Hybris des Westens zeigt sich an europäischer Forderung, eigene Truppen in Ukraine zu schicken

Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU am 23. Juni 2022, an der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen teilnahm. Bild: Dati Bendo / CC BY 4.0 Deed

USA verlangen, dass EU-Länder die Lücken schließen. Jetzt zeigt sich, wie abhängig man sich von Washington gemacht hat. Ein Gastbeitrag.

Am 19. März 2024 veröffentlichte der Generalstabschef des französischen Heeres, Pierre Schill, in der Zeitung Le Monde einen Artikel mit dem sehr deutlichen Titel: "Die Armee steht bereit".

"Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor"

Schill hat seine Erfahrungen bei den französischen Auslandseinsätzen in der Zentralafrikanischen Republik, im Tschad, in der Elfenbeinküste und in Somalia gesammelt. In dem Meinungsbeitrag erklärte General Schill, dass seine Truppen für jede Konfrontation "bereit" seien und er 60.000 der 121.000 französischen Soldaten innerhalb eines Monats für jeden Konflikt mobilisieren könne.

Vijay Prashad ist ein indischer Historiker, Redakteur und Journalist.

Er zitierte den alten lateinischen Spruch: "Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor", und fuhr fort: "Die Krisenherde vervielfachen sich und bergen die Gefahr, sich zu verschlimmern oder auszuweiten."

General Schill nannte kein Land, aber es war klar, dass er sich auf die Ukraine bezog, denn sein Artikel erschien gut zwei Wochen nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron am 27. Februar erklärt hatte, dass Truppen der Nato-Staaten möglicherweise in die Ukraine einmarschieren müssten.

Wenige Stunden nach Macrons forscher Äußerung sagte der nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, John Kirby: "Es wird in der Ukraine keine US-Truppen in einer Kampffunktion vor Ort geben."

USA ziehen sich zurück

Das war direkt und klar. In den Vereinigten Staaten sieht die Sache düster aus, da die Unterstützung für die Ukraine sehr schnell abnimmt. Seit 2022 haben die USA der Ukraine mehr als 75 Milliarden Dollar an Hilfe zur Verfügung gestellt (47 Milliarden Dollar an Militärhilfe), die bei Weitem wichtigste Unterstützung für das Land während seines Krieges gegen Russland.

In den letzten Monaten wurden die US-Mittel – insbesondere die Militärhilfe – im US-Kongress jedoch von rechtsgerichteten Republikanern blockiert, die mehr Geld für die Ukraine ablehnen (es ist weniger eine geopolitische Aussage als vielmehr die Bekräftigung einer neuen US-Haltung, wonach andere, z. B. die Europäer, die Last dieser Konflikte tragen sollten).

Während der US-Senat 60 Milliarden Dollar für die Ukraine bewilligte, ließ das US-Repräsentantenhaus nur 300 Millionen Dollar zu. In Kiew forderte der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, die ukrainische Regierung auf, "an die Vereinigten Staaten zu glauben".

"Wir haben enorme Unterstützung geleistet, und wir werden dies auch weiterhin jeden Tag und auf jede uns bekannte Weise tun", sagte er. Aber diese Unterstützung wird nicht unbedingt auf dem Niveau des ersten Kriegsjahres sein.

Europas Wunsch nach einem Einfrieren des Konflikts

Am 1. Februar einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union darauf, der Ukraine 50 Milliarden Euro in Form von "Zuschüssen und Darlehen zu sehr günstigen Bedingungen" zur Verfügung zu stellen. Dieses Geld soll es der ukrainischen Regierung ermöglichen, "Gehälter und Renten zu zahlen und grundlegende öffentliche Dienstleistungen zu erbringen".

Es wird nicht direkt für die militärische Unterstützung verwendet, die auf breiter Front ins Wanken geraten ist und in der europäischen Politik zu neuen Diskussionen geführt hat. In Deutschland zum Beispiel wurde der SPD-Fraktionschef im Bundestag, Rolf Mützenich, von anderen Parteien wegen seiner Verwendung des Wortes "Einfrieren" im Zusammenhang mit der militärischen Unterstützung der Ukraine zur Rede gestellt.

Die ukrainische Regierung wollte Taurus-Langstrecken-Marschflugkörper aus Deutschland erhalten, doch die deutsche Regierung zögert. Dieses Zögern und die Verwendung des Wortes "Einfrieren" durch Mützenich führten zu einer politischen Krise in Deutschland.

Europäer wollen verstärkt Friedenslösung

Die deutsche Debatte über weitere Waffenlieferungen an die Ukraine spiegelt sich tatsächlich in fast allen europäischen Ländern wider, die Waffen für den Krieg gegen Russland geliefert haben. Bisherige Umfragen auf dem gesamten Kontinent zeigen, dass große Mehrheiten gegen die Fortsetzung des Krieges und damit auch gegen die weitere Bewaffnung der Ukraine für diesen Krieg sind.

Eine im Februar für den European Council on Foreign Relations durchgeführte Umfrage zeigt, dass "durchschnittlich nur zehn [Prozent] der Europäer in zwölf Ländern glauben, dass die Ukraine gewinnen wird."

"Die vorherrschende Meinung in einigen Ländern", so die Meinungsforscher, "ist, dass Europa es den USA gleichtun sollte, die ihre Unterstützung für die Ukraine einschränken. Sie sollten Kiew ermutigen, ein Friedensabkommen mit Moskau zu schließen."

Diese Ansicht wird allmählich auch innerhalb politischen Gruppierungen vertreten, die die Ukraine weiterhin aufrüsten wollen. Der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil und sein Parteifreund Mützenich sagen beide, dass Verhandlungen aufgenommen werden müssen, während Klingbeil erklärt, dass das nicht vor den US-Wahlen im November geschehen werde, und bis dahin, wie Mützenich betont, "das Wichtigste jetzt ist, dass [die Ukraine] Artilleriemunition bekommt."

Militär statt Klima

Es spielt keine Rolle mehr, ob Donald Trump oder Joe Biden die Präsidentschaftswahlen in den USA im November gewinnt. So oder so haben sich Trumps Ansichten über europäische Militärausgaben in den Vereinigten Staaten bereits durchgesetzt.

Die Republikaner fordern, die US-Finanzierung für die Ukraine zu drosseln und die Europäer aufzufordern, die Lücke durch eine Erhöhung ihrer eigenen Militärausgaben zu schließen. Letzteres wird schwierig sein, da viele europäische Staaten Schuldenobergrenzen haben.

Sollten sie ihre Militärausgaben erhöhen, würde das auf Kosten notwendiger Sozialprogramme gehen. Die eigenen Umfragedaten der Nato zeigen, dass die europäische Bevölkerung an einer Verlagerung von Sozial- zu Militärausgaben kaum interessiert ist.

Der Zwei-Prozent-BIP-Druck

Noch problematischer für Europa ist, dass seine Länder klimarelevante Investitionen zurückgeschraubt und verteidigungsbezogene Investitionen erhöht haben. Die Europäische Investitionsbank (die 2019 gegründet wird) steht, wie die Financial Times berichtet, "unter Druck, mehr Projekte in der Rüstungsindustrie zu finanzieren", während der Europäische Souveränitätsfonds, der 2022 gegründet wurde, um die Industrialisierung in Europa zu fördern, sich auf die Unterstützung der Militärindustrie konzentrieren wird.

Mit anderen Worten: Die Militärausgaben werden die Verpflichtung, in Klima und den Wiederaufbau der industriellen Basis Europas zu investieren, an den Rand schieben. Im Jahr 2023 stammten zwei Drittel des gesamten Nato-Budgets in Höhe von 1,2 Billionen Euro aus den Vereinigten Staaten, was doppelt so viel ist wie die Ausgaben der Mitgliedsländer der Europäischen Union, Großbritanniens und Norwegens für ihre Streitkräfte.

Trumps Druck auf die europäischen Länder, bis zu zwei Prozent ihres BIP für ihre Armeen auszugeben, wird die Tagesordnung bestimmen, selbst wenn er die Präsidentschaftswahlen verliert.

Man kann Länder zerstören, aber keine Kriege gewinnen

Trotz aller europäischen Prahlerei, Russland zu besiegen, zeigen nüchterne Beurteilungen der europäischen Armeen, dass die europäischen Staaten einfach nicht über die militärischen Kapazitäten am Boden verfügen, um einen Angriffskrieg gegen Russland zu führen, geschweige denn sich selbst angemessen zu verteidigen.

Eine Untersuchung des Wall Street Journal über die militärische Lage in Europa trug den verblüffenden Titel "Alarm Grows Over Weakened Militaries and Empty Arsenals in Europe" ("Alarmglocken werden angesichts geschwächter Militärs und leerer Arsenale in Europa lauter").

Das britische Militär, so die Journalisten, verfüge nur über 150 Panzer und "vielleicht ein Dutzend einsatzfähiger Artilleriegeschütze mit großer Reichweite", während Frankreich "weniger als 90 schwere Artilleriegeschütze" habe und Deutschlands Armee "ausreichend Munition für zwei Tage Kampf" besitze. Für den Fall, dass sie angegriffen werden, verfügen sie nur über wenige Luftabwehrsysteme.

Seit den 1950er-Jahren verlässt sich Europa darauf, dass die Vereinigten Staaten die schweren Bombenangriffe und Kampfhandlungen durchführen, auch in den jüngsten Kriegen in Afghanistan und im Irak. Dank der enormen Feuerkraft der USA sind die Länder des Globalen Nordens in der Lage, Länder platt zu machen, aber sie waren nicht in der Lage, einen Krieg zu gewinnen.

Die Glaubwürdigkeit des Globalen Nordens steht auf dem Spiel

Es ist diese Haltung, die Länder wie China und Russland misstrauisch macht. Denn sie wissen, dass es trotz der Unmöglichkeit eines militärischen Sieges des Globalen Nordens gegen sie keinen Grund gibt, warum diese Länder – angeführt von den Vereinigten Staaten – nicht ein Armageddon riskieren sollten, weil sie die militärischen Mittel dazu haben.

Die Haltung der Vereinigten Staaten, sich überlegen zu fühlen – die sich in den europäischen Hauptstädten widerspiegelt – ist ein weiteres Beispiel für die Hybris und Arroganz des Globalen Nordens: die Weigerung, Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland auch nur in Betracht zu ziehen.

Wenn Macron Dinge sagt wie, dass die Nato Truppen in die Ukraine schicken könnte, ist das nicht nur gefährlich, sondern es belastet auch die Glaubwürdigkeit des Globalen Nordens. Die Nato wurde in Afghanistan besiegt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie große Erfolge gegen Russland erzielen wird.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Globetrotter. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Vijay Prashad ist Stipendiat und Chefkorrespondent bei Globetrotter. Er ist Herausgeber von LeftWord Books und Direktor von Tricontinental: Institute for Social Research. Er ist Senior Non-Resident Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies der Renmin University of China. Er hat mehr als 20 Bücher geschrieben, darunter "The Darker Nations und The Poorer Nations". Seine jüngsten Bücher sind "Struggle Makes Us Human: Learning from Movements for Socialism" und (mit Noam Chomsky) "The Withdrawal: Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".