ICD-11 erschienen: Computerspielen kann als psychische Störung diagnostiziert werden

Bild: Kelly Hunter/CC BY-2.0

WHO nimmt wissenschaftlich umstrittenes Störungsbild auf; erste Versuche mit medikamentöser Behandlung

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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am 18. Juni die neue, nunmehr elfte Fassung des International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems veröffentlicht, kurz ICD-11. Sein Vorgänger, das ICD-10, war von 1983 bis 1992 vorbereitet worden und ist seitdem das international maßgebliche Handbuch für medizinische Diagnosen.

Die Diagnoseschlüssel sind nicht nur für statistische Erhebungen, sondern auch zum Abrechnen von Gesundheitsleistungen entscheidend. Bis zum 1. Januar 2022 dient das neue ICD-11 vor allem zu Probezwecken. Das gibt den WHO-Mitgliedsländern Zeit für Übersetzungen und nationale Anpassungen. Dann wird die neue Fassung aber voraussichtlich das ICD-10 ablösen.

Zwei Handbücher psychischer Störungen

Für psychische Störungen ist neben dem ICD auch das amerikanische DSM wichtig, das in vielen Ländern von Psychiatern und Psychologen verwendet wird. In Deutschland ist zwar das ICD maßgeblich, doch müssen Forscher in der Regel die DSM-Kriterien verwenden oder zumindest berücksichtigen, um in den wichtigsten, oft amerikanisch-dominierten Fachzeitschriften publizieren zu können. Ohne solche Publikationen gibt es weniger Forschungsmittel und Stellen.

Die theoretischen Grundlagen und finanziellen Interessenkonflikte des DSM wurden im eBook über psychische Störungen ausführlicher besprochen (Was sind psychische Störungen?). Wir erinnern uns auch daran, dass der niederländische Psychiatrie- und Psychologie-Professor Peter de Jonge die Entstehung des Handbuchs wegen der BOGSAT-Methode kritisierte: Bunch of Old Guys Sitting Around a Table, eine Reihe älterer Kerle sitzt am Konferenztisch und entscheidet darüber, was als psychische Störungen angesehen wird und was nicht ("Es gibt keine Depressionen").

Wissenschaftlich umstrittene Störung

Diese Bunch of Old Guys gingen für das DSM-5 von 2013 noch davon aus, dass es keine wissenschaftliche Grundlage für eine Computerspielstörung gebe. Für das kürzlich erschienene ICD-11 kommen andere, im Prinzip aber sehr ähnliche Guys nun zu einer anderen Schlussfolgerung.

Dort findet sich nämlich unter dem Klassifikationscode 6C51 eine "Gaming Disorder" als Unterkategorie der "Störungen aufgrund von Suchtverhaltens". Deutsch könnte man vielleicht von "Computerspielstörung" oder umgangssprachlich von "Computerspielsucht" sprechen. Die medizinische Beschreibung lautet, in meiner deutschen Übersetzung:

Die Computerspielstörung wird durch ein Muster anhaltenden oder wiederholten Spielverhaltens ("digitale Spiele" oder "Videospiele") charakterisiert. Dies kann online (das heißt, über das Internet) oder offline geschehen und drückt sich aus durch: 1) eingeschränkte Kontrolle über das Spielen (z.B. Beginn, Häufigkeit, Intensität, Dauer, Beenden, Kontext); 2) zunehmende Priorität für das Spielen in dem Maße, dass es wichtiger wird als andere Interessen im Leben und alltägliche Aktivitäten; und 3) Fortsetzung oder Steigerung des Spielens trotz Auftretens negativer Konsequenzen.

Das Verhaltensmuster ist von hinreichender Ernsthaftigkeit, um zu signifikanter Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Gebieten des Funktionierens zu führen. Das Muster des Spielverhaltens kann durchgängig oder episodisch und wiederholt auftreten.

Damit eine Diagnose gestellt werden kann, liegen das Spielverhalten und die anderen Eigenschaften normalerweise für eine Dauer von mindestens zwölf Monaten vor. Die erforderliche Dauer kann aber auch verkürzt werden, wenn alle diagnostischen Anforderungen erfüllt und die Symptome ernsthaft sind.

ICD

Suchtstörungen in der Psychiatrie

Für das DSM-5 haben Experten die Suchtstörungen an zehn Substanzklassen festgemacht: Alkohol, Koffein, Cannabis, Halluzinogene, Inhalierer, Opioide, sedierende oder angstlösende Mittel, Stimulanzien, Tabak und schließlich "andere bekannte (oder unbekannte) Mittel". Dabei muss man wissen, dass der Begriff der Sucht alles andere als wissenschaftlich eindeutig ist und sich auf diesem Gebiet viele politische und kulturell bedingte Vorstellungen ausdrücken.

Eine Ausnahme haben die amerikanischen Psychiater dann aber doch zugelassen, nämlich die Glückspielstörung ("gambling disorder"). Zur Begründung wurden Studien angeführt, denen zufolge beim Glücksspiel ähnliche Gehirnaktivierungen und ähnliche Verhaltensmuster aufträten wie beim Substanzkonsum. Für eine Computerspielsucht, Sexsucht, Trainingssucht oder Kaufsucht wurden in dem Handbuch von 2013 aber noch keine überzeugenden Hinweise gesehen.

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