererseits 105 der Häuser legalisierte, in der Stadterneuerungspolitik neue Wege beschritt und den moderaten Flügel der Bewegung einband.
Die "behutsame Stadterneuerung", wie man das neue, auf den Ergebnissen des Ideenwettbewerbs fußende Konzept taufte, war für die Kreuzberger ein großer Erfolg. In den Sanierungsgebieten riss man die Häuser nicht mehr ab, die Mieter konnten im Viertel bleiben und sogar mitreden, welche Modernisierungen in ihren Wohnungen durchgeführt werden durften und welche nicht. Damit konnten sie auch über den Preis ihrer Wohnung nach der Sanierung mitentscheiden. Allerdings wurde dadurch auch die als gesamtgesellschaftliches Problem auf der Tagesordnung stehende Wohnungsfrage individualisiert und wieder zur Privatsache erklärt.
Um die neue Sanierungspraxis umzusetzen, entstand ein Geflecht verschiedener unabhängiger Institutionen, das die allmächtigen gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften ablöste. Federführend war nun die aus der Internationalen Bauausstellung hervorgegangene, privatisierte S.T.E.R.N. GmbH, die als generalzuständiger Sanierungsträger wirkte.
Die unabhängigen Mieterläden und Mieterinitiativen wie der Verein SO 36, die zuvor am Widerstand gegen die Kahlschlagsanierung wesentlich beteiligt waren, übernahmen die neuen eigentümerunabhängigen Mieterberatungen und wurden damit ein mächtiger Teil des Sanierungsapparates. Es bildete sich eine Betroffenenelite heraus, deren Wirken sich mehr und mehr verselbstständigte, und die später auch in den Ostberliner Sanierungsgebieten eine führende Rolle übernahm.
Jetzt: Bei den Neuvermietungen gehört man zu den teuersten Ecken
Wer heute von Kreuzberg redet, meint meistens die übrig gebliebenen Gründerzeitviertel. Das Gebiet, das sich östlich des Moritzplatzes bis zur Grenze nach Treptow erstreckt, gehört bei Neuvermietungen inzwischen zu den teuersten Ecken der Stadt.
Offenbar hat die behutsame Stadterneuerung Gentrifizierungsprozessen den Weg bereitet. Das bedeutet nicht, dass es keine Armen mehr gäbe. Die Menschen, die in den 1980er-Jahren ihre Mietverträge abgeschlossen haben, sind aber mindestens 60 Jahre alt, wenn sie denn noch leben.
Rund um die Uhr geöffnete Eckkneipen, wie sie einst typisch waren und denen die Gebrüder Blattschuss 1978 mit dem Lied "Kreuzberger Nächte" ein Denkmal setzten, gibt es nur noch wenige, direkt am Moritzplatz zum Beispiel Zum kleinen Moritz. Die Kneipenkultur hat sich geändert und ändert sich weiter. Die Nacht durchmachen lässt sich hier aber immer noch. Das Kreuzberger Nachtleben zieht heute Menschen aus der ganzen Welt an.
Vom Kleinen Moritz ein paar Meter weiter nördlich befand sich bis 1990 der Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Er war von der Fläche her einer der größeren, denn hierüber lief der Waren- und Postverkehr zwischenden beiden Stadthälften. Nach der Wende haben sich zuerst Autohändler auf der Fläche ausgebreitet, und Lidl hat eine Filiale mit Kundenparkplatz errichtet, die auch heute noch steht. Inzwischen ist der alte Grenzübergang und der Mauerstreifen mit Wohnhäusern bebaut. Sozialwohnungen sind das aber nicht.
In der Sebastianstraße, deren südliche Seite zur Otto-Suhr-Siedlung gehört, wohnt eher die Bionade-Bourgeoisie. An den Klingelschildern stehen fast nur deutsche Namen, manche mit akademischem Titel versehen, und in der Nummer 21 befindet sich eine Filiale des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung.
Die Ostberliner Seite
Auf Ostberliner Seite befindet sich das Heinrich-Heine-Viertel. Sein Bau begann drei Jahre später als der der Otto-Suhr-Siedlung, und es ist auch eine ähnliche Siedlung herausgekommen. Ost- und Westberlin haben sich gegenseitig beeinflusst.
Im Osten galt bis 1955 das Leitbild der "Architektur der nationalen Tradition", welches die Stalinallee in Friedrichshain hervorbrachte. Danach folgte eine Hinwendung zur Moderne und die Industrialisierung des Wohnungsbaus.
Der westliche Teil des Viertels ist eine der größten Genossenschaftssiedlungen Berlins. Etwa 3.000 Wohnungen, gehören der Wohnungsbaugenossenschaft Berolina. Genossenschaften werden in der öffentlichen Debatte meist den gemeinwohlorientierten Wohnungsunternehmen zugerechnet. Tatsächlich sind diese aber in erster Linie ihren Mitgliedern verpflichtet und konservieren meist die Sozialstruktur der Anfangszeit. In den Bauten der Berolina sind die meisten Bewohner denn auch Erstbezieher.
Die Wohnungsbaugenossenschaften waren ein wichtiger Teil der DDR-Wohnungspolitik, besonders Anfang der 1960er-Jahre. Damals bauten sie jede dritte Wohnung. Es gab zwei Arten von Genossenschaften: die noch aus der Weimarer Republik stammenden, die man 1957 als Gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaften (GWG) wiederbelebte, und die ab 1954 gegründeten Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften (AWG), die an einen Trägerbetrieb gebunden waren, in dem die Genossen auch arbeiteten. Im Fall der Berolina war das die Volkspolizei.
Wer hier eine Wohnung beziehen wollte, musste Genossenschaftsanteile kaufen und nach der Arbeit oder am Wochenende beim Bauen helfen. Dafür bekam man schneller eine Wohnung als auf dem üblichen Weg über die Kommunale Wohnungsverwaltung. Auf diese Weise mobilisierte die DDR bis Ende der 1960er-Jahre zusätzliche Arbeitskraft für den Aufbau des Sozialismus.
Die Häuser in der Heinrich-Heine-Straße und östlich davon entstanden danach. Die meisten der Häuser gehören heute der kommunalen WBM, die zwischen den Plattenbauten in den letzten Jahren nachverdichtete und sechs fünfgeschossige Häuser bauen ließ. Weitere sollen folgen. Folgt man der Melchiorstraße an der Kirchenruine der Michaelkirche vorbei Richtung Südosten sieht man sogar noch ein paar übrig gebliebene Altbauten und große Freiflächen, die demnächst zur Bebauung anstehen.
Am Ende der Straße befindet sich heute wieder eine Gartenanlage. Zur Zeit der Deutschen Teilung waren hier die Grenzanlagen mit Todesstreifen und Mauer. Ursprünglich begann man im Revolutionsjahr 1848 mit dem Bau des Luisenstädtischen Kanals im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Sie sollte dazu dienen, die vielen Arbeitslosen ruhigzustellen. Das gelang aber erst nach der Niederschlagung eines Aufstandes der Kanalarbeiter mit elf Toten und anschließender Verhängung des Ausnahmezustands.
1850 war der Kanal fertiggestellt und verlief von der Schillingbrücke im Viertelkreis zum Engelbecken und von dort schnurgerade zum Landwehrkanal am Urbanhafen. In einer weiteren Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ließ man ihn von 1926 bis 1929 wieder zuschütten. An seine Stelle traten die Gartenanlagen, die man inzwischen restauriert hat. Im Engelbecken gibt es sogar wieder einen kleinen Teich.