Horror-Lockdown in Shanghai: Ende mit Schrecken?
Die chinesische Metropole will im Juni lockern. Die Null-Covid-Strategie zeigt in mehrerlei Hinsicht die Schwächen des Systems
In der chinesischen 25-Millionen-Metropole Schanghai soll es nach den radikalen staatlichen Restriktionen bald wieder schrittweise in Richtung Normalität gehen. Das jedenfalls gab die stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt, Zong Ming, vor einigen Tagen bekannt. Offenbar ist daran gedacht, ab Juni die Praxis der wochenlangen Lockdowns allmählich zu lockern. China setzt im Gegensatz zu anderen Ländern auf eine strikte Null-Covid-Strategie.
Vom 1. Juni bis Mitte/Ende Juni werden wir die Epidemieprävention und -bekämpfung vollständig umsetzen, die Verwaltung normalisieren und die normale Produktion und das Leben in der Stadt vollständig wiederherstellen.
Stv. Bürgermeisterin Zong Ming, Shanghai
Zong Ming fügte aber sogleich als Einschränkung hinzu, man werde lockern "sofern die Risiken eines erneuten Anstiegs der Infektionen beherrscht werden". Hier könnte bei der Kundgabe noch beträchtliches Konfliktpotenzial lauern.
"Wir sind hier in China"
Die offizielle Ankündigung wird von den Einwohnern Shanghais mit gemischten Gefühlen aufgenommen, wie zahlreiche Bekundungen, unter anderem in den sozialen Medien, nahelegen. Und das kann wohl kaum verwundern. Die Radikalkur der vergangenen Wochen bedeutete für viele Einwohner den absoluten Horror, für die Wirtschaft einen herben Dämpfer.
Shanghai im Lockdown (5 Bilder)
Ein vor Wochenfrist in sozialen Medien eilig geteiltes Video zeigte einen turbulenten Streit zwischen Einsatzkräften in Schutzanzügen und einer Familie, die sich gegen die Quarantäne wehrt, nur weil es einen Covid-Fall im selben Stockwerk gab. Einer der beteiligten Beamten belehrt Presseberichten zufolge die Anwohner mit den Worten:
Sie können hier nicht einfach tun, was Sie wollen, sonst müssen Sie nach Amerika. Wir sind hier in China.
Einsatzkraft in Shanghai (das Video wurde inzwischen gelöscht)
Chaos und Wutausbrüche
Nachdem Ende Februar fünf Mitarbeiter eines lokalen Supermarkts positiv getestet worden waren, kam die Test- und Überwachungsmaschinerie ins Rollen. Direkte und indirekte Kontakte wurden getrackt, einige Wohnblöcke bereits gesperrt. Ende März ging die Ostseite der Stadt in den Lockdown, Anfang April folgte der Westen der Millionenmetropole.
Die in Berlin erscheinende Tageszeitung resümierte zwischenzeitlich so:
Der 1. April hat alles verändert. An diesem Tag sperren die Behörden die knapp 26 Millionen Einwohner Schanghais in ihre Wohnungen ein. Der radikale Lockdown löste eine humanitäre Katastrophe aus, wie sie noch vor wenigen Monaten als undenkbar galt: In der wohlhabendsten Stadt des Landes bricht die Nahrungsmittelversorgung über mehrere Wochen zusammen, sodass selbst Multimillionäre und Banker auf den sozialen Medien verzweifelte Hilfeschreie absetzen.
Wurde einer der Nachbarn positiv getestet, mussten alle Anwohner in Quarantäne: Regeln wie diese sorgten zunehmend für Empörung und Chaos. Lockerungen werden stillschweigend wieder zurückgenommen; immer öfter führt das zu Chaos und zu Wutausbrüchen verzweifelter Menschen.
Die Ausgangssperren führen dazu, dass Asthmakranke, Diabetiker und Krebspatienten sterben, weil ihnen der Einlass in die Krankenhäuser verwehrt wird. Hunderttausende Infizierte werden gegen ihren Willen in Massenlager abtransportiert, in denen hygienische Zustände ähnlich den Slums der Dritten Welt herrschen.
taz
Ein britischer Bewohner, der seinen Namen nicht nennen möchte, aus Xuhui, einem Stadtteil Shanghais, schrieb:
Wir werden alle in ein Quarantänezentrum gebracht und müssen unsere Schlüssel abgeben, damit sie reinkommen und Desinfektionsmittel versprühen können.
Triste Lage und der "leise Tod"
Derzeit stellt sich die Lage so dar: Die Straßen sind noch immer leer, mit dem Auto oder auch mit dem Scooter braucht man eine Sondergenehmigung. An Kontrollpunkten kommt man ohne amtliche Genehmigung nicht vorbei
Fälle außerhalb der streng abgeriegelten Quarantänezonen werden besonders genau beobachtet, um festzustellen, ob sich die Infektionswelle weiter ausbreitet.
Aus knappen behördlichen Mitteilungen erfahren Bewohner der Wohnblöcke, dass sie bis zu sieben Tage lang "stille Zeiten" einzuhalten hätten. Nicht einmal Waren für den persönlichen Bedarf können dann bestellt werden. Oftmals wurden die "stillen Zeiten" willkürlich verlängert. Viele durften ihre Wohnung nur für Coronatests verlassen und wollten das nicht mehr einsehen, da ihr Gebiet offiziell als wenig gefährdet eingestuft ist.
Keine kuaidi’s, die Kurierlieferdienste der umliegenden Restaurants und Supermärkte, die bisher ausliefern durften, können die compounds, die Wohnanlagen, betreten. Keine Essenslieferungen, außer dem, was die Behörden schicken. Stille herrscht in den Chatgruppen.
Finanzmarktwelt
Der Fassungslosigkeit und Wut der ersten Wochen des Lockdown in Schanghai ist unter diesen Umständen vielfach der Agonie gewichen. Mit erschreckenden Konsequenzen. "Der Selbstmord ist leise in China", schrieb die Finanzmarktwelt und berichtet über zunehmende Verzweiflungstaten. Meist bringen sich alte Menschen um, vorwiegend mit Gift, denn man will seiner Familie nicht zur Last fallen und kein Aufsehen erregen. Daher, so das Blatt, sei Rattengift derzeit schwer zu bekommen.
Videos zeigen Menschen, die von Hochhäusern in den Tod springen. Die Filme kursieren und verbreiten sich meistens in Windeseile, aber nur für kurze Zeit. Die staatliche Zensur kommt kaum nach.
"Null Covid" als Vorbild?
Chinas Führung beharrt auf ihrer lange Zeit – so hat es jedenfalls den Anschein – erfolgreich praktizierten "Null-Covid-Strategie". Im am härtesten von der Omikron-Welle betroffenen Shanghai, das Mitte Mai seit Wochen unter Lockdown steht, stößt die Strategie allerdings an ihre Grenzen.
Dennoch – die Behörden verhängen immer neue Kontrollmaßnahmen, mit denen sie den Bürgern das Leben weiter erschweren. Das Vertrauen schwindet.
"Null Covid" ist zum Symbol für die vermeintliche Überlegenheit des eigenen Systems gegenüber dem Westen geworden. Und nun droht es sich ins Gegenteil zu verkehren: Die epidemiologische Nulltoleranzstrategie legt schonungslos die Schwächen der Diktatur offen.
taz
Auf das Ende des wochenlangen strikten Lockdowns hat sich Schanghai mit einem Testsystem vorbereitet, das es den Einwohnern ermöglicht, sich schnell testen zu lassen, bevor sie an öffentliche Orte gehen. Angaben zufolge sind mehr als 5.700 Teststationen in Betrieb, angestrebt würden an die 10.000. Sie sollen in der Lage sein, Personen innerhalb von 15 Minuten zu testen.
In 15 der 16 Bezirke der Stadt seien außerhalb der Quarantänegebiete keine weiteren Coronafälle aufgetreten, sagte zuletzt die stellvertretende Bürgermeisterin Zong Ming. Supermärkte und Apotheken würden am Montag wieder öffnen, Schulen sollen schrittweise den Präsenzunterricht aufnehmen.
Bewegungseinschränkungen werden zunächst bestehen bleiben, um Risiken eines erneuten Ausbruchs zu verhindern. Die Kundgabe lässt noch viele Fragen offen. Und wie immer, sie scheint wenig verlässlich. Ein Bekannter schrieb soeben aus Shanghai:
Wir hatten gestern Jubiläum, der 75zigste Covid-Test in 68 Tagen – sorry, aber das ist Wahnsinn!