Hisbollah und Israel: Der große Verlierer eines Krieges wäre der Libanon
Tot nach Anschlag: Saleh al-Arouri. Bild: council.gov.ru, CC BY 4.0
Nach dem mutmaßlich israelischen Mordanschlag in Beirut stehen die Zeichen auf Sturm. Was wären die Folgen eines Konfliktes? Und wie würde er Migration anheizen?
Die Ermordung des Hamas-Führers Saleh al-Arouri in Beirut hat Nach Ansicht des israelischen Journalisten David Rosenberg die Gefahr eines Krieges zwischen Israel und der Hisbollah erhöht.
Ein solcher Krieg würde Israel teuer zu stehen kommen, nicht nur an Menschenleben, sondern auch an materiellen Schäden, schreibt Rosenberg in der Linksliberalen Tageszeitung Haaretz. Die Chance, dass sich die Wirtschaft bald vom Trauma des Gaza-Krieges erholt, würde gemindert.
In seinem Beitrag beleuchtet der Journalist die möglichen wirtschaftlichen Folgen eines Krieges mit Israel für den Libanon. Die Gefahr einer solchen Entwicklung ist groß. Einerseits dient das Land der schiitischen Miliz Hisbollah als Basis. Zugleich habe Israels Premierminister Benjamin Netanjahu gedroht, "Beirut und den Südlibanon (...) in Gaza und Khan Younis" zu verwandeln, sollte die Hisbollah die Kämpfe an der Grenze zu einem ausgewachsenen Krieg ausweiten.
"Ein Krieg zwischen Israel und der Hisbollah würde in der Tat einen hohen Blutzoll fordern", meint Rosenberg. Bei der letzten großen Konfrontation der beiden Parteien im Jahr 2006 seien 1.200 Libanesen ums Leben gekommen. Viele der Opfer seien Zivilisten gewesen.
Auch die Wirtschaft wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen: Direkte Schäden und Produktionsausfälle kosteten fünf Milliarden US-Dollar. Statt des prognostizierten Wachstums von fünf bis sechs Prozent im Jahr 2006 schrumpfte das libanesische Bruttoinlandsprodukt um fünf Prozent.
Der menschliche Preis eines Krieges wäre diesmal mit Sicherheit noch höher. Die Hisbollah verfügt über weitaus mehr Feuerkraft als 2006, und die israelische Antwort könnte um ein Vielfaches stärker ausfallen, um die Raketenangriffe der Hisbollah so schnell wie möglich zu beenden.
David Rosenberg. Haaretz
Der Libanon befindet sich seit 2019 in einer Wirtschaftskrise. Auslöser waren damals Spekulationen der Zentralbank, die sich verkalkuliert hatte.
Das libanesische Pfund hat seitdem 98 Prozent seines Wertes verloren, schildert der israelische Journalist. Rund 80 Prozent der Libanesen leben in Armut, und vor vier Jahren geriet das Land mit seinen Schulden in Verzug. Die Weltbank bezeichnete die Situation als "eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen eines Landes weltweit seit Mitte des 19. Jahrhunderts":
Von den drei Krisen hatte die Wirtschaftskrise bei weitem die größten (und anhaltendsten) negativen Auswirkungen. Der Lebanon Economic Monitor vom Frühjahr 2021 ergab, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise im Libanon zu den schlimmsten Wirtschaftskrisen weltweit seit Mitte des 19. Jahrhunderts gehört. Das nominale BIP ist von fast 52 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 auf schätzungsweise 23,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 gesunken. Die lang anhaltende wirtschaftliche Kontraktion hat zu einem deutlichen Rückgang des verfügbaren Einkommens geführt. Das Pro-Kopf-BIP sank zwischen 2019 und 2021 um 36,5 %, und die Weltbank stufte den Libanon im Juli 2022 von einem Land der oberen Mittelklasse in die untere Mittelklasse ein. Ein solch brutaler Rückgang wird normalerweise mit Konflikten oder Kriegen in Verbindung gebracht.
Weltbank zu Libanon
Dennoch habe sich die politische Führung nie die Mühe gemacht, einen Plan zur Rettung der Wirtschaft zu entwerfen. Sie habe sich der Hoffnung hingegeben, dass die Zeit, der Tourismus, die libanesische Diaspora und Erdgasgewinne es schon richten würden.
Traum von Gasreichtum enttäuscht
Der Traum vom Gasreichtum aber habe sich nicht erfüllt. Ein Lizenzgebiet mit der Bezeichnung Block 9 im Mittelmeer, für das die Hisbollah bereit gewesen sei, einen militärischen Konflikt mit Israel zu führen, um sich die Exklusivrechte des Libanon an der Ausbeutung zu sichern, wurde im Oktober aufgegeben.
"Aber die Zeit heilt alle Wunden. Volkswirtschaften können nicht ewig schrumpfen. Theoretisch erreichen sie irgendwann eine Art Tiefpunkt, von dem aus es nicht mehr weitergeht", so Rosenberg: Im Fall des Libanon sei dieser Punkt im Jahr 2022 erreicht gewesen, als das BIP nach drei Jahren starken Rückgangs nur noch um 0,6 Prozent schrumpfte: "Für dieses Jahr hatte die Weltbank erstmals seit 2017 wieder ein Wachstum prognostiziert, wenn auch nur um 0,2 Prozent."
Wirtschaft: Negativprognose für Libanon
Rosenberg beschreibt damit die Entwicklung kurz vor dem 7. Oktober vergangenen Jahres, dem Tag also, an dem die Hamas vom Gazastreifen aus Israel angriff und damit auch den Libanon in den Konflikt hineinzog.
Nach Einschätzung der Weltbank wird die Wirtschaft nun wohl um 0,6 bis 0,9 Prozent schrumpfen. Sollte es zu einem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah kommen, würde das Jahr 2024 noch schlechter ausfallen.
Was den Libanon bisher vor der Katastrophe bewahrt hat, ist neben der Zeit ein großzügiger Dollarzufluss aus dem einzigen florierenden Exportgut des Landes, den Menschen. Die wiederholten Kriege des Landes und die endemische Korruption haben eine massive Diaspora hervorgebracht, die vielleicht 14 Millionen Menschen umfasst, mehr als doppelt so viele wie die Bevölkerung im Land. Diese Diaspora hat den Libanon auf zweierlei Weise vor dem Abgrund bewahrt.
David Rosenberg
Der erste Weg seien Überweisungen von Auslandslibanesen. Die Weltbank schätzt, dass sich diese Überweisungen im Jahr 2023 auf 6,4 Milliarden US-Dollar belaufen werden, was erstaunlichen 23,4 Prozent des libanesischen BIP entspricht.
"Das ist die offizielle Zahl, die tatsächliche dürfte weit höher liegen, denn im Libanon fließt viel Geld über den Schwarzmarkt", so die Einschätzung des israelischen Journalisten.
Auslandslibanesen halten Land am Laufen
In einem Land, in dem die Währung fast nichts mehr wert sei, Bankguthaben unerreichbar seien und die Inflation dreistellige Zahlen erreiche, seien diese Dollar das, was die Familien wirtschaftlich am Leben hält. Tatsächlich ist der US-Dollar zu der Währung geworden, mit der normale Menschen und Unternehmen ihre Geschäfte abwickeln.
Krieg hin oder her, die Überweisungen werden wahrscheinlich weiterfließen, auch wenn ein Zusammenbruch der Bankeninfrastruktur oder weitere US-Sanktionen sie verlangsamen könnten. Aber der Tourismus, die zweite Quelle von US-Dollar und eine wichtige Quelle von Arbeitsplätzen, steht zur Disposition.
Seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres stornierten Besucher massenhaft ihre Buchungen und viele Fluggesellschaften haben ihre Flüge nach Beirut eingestellt.
Tourismus eingebrochen
Der Tourismus aber ist die libanesische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung, schreibt Rosenberg: Laut S&P Global stellt er rund 20 Prozent der Arbeitsplätze und fast 26 Prozent der Leistungsbilanzeinnahmen.
Die Ratingagentur Standard and Poor's schätzt, dass ein Rückgang der Besucherzahlen um zehn Prozent die libanesische Wirtschaft 3,3 Prozent des BIP kosten würde, ein Rückgang um 70 Prozent sogar 22,9 Prozent.
Im Jahr 2006 florierte die libanesische Wirtschaft, das Land verfügte über eine funktionierende Regierung und ein funktionierendes Bankensystem. Heute gebe es nichts mehr davon, so Rosenberg, der die Verantwortung der politischen Führung zuschiebt.
Die Golfstaaten haben ihre finanzielle Unterstützung längst eingestellt. Lediglich der Iran leistet Hilfe, die jedoch ausschließlich an die Hisbollah geht. Ein Kredit des Internationalen Währungsfonds in Höhe von drei Milliarden US-Dollar liegt seit fast zwei Jahren auf Eis, weil der Libanon die dafür notwendigen Wirtschaftsreformen nicht umgesetzt hat.
David Rosenberg
Ein neuer Krieg könnte nicht nur der Wirtschaft enormen Schaden zufügen. Es wären später weder die finanziellen Mittel noch die institutionellen Kapazitäten vorhanden, um das Land wieder aufzubauen.
Das Bedauerliche für den Libanon sei, dass nicht nur das libanesische Volk keinen Einfluss darauf hat, ob es Krieg gibt oder nicht, sondern auch seine Führung nicht.
Tatsächlich sei die libanesische Führung bestrebt, einen Krieg zu vermeiden. "Niemand hat ein Interesse daran, ein Risiko einzugehen und die Front im Südlibanon zu öffnen, denn das libanesische Volk kann nicht noch mehr Lasten tragen", zitiert Rosenberg Premierminister Najib Mikati.
"Doch die Männer mit den Waffen fragen nicht danach. Alles liegt in den Händen der Hisbollah und des Iran. Und wirtschaftliche Überlegungen scheinen auf ihrer Prioritätenliste nicht weit oben zu stehen", so die Analyse in Haaretz.