Huldigung an den einzelnen Autor im Zeitalter des Krisenherdjournalismus

Der erstmals verliehene "Ulysses Award for the Art of Reportage" scheint den Autorenkult zu feiern

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Die Gewinner des von der Kulturzeitschrift Lettre International initiierten Ulysses Award for the Art of Reportage wurden am letzten Samstag im Rahmen eines Festaktes und in Anwesenheit zahlreicher Gäste aus Literatur, Kultur und Politik im Berliner Tipi-Zelt bekannt gegeben. Anna Politkovskaja, die Gewinnerin des Hauptpreises von 50.000 Euro, wurde für ihre kontinuierliche Aufarbeitung des vergessenen Tschetschenien-Kriegs ausgezeichnet. Die Ausrichtung der Preisverleihung mutet allerdings wie ein Versuch an, den Mythos des individuellen Helden und Autors zu restaurieren.

Die sieben nominierten Reportagen greifen, so der Veranstalter, brisante Themen aus unterschiedlichen Kulturkreisen der Welt auf: USA, Afrika, China, Indien, Europa und Russland. Die Texte behandeln so unterschiedliche Themen wie die Situation der chinesischen Dissidenten (Ian Buruma), die somalische Diaspora (Nuruddin Farah), das Leben von Wilderern und Parteifunktionären in China (Jiang Hao), die soziale Realität der New Yorker Bronx (Adrian Nicole LeBlanc), das Krisenmanagement der Vereinten Nationen (Linda Polman) sowie die Entwicklung des indischen Subkontinents (Marc Tully und Gillian Wright). Kurz, Reportage-Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist vor allem Krisenherdjournalismus.

Heute ist dieses Genre längst kein solitäres Unterfangen mehr, das bestätigt auch die Abnehmerseite: Bilder und Berichte aus Krisenregionen überschwemmen den Planeten, genauso wie die Journalisten, die sich auf die Jagd nach ihnen gemacht haben. Man mag sie als Bewegung oder Gemeinschaft wahrnehmen, es ist in jedem Fall wachsende Gruppe von Menschen, die auf eine Infrastruktur zurückgreifen kann: Zugang zum Krisengebiet, Anlaufstellen im Krisengebiet und Vertriebswege ihrer Produkte im Krisengebiet. Mit anderen Worten: Krisenherdjournalismus ist eine inoffizielle Form des Tourismus.

Der Einsatz im Krisengebiet ist das letzte Reiseabenteuer

Zurückzuverfolgen ist diese Entwicklung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bereits damals reisten Reporter an die Front mit dem Selbstverständnis des Touristen. So konstatieren Holert und Terkessidis in Entsichert, dass vor allem "bei der jüngeren Generation von Vietnamreportern - ob es sich nun um Korrespondenten oder Fotografen handelte - der Übergang von Tourismus und Krieg fließend war" (Krieg als Massenkultur).

Die Laufbahn des mittlerweile legendären Berichterstatters Peter Arnett begann zum Beispiel mit einer ausgedehnten Asienreise. Sie führte ihn quer durch die südlichen Zipfel des Kontinents bis nach Saigon. Später, als er für CNN nach Bagdad reiste, überkam ihn ein Hochgefühl, denn schon seit seiner Jugend hatte die arabische Halbinsel eine "geheimnisvolle Anziehungskraft" auf ihn ausgeübt. So gehen Sehnsüchte aus der Jugendzeit in Erfüllung, Souvenirs werden gekauft, Erinnerungsfotos gemacht. Diese wiederum landen in Fotoalben, die der Familie, Freunden und Verwandten gezeigt werden.

Auch heute noch erscheint der "Einsatz" im Krisengebiet das letzte Reiseabenteuer dieser Erde. Selbst eine Aktion, die der Daily Telegraph unter dem Motto "Travels in the Heart of Africa" initiierte, bestätigt diesen Eindruck. Umjubelte Jungschriftsteller aus England, darunter The Beach-Autor Alex Garland, wurden in einem Krisengebiet abgesetzt, das als lebensgefährlich, unerschlossen und unerforscht gilt. Der Klappentext des resultierenden Buches The Weekenders (2001), liest sich streckenweise wie Werbung für einen Themenpark, dessen Hauptattraktion ein Selbstexperiment im Kriegsgebiet darstellt: "What would happen if you took Irvine Welsh from the streets of Edinburgh and flew him into one of the world's most hazardous war zones? And how would Tony Hawks react if you dragged him away from the tennis courts and asked him to write a song with a Sudanese tribesman?"

Doch reflektiert der Ulysses Award for the Art of Reportage diesen Zusammenhang? Wird der touristische Blick zum Kriterium bei der Auswahl von Autoren und Texten? Im Augenblick sieht es nicht danach aus. Allein die Tatsache, dass seit 1975, dem offiziellen Schlusspunkt der Kolonialära, die Schauplätze zugenommen haben und im Zuge dessen die Brennpunkte zu häufig ihren Intensitätsgrad und Marktwert wechseln, scheint (zufällig?) berücksichtigt worden zu sein und damit die Konsequenz, dass Reporter immer mehr den Lifestyle des Globetrotters annehmen. Die niederländische Autorin Linda Polman, die ebenfalls für den Preis nominiert war, begleitete bekanntermaßen drei Jahre lang UN-Truppen auf ihren Friedensmissionen in Somalia, Haiti und Ruanda.

Kollektiver Journalismus

Diese Entwicklungen im Krisenherdjournalismus geben auch in Bezug auf den folgenden Aspekt zu denken: Der Krisenherdjournalist tritt nicht mehr ausschließlich als Einzelperson auf, sondern als Gruppe, in den Reihen einer Bewegung oder Community. Daher muss der Titel dieses Awards schon etwas befremden. Er ist nach Ulysses, der anglisierten Form von Ulixes, also dem lateinischen Namen von Odysseus, benannt. Diese Namensgebung fördert Personenkult und den Mythos des individuellen Helden. Der polnische Reportageautor Ryszard Kapuscinski, der der Gastredner der Preis-Gala war, unterstrich in seiner Key Note Speech diesen Gedanken. Er identifizierte Herodot (um 484-425 v.Chr.) als den frühen Vordenker der Reportageliteratur, also jenen griechischen Intellektuellen, der weite Reisen nach Asien, Afrika und Europa unternahm und von Cicero später als "Vater der Geschichtsschreibung" bezeichnet wurde. Herodot, der nicht zuletzt nach den Ursachen der Perserkriege fragte und nach Erklärungen für das komplexe Geschehen suchte, wird damit zur Leitfigur eines Genres erhoben, dass offenbar einer Restauration des Autorenkults aufsitzt.

Ja, es mutet etwas anachronistisch an, dass die Person (das Subjekt) im Vordergrund steht, nicht die Literatur, die heutzutage von vielen Amateuren auch in Kontexten wie Mailinglisten und Blogs entsteht. Ob jedoch im Zusammenhang mit dem vom Goethe Institut/Inter Nationes und Aventis Foundation unterstützten Ulysses Award for the Art of Reportage das Stichwort kollektive Autorenschaft jemals fallen wird, ist überaus fraglich - ungeachtet der Tatsache wieviel interessante kollektive Projekte es in diesem Bereich gibt. Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang bleibt The Worlds Most Dangerous Places, das häufig nicht zuletzt wegen seiner ironischen Schreibe gerühmt wurde (Der Houdini des 21. Jahrhunderts).

1995 erschien die erste Ausgabe, mittlerweile ist der Reiseführer in der fünften Edition erhältlich. Überarbeitungen, die vor allem auch deshalb möglich wurden, weil Robert Young Pelton, der Herausgeber/Verleger, durch seine Leserschaft ständig mit neuen Informationen aus den 25 gefährlichsten Regionen dieser Welt versorgte wurde. Blickwinkel, so unterschiedlich wie das Spektrum der Leserschaft breit ist, fließen in The Worlds Most Dangerous Places ein: Das Spektrum reicht von Green Berets, die darauf zurückgreifen, weil nur dort Hintergrundinformationen über ein Land wie Afghanistan zu finden sind (ein US Military Deployment Officer sagte darüber mal sogar, es sei "the single best source for unclassified intelligence information [...] like Soldier of Fortune magazine meets National Geographic") bis hin zu Frauen über 50. Laut Pelton stellen diese einen enorm großen Teil seiner Leser dar: "That's because women over 50 are smart enough to go and buy a book on being safe before they head off to some remote region! But they also care about things, they want to know more about what's going on."