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Hurra, wir gehen unter!

Die vier Reiter der Apokalypse, von Wiktor Wasnezow gemalt im Jahr 1887. (Bildquelle)

Alles so schön kaputt hier: Das Autorenduo Metz und Seeßlen probt einen Ausbruch aus dem Gespensterhaus des Kapitalismus. Für die Mittelschicht haben sie eine schlechte Nachricht

Stets kommt ein Morgen mit zerstörter Zukunft

Michel Houellebecq in "Gestalt des letzten Ufers" (2014) [1]

Nicht, dass der Mensch Sklave der technischen Maschine sei; er ist Sklave der Gesellschaftsmaschine (…), erster Diener der gierigen Maschine, Reproduktionsvieh des Kapitals, Verinnerlichung der unendlichen Schuld.

Gilles Deleuze: Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I (1977)

Der heutige Mensch; ein reduzierter also, in einer kalten Umwelt kaltgestellter.

Walter Benjamin in einem Vortrag in Paris, 27. April 1934

Das eingespielte und in zahlreichen Publikationen (einzeln wie gemeinsam) in der Öffentlichkeit vertretene Autoren-Duo Markus Metz (Jg. 1958) und Georg Seeßlen (Jg. 1948) legt den dritten und abschließenden Teil einer Trilogie über die Lebenswelt des Neoliberalismus vor. Der letzte (hier speziell herangezogene) Band "Apokalypse & Karneval [2]", gerade erschienen, behandelt sein Thema ausdrücklich im Schatten der Pandemie. Vorangegangen waren die Titel "Kapitalistischer (Sur)realismus [3]" (2018) und "Beute und Gespenst [4]" (Mai 2021).

Die Autoren diskutieren, was Kritik ist, und es gefällt schon mal der Satz, dass Kritik nur fundamentale Kritik sein kann ("Unserer bescheidenen Auffassung nach ist nur eine radikale Kritik auf der Höhe ihrer Zeit"). Mal sehen, ob der Anspruch eingelöst werden kann.

"Kritik" hat es gleich mit zwei Gegnern zu tun, denen sie nämlich ins Gehege kommt: Da ist zum einen der (übermächtige) Markt der Meinungen und zweitens die (nicht minder omnipräsente) Allgegenwart der Experten und Expertisen.

In diesem Spannungsfeld zwischen Referenzgehabe und Echoräumen tastet sich die Kritik voran, im besten Fall mit der Einmündung in einen echten Dialog, dabei sich immer bewusst, Störenfried zu sein "in einem System, das gern als geschlossenes angesehen werden will", das also alternativlos und übermächtig erscheint.

Man folgt dem Autoren-Duo gerne bei seinem darauffolgenden Spaziergang durch den spätzeitlichen Zombie-Kapitalismus mit seinen gebeutelten Landschaften, ausgehöhlten Sinnprovinzen und fragwürdigen Glücksversprechen.

"Bewusstloses Lachen, wollüstiges Grauen"

Und mit seinen Sackgassen und "Karnevalszonen" (Buchtitel). Das gemeinsame Signum lautet vorweggenommen – und erwartungsgemäß wenig optimistisch –: Der humanistische Kern geht verloren; die politisch-gesellschaftlich organisierte Sinnfülle (Sinnleere?) steht zur Disposition.

Anlass für eine katastrophale Revolte?

Als Basis dreier Denksysteme sind genannt: politische Ökonomie, kulturelle Semiotik, soziale Psychoanalyse. Niemand anders als Donald Trump, der zuletzt wieder mit clownesken Auftritten von sich reden machte, steht hier stellvertretend als Galionsfigur eines apokalyptisch-karnevalistischen Surrealismus [5], in dem (so der Klappentext) "bewusstloses Lachen und wollüstiges Grauen aufeinandertreffen".

In ihm (dem Horrorclown) lacht die Ordnung von Macht und Geld über ihre Opfer. Das ist das Wesen des Gruselclowns: Er revoltiert nicht gegen diese Ordnung, im Gegenteil, er macht sie deutlich.

Apokalypse & Karneval, Gespenster des Niedergangs, 118

Wenn das Lachen mal nicht sogleich im Halse stecken bleibt: Längst umfasst die Karnevalisierung der spätkapitalistischen Kultur nach Meinung der Autoren explizit den Bereich der Politik. Sitten und Benehmen werden wohl freier, der Geist immer unfreier.

Im großen Ganzen (mit seiner politisch-ökonomischen Niedertracht) wie im Klein-Klein des Alltags (mit seinen crossmedialen Verblödungen, seinem antisozialen Populismus und dem fatalen Hang zur Faschisierung, so das Buch) begegnet der Zeitgenosse der postmodernen Enthemmung.

Die gebärdet sich wie selbstverständlich in den degenerierten Kommunikationsformen von Hatespeech, Verwitzung, Vermonsterung, Verpornografisierung. Wer hiervon die Nase voll hat, flüchtet sich ins Refugium ewiger Kindheit oder, kulturell verbrämt, in die Zonen ewig währender Nostalgie. Letztere eine psychologisch hochinteressante Zone, verspricht sie doch Rückkehr in eine Welt, die es nie gab, und Trost, der sich an die Riten des Immergleichen klammert.

Ignoring the bad things

Das nostalgische Verlangen ist offenbar riesengroß in Zeiten wie diesen - und Corona hat es noch verstärkt: "Retromanie war das Erfolgsmodell in der Pandemie", so das Diktum im Buch zu diesem trostlosen Kapitel Lebensbewältigung.

Der heimische Medienkonsum belegt die verführerische Richtung "rückwärts". Clay Routledge, ein US-Sozialpsychologe und Scholar am Challey Institute for Global Innovation and Growth [6] (Fargo, North Dakota), wird billigerweise angeführt als Stichwortgeber, wenn er hier (und vor allem in der Krise) von einer wichtigen "psychischen Ressource" spricht. In der Krise zieht es uns zurück ins Heimelige, Vertraute, ins scheinbar Stabile. Die bürgerliche Welt als Festkörper, Nostalgie als Rettungsanker.

Was damit gemeint ist, in bewegten Bildern herrlich übersichtlich in einem Video von Ted-Ed [7]: Etwas anspruchsvoller und als Lesestoff hier [8].

Besonders augenfällig beim letzten Weihnachtsfestgetöse. Eine Freundin aus dem Ort (Mittelzentrum im Bergischen) beklagte die Inflation der Lichterketten: "So schlimm wie noch nie zuvor". In der Rheinmetropole Köln waren ähnliche Auswüchse zu beobachten, die Finsternis durch massenhaft installierten kitschigen LED-Zauber zu vertreiben.

Während Abfallberge wachsen und toxischer Müll nach Afrika exportiert wird, inszeniert das sterbende Bürgertum eine Restwelt "aus Sternchen und Blümchen, Glitzerstaub und süßen Gesichtern" (58) und unterstreicht damit nur eins: nostalgische Regression.

Also – zurück in die Zukunft?

Was bei Metz und Seeßlen ansteht, gleicht eher einem Abstieg in die "Hölle der Normalitäten".

Im Spukhaus des Kapitalismus

Die "Hölle der Normalität" macht den Inhalt des ersten Teils des vorliegenden Bandes aus, der aus zwei Teilen besteht. In beiden Teilen knüpfen die Autoren an religiöse Codizes der Vergangenheit an (Denkfiguren der Hölle und der Apokalypse), um den Ausnahmezustand zu markieren und in seiner Zuspitzung kenntlich zu machen.

Referenzen gelten aber auch dem Clown, dem Gespenst, dem Zombie als vollständig enteigneten Post-Menschen und den Bildwelten der ursprünglich asiatischen "kawaii" ("Kleine Götter", Kindheit als semiotischer Raum).

Wie sieht die moderne Hölle denn aus?

In der Hölle von heute tritt der gequälte Zeitgenosse, kurz gesagt, als "Beute und Gespenst" in Erscheinung (so schon im vorgängigen Buchtitel von 2021). Als solcher west er im Spukhaus des Kapitalismus, will heißen in einer Kultur von Wettbewerb und Niedertracht, die als letzte aller Kulturen übriggeblieben ist – und die allenfalls noch verwaschene Restspuren einer, wie es heißt, verlorenen Zukunft zeigt [9].

Und klar sehnt sich der Post-Mensch nach Gesellschaft und Gemeinschaft, nur: In der Simulationswelt zwischen Konsum- und Arbeitsalltag sind auch die Beziehungen warenförmig geworden. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Das Buch nennt den Aufenthaltsort der solcherart Verdammten, wie oben bereits angedeutet, den "Zombie-Kapitalismus". Eben der ist es, und zwar in seiner im Band lustvoll enttarnten, im Surrealen angekommenen Spätform, der bewirkt, dass wir tot und lebendig zugleich sind – Zombies halt; er saugt das Individuum aus und transformiert es in eine weitere Form des Untoten (96).

Das Diktat der Ware, die als Fetisch den Alltag und die Gesellschaft ebenso wie die Innenräume des menschlichen Denkens okkupiert, hält als innerster Glutkern des Systems das Höllenfeuer zwischen Ramsch und Überfluss am Brennen, während die Halbtoten, gefangen im Antagonismus vollständiger Abstumpfung und perverser Hyper-Erregtheit, niemals so richtig sterben können (Hölle eben).

Der Mensch als Rohstoff und "Selbstvermesser"

So zappelt das "entwertete", nur noch halb lebendige Subjekt in den Kreisläufen von Sport, Unterhaltung, gespenstischer Arbeit und imaginärer Glücksverheißung. Arbeit? Weder gibt es eine verbindliche Idee noch ein verbindliches Bild von Arbeit. In einer Welt knapp werdender Rohstoffe "muss der Mensch selber zum Rohstoff werden" (154).

Der Pflicht zur Selbstoptimierung korrespondiert der Hang zur Selbstmaschinisierung der "Quantified Selfs". Smartphone, Pulszähler, Fitnessarmband stehen für beides, für Lust und Versklavung (oder Lust an der Versklavung?). Alltägliches Zubehör der symbolischen Ordnung.

Das Scheitern des Einzelnen ist derweil in die Kultur des Neoliberalismus integriert: Wer keine Arbeit hat, wer also nichts aus sich gemacht hat, dient als negative Projektionsfläche und Teil einer entsolidarisierten Manipulationsmasse, deren perpetuiertes Dauerdasein in Wahrheit längst nur beweist, dass "Entarbeitung" zu den Strukturmerkmalen des Systems (und zu seiner Grammatik der Macht) gehört.

Das schließt aber eine "Stabilisierung" der prekären Identität, gleichsam das Gegenbild zum "Erfolgsmodell" bzw. seiner Inszenierung als solcher nicht aus, sondern schließt sie gerade ein – mitsamt den bekannten Formen allfälliger Demütigungen und sozialer Exklusion [10].

Die Medien üben sich derweil in der Aufführung von Diskurssimulationen.

Denn zur gleichen Zeit offenbaren sich Presse und Öffentlichkeit als 'gnadenlose' Wächter über die Einhaltung der äußeren Normen.

Apokalypse & Karneval, 77

Vernagelung der Zukunft

Metz und Seeßlen bemühen im Kapitel "Next Level" (Teil II des Buches, 99ff.) die vier apokalyptischen Reiter der Offenbarung, verorten deren Ritt jedoch ans "Ende des neoliberalen und ökokatastrophalen Zeitalters" (100).

Beziehungsweise, bildlich gesprochen, vor den "Flaschenhals", der dem System unausweichlich bevorstehe.

Eine auffällige Denkbewegung, die den Rückbezug auf religiöse Muster nicht scheut, im Gegenteil sie zur semiotischen Aufladung der Aussage benutzt. Das biblische Armageddon ist derweil im vorherrschenden Bewusstsein ja durch eine säkulare Apokalyptik mit ausrechenbaren Katastrophen ersetzt (resp. ideengeschichtlich abgelöst) worden, worauf Kulturwissenschaftler zur Genüge hinweisen: Die neuen Mahner sind keine gottgesandten, vom Pneuma beflügelten Propheten, es sind allesamt nüchterne Pragmatiker: Geographen, Physiker, Ökologen, Klimaforscher, Meeresbiologen, Futurologen, Rechenexperten [11]

Der "Flaschenhals" (das Nadelöhr), das über Wohl und Wehe entscheidet, ist selbstverschuldet, anders gesagt: hausgemacht. Das Hotel Erde legt die Rechnung vor.

So ist das Scheitern des Projekts der Zivilisation in eine wissenschaftlich greifbare Nähe gerückt. Kein Ort auf der Welt ist mehr davon ausgenommen, kein Winkel sicher. Das Ende der Zivilisation, so liest es sich im Buch "Apokalypse und Karneval", droht "allein nach den Gesetzen ihres eigenen Wachstums".

Womit die Autoren wohl recht haben dürften. Reicht der Hals, die Kragenweite, noch für ein Durchkommen, oder strangulieren wir uns selbst?

Der Klimawandel als apokalyptischer Weltenbrand

Die voranstürmenden, Angst und Schrecken verbreitenden Reiter aus dem Bilderkanon des Johannes dienen letztlich auch der kapitalismuskritischen Abrechnung 2022 noch als Referenz; Metz und Seeßlen verpassen dem eschatologischen Vierergespann aus Offenbarung Kap. 6 jedoch, dem Zeitgeist entsprechend, säkulare Namen. Der Reihe nach lauten die im 21. Jahrhundert ihrer Ansicht nach so: (1) Klimawandel, (2) Naturzerstörung, (3) Terror/Bürgerkrieg, (4) Entwirklichung.

Im Praxis-Vakuum der politischen Handlungsträger gedeiht die neue Rede vom eschatologischen Zeitenbruch im derart transformierten Gewand. "Die erschütterndsten Predigten", schrieb der Geschichtsphilosoph Gregor Taxacher 2010, "halten (heutzutage) Wissenschaftler, die (…) uns zu einer radikalen Umkehr aufrufen, bevor die Katastrophen unausweichlich geworden sind."

Am Grunde der drohenden Unheilsverheißung liegt nicht mehr störrische Sündhaftigkeit, sondern systemische Verkehrtheit - freilich vom Menschen selbst verursacht und auf die Spitze getrieben.

Inzwischen irreversibel?

Diese Frage, möchte man meinen, bleibt seltsam in der Schwebe bei "Apokalypse & Karneval". Im Subtext zieht sich die fatale Statik der Binnenstruktur des herrschenden Systems wie ein roter Faden durch das Buch – eines Systems, dem die große Erzählung abhandengekommen ist, zusammen mit der utopischen Kraft, die am Urgrund einst eine messianische war.

Die Erosion der Mittelschicht

Was unausweichlich feststeht, ist offenbar das Schicksal der Kleinbürgerklasse, im Buch mit Mittelschicht in eins gesetzt.

Sie (diese Klasse) ist es, die sich verausgabt in dem Bemühen, sich zugleich zu Tode zu arbeiten und zu Tode zu amüsieren.

Apokalypse & Karneval, Vom Untergang der Kleinbürgerklasse, 123 ff.

Zwischen nostalgischer Sehnsucht nach dem einstigen Wohlfühlkapitalismus und neuen faschistoiden Tendenzen dämmert sie dahin, die spätkapitalistische "Mittelschicht" – oder das, was davon übriggeblieben ist.

Dabei, so die Autoren von "Apokalypse & Karneval", ist nicht einmal klar, ob sie wirklich zugrunde gegangen ist; der Ruin liegt nicht so sehr im wirtschaftlichen Zusammenbruch (derzeit noch nicht?) als vielmehr im Verlust des Narrativs einer steten, vernünftigen Verlässlichkeit.

Deren "Welterzählung" gab den Garanten für bescheidenen Wohlstand in Form von Sicherheit, Stabilität und Wachstum [12].

Die Option für jedermann, Teil einer solchen "Mittelschichtskultur" zu werden, bricht den Autoren zufolge in sich zusammen, und zwar mitsamt der "moralischen Gleichung von Fleiß und Wohlverhalten" – Tugenden, die eben nicht mehr zum Erfolg führen und das Versprechen nicht mehr einlösen können.

Der Pakt zwischen Kleinbürgertum, Kapital und Demokratie wird schleichend aufgelöst; zurück bleiben böse Kränkungen, die den Keim von Rassismus und Nationalismus in sich tragen [13].

Das "heilige Zentrum der westlichen Nachkriegsgesellschaften" (eine schöne Titulierung) ist somit an seinem "Kipppunkt" angelangt (123).

Es verschwindet also doch, das gehobene Kleinbürgertum, und zwar in seiner Bedeutung "als kulturelle Einheit und als identitätsstiftende und für Integration sorgende Zone" (ebd). Ganz offensichtlich, so lautet das Fazit von Metz/Seeßlen, "war diese Mittelschicht nicht geeignet, einer demokratischen Zivilgesellschaft Heimat und Milieu zu geben".

Wenn der Kleinbürger, für den es nicht mehr weitergeht, in den Fernseher sieht, dann sieht er im Zerrspiegel seinen eigenen weiteren Niedergang.

Apokalypse & Karneval, a.a.O., 132

Wie progressiv ist das work in progress?

War's das? Können "Zukunft" und "Person" neu gedacht werden? Was bleibt zwischen Traumschiff und Nagelstudio [14]?

Im Spiegel-Interview zog Autor Seeßlen (das war 2016) ein pessimistisches Fazit:

Wir haben es offensichtlich nicht geschafft, eine Gesellschaft zu werden, die sich in einem gemeinsamen Ziel wiederfindet.

Georg Seeßlen im Spiegel-Interview (2016) [15]

Heute, sechs Jahre später, legen Metz/Seeßlen eher einen freihändigen Querschnitt durch den Weltenkäse vor (den sie mit Recht bemängeln – wie "radikal" letztendlich wirklich, sei einmal dahingestellt), als dass sie sich an einer vertieften, sachlich und methodisch kohärenten Analyse versuchten. Ist es dem Projekt vorzuwerfen?

Verschiedentlich publizierten Aussagen zufolge handelt es sich bei der Trilogie um "work in progress". Man ist auch ob der Detailfülle beim Lesen gut beschäftigt (und unterhalten), so dass die Schwächen, die das Unterfangen mit sich bringt, nicht gleich ins Auge springen.

"Gute Einsichten, manche Plattitüden"

"Analytische Schärfe steht neben blanker Behauptung", meinte die Frankfurter Rundschau anlässlich der Besprechung eines früheren Titels [16] von Seeßlen ("Is This the End?") Trifft das auch auf unseren Fall zu?

Ja, muss man sagen. Neben dem Eindruck von Dringlichkeit stellt sich auf lange Strecke ein "indifferentes Grundrauschen" ein, beschrieb der Spiegel mal den Stil von Autor Seeßlen [17]. Fraglos ein Charakteristikum, das sich durchhält.

Im Endeffekt noch etwas deutlicher geht der Kritiker Jörg Auberg die Sache an. Er hat sich für einen Blogbeitrag auf satt.org ("Über das intellektuelle Autorenduo Markus Metz und Georg Seeßlen [18]") einige der Titel aus dem Work-in-progress-Programm beider Autoren genauer angesehen und bemängelt einen "mäandernden Charakter" neben dem "zuweilen alarmistischen Tonfall".

Neben "vielen guten Einsichten" erkennt Auberg im Projekt "auch manche Plattitüden". Zudem, so sein Votum, fehlt es an argumentativer Stringenz, was bedeutet, Gedanken auf den Punkt zu bringen: Metz/Seeßlen kreisen Aubergs Beobachtung zufolge in verschiedenen Variationen um den gleichen Kern, "ohne neue Zellen der Erkenntnis aufschließen zu können."

Die genannten Hinweise sind zutreffend, "Apokalypse & Karneval" ist hier einzubeziehen. Und trotzdem ist es ein lesenswertes, immer wieder mit Überraschungen aufwartendes Buch.

Götterdämmerung mit Helene Fischer

Ohne Frage, die Simulationswelt des Homo neoliberalis ist treffend und unterhaltsam zugleich beschrieben bei Metz und Seeßlen. Man erfährt etwa, dass "die Thea Dorns und Martin Walsers" dieses Systems keine Vorbilder sein können, indem sie einen rückständigen "barbarischen (Kultur-)Kommunitarismus" verkörpern.

Sowas kann und soll Kultur nicht sein! Man erfährt nebenbei etwas über Kochshows, Mobbing und Schnösel-Look und trifft sogar Gert Fröbe (Goldfinger) wieder [19].

Der im Fortgang der Lektüre kapitelweise desillusionierte Leser ergötzt sich dann wohl mit heimlicher Freude an der Verve, mit der ein gefeierter Medienstar wie Helene Fischer als Paradebeispiel "kleinbürgerlicher Anti-Authentizität" vom Pop-Himmel geholt wird; ihre Auftritte, erfahren wir, sind kollektive Feiern, bei denen "die Mittelschicht erzeugt wird" (136).

Auch eine Art von Götterdämmerung.

Das mit Helene bleibt freilich, wie manch andere Momentaufnahme aus dem Varieté des postmodernen Irrsinns auch, wieder als pure Aussage schlicht so stehen. Last but not least (und vielleicht erst auf den zweiten Blick) erinnert "Apokalypse & Karneval" an den Paradigmenwechsel vom religiösen zum (natur-)wissenschaftlichen Konzept unserer modernen Wirklichkeitsauffassung – wenngleich nicht explizit, sondern im freien Gebrauch der Bilder.

Seeßlen gibt zuletzt (mit Antonio Gramsci) die Parole aus: "Werden statt Wachsen"! Unsren persönlichen Einsatz um ein "richtiges Leben" (sic!) definiert der Abspann des Buches auch als "einen Entgiftungsvorgang".

Das bleibt zumindest vage. Zusammen mit der offen gebliebenen Frage: Bewirkt der "Next Level" denn nun eine Umkehr (wo wäre die zumindest in Ansätzen auffindbar), oder bezeichnet das erreichte Tableau nur ein weiteres von noch mehr Stockwerken, die im Spukhaus auf uns Untote warten?

Und bitte die Frage - genügt das Lob der Vernunft, wenn im Ganzen Unvernunft triumphiert [20]?

Erwähnen sollte man noch den grundsätzlichen Mangel an einer ideengeschichtlichen Verankerung des Projekts, welche im Bestfall auch die Modifikationen (und Zurichtungen?) der Philosophiegeschichte berücksichtigen würde. So bleibt es bei einer Reißbrettskizze politischer und gesellschaftlicher Praxis: Die kapitalistische Lebenswelt als absurdes Puzzle, dem wir konsterniert gegenüberstehen [21].


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[1] https://lustauflesen.de/houellebecq-gestalt-des-letzten-ufers/
[2] https://www.bertz-fischer.de/IMG/pdf/apokalypse_und_karneval_inhaltsverzeichnis.pdf
[3] https://www.bertz-fischer.de/IMG/pdf/kapitalistischersurrealismus_inhalt.pdf
[4] https://www.bertz-fischer.de/IMG/pdf/beute_inhalt.pdf
[5] https://www.heise.de/tp/features/Donald-Trump-Populismus-als-Politik-3600997.html
[6] https://www.ndsu.edu/challeyinstitute/
[7] https://www.ted.com/talks/clay_routledge_why_do_we_feel_nostalgia
[8] https://www.discovermagazine.com/mind/what-happens-in-your-brain-when-you-make-memories
[9] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1156246.neoliberalismus-veroedete-herzen-zerstoerte-seelen.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Get-Snuggly-4208222.html
[11] https://jungle.world/artikel/2020/50/die-suche-nach-dem-apokalyptischen-echo
[12] https://taz.de/Klassenfragen-und-Macht/!5741909/
[13] https://www.jungewelt.de/artikel/418860.verheerungen-des-neoliberalismus-es-einmal-besser-haben.html
[14] https://taz.de/Debatte-Gespaltenes-Prekariat/!5471660/
[15] https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/afd-diskurs-interview-mit-georg-seesslen-a-1082425.html
[16] https://www.fr.de/kultur/literatur/sehnsucht-nach-idylle-11008920.html
[17] https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/is-this-the-end-von-georg-seesslen-eine-art-endkampf-a-1205222.html
[18] http://www.satt.org/gesellschaft/13_01_kapital.html
[19] http://culturmag.de/crimemag/georg-seesslen-zur-systemrelevanz-von-kultur/128182
[20] https://jacobin.de/artikel/von-der-post-politik-zur-hyper-politik-annie-ernaux-moralismus-populismus-identitatspolitik-massenpartei/
[21] https://www.arte.tv/de/videos/RC-014948/der-kapitalismus/?s=09