zurück zum Artikel

Ibiza-Affäre, Schredder-Affäre, Casinos-Affäre - und wie weiter?

Über interessengesteuerte Wirklichkeitskonstruktion, gewiefte Fallensteller, findige Ankläger und deren meist dämliches Beutetier

In fünf Wochen wählt Österreich. Ich verspüre tiefen Unmut. Vieles, wenn nicht alles, wirkt im Moment hierzulande total verstörend. Ist das noch die "Demokratie", wie wir es in der Schule gelernt haben? Ein Vizekanzler, der die Macht über die bedeutendste Boulevardzeitung erlangen will? Ein Bundeskanzler als Schicki-Micki-Gast im mutmaßlichen Drogenmilieu? Das sollen "Volksvertreter" sein? Nicht wahr, oder?

Zwickt's mi, i man i tram!
Des derf net wohr sein, wo samma daham?
Zwickt's mi, ganz wurscht wohin!
I kann's net glaub'n, ob i ang'soff'n bin?
Ober i glaub, da hilft ka Zwicken
Kunnt' ma net vielleicht irgendwer ane pick'n?
Danke, jetzt is' ma klor, es ist wohr, es ist wohr.

Wolfgang Ambros, 1975

Woher bekomme ich, wenn überhaupt, noch die "nackten Fakten"? Gibt es "das, was ist", überhaupt? Österreichs politische und massenmediale Akteure leisten im Moment zumindest einen Beitrag dafür, dass sich Fragen der Erkenntnistheorie wieder und neu stellen. Derzeit sieht es nämlich so aus, als wäre jedwede Information interessengesteuert, als gäbe es nur die viel geschmähten "alternativen Fakten". Als hätten wir nur Versionen, weil jeder Version ein Interesse, der Wille zu einem "Spin" zugrunde liegt - eingebettet in ein soziales Netzwerk, in einen Fördertopf, in eine Ideologie, in Verpflichtungen politischer oder ökonomischer Art. Ein paar Beispiele:

• Die durchaus wertvolle Aufdecker-Plattform eu-infothek.com [1] wird von einem umtriebigen Glücksspiel-Lobbyisten mit Naheverhältnis zu Novomatic, Strache und Gudenus geleitet. Er hat wohl ein natürliches Interesse daran, Strache und Gudenus als reine Opfer einer perfiden Inszenierung, einer dunklen Verschwörung darzustellen - die andere Seite, also das, was die beiden an dem Abend von sich gegeben haben, interessiert ihn weit weniger.

• Der Betreiber einer anderen Aufdecker-Plattform, zoom.institute [2], hat wiederum seine Interessen, Kurz & Co eins auszuwischen, was sich auch zum Teil aus seiner Biographie erklärt. In seiner Selbstdarstellung nennt [3] er immerhin einige Dinge beim Namen, die auch Gegenstand dieses Artikels sind: "Unsere Gesellschaft ist interessengesteuert. […] Durch transparente und intransparente finanzielle Verzahnung von Politik und Medien kommt es zu einer getönter Berichterstattung und im schlimmsten Fall zu einer Berichterstattung, die nicht aufklärt, sondern verdunkelt."

• Der Chefredakteur einer linksliberalen Wiener Wochenzeitung ist offenbar mit dem führenden Juristen aus der öffentlichen Verwaltung wie auch immer "verbandelt" und hat deshalb mutmaßlich auch ein gewisses Interesse, diesen reinzuwaschen.

• Und dann gibt es die Tageszeitungen mit ihren Redaktionssitzen in Wien: Da wäre zunächst die eher linke Zeitung, die sowieso alles gegen Schwarz-Blau bringt. Dann gibt es die beiden konservativen Blätter mit tendenziell Schwarz-Blau-freundlichem Kurs. Da gibt es eine Chefredakteurin mit einem gewissen "Naheverhältnis" zu Schwarz-Blau - und einen Vorgänger, der sich auf dieses Verhältnis nicht einlassen wollte und nun einen Bestseller [4] darüber geschrieben hat. Und dann gibt es einen Chefredakteur, der wiederum durchaus persönliche, biographische Motive haben mag, den Roten immer wieder eins auszuwischen. Er macht das, das muss man ihm zu Gute halten, mit viel Eleganz und immer wieder ausgezeichnet recherchierten Stories.

• Und dann der ORF: So sehr etwa Armin Wolf auf Neutralität und Unparteilichkeit macht, so klar muss immer sein, dass auch er ein Linker ist, der sich gegen Rechtspopulismus stark macht. Er macht daraus auch in seinem privaten Blog [5] kein Geheimnis. Immerhin ist er sichtlich bemüht, bei Fernsehinterviews das eine vom anderen, soweit es geht, zu trennen.

Gibt es noch Antworten auf Fragen? Klärt Journalismus noch auf?

Bekommen wir eigentlich noch von irgendwo her objektive, neutrale Informationen? Werden irgendwo Fragen rein themengetrieben und "von der Sache her" beantwortet? Werden überhaupt die richtigen Fragen gestellt? Bekommen wir Antworten auf sie?

Hier einige dieser Fragen: Wer sind die wahren Hintermänner und Financiers des Ibiza-Videos? Waren auf Ibiza Drogen im Spiel? Was war auf den geschredderten Festplatten? Gab es Postenschacher und geheime Absprachen in der Casinos-Affäre oder nicht? Wenn wir uns ehrlich sind: Wir sind nicht unterinformiert oder desinformiert. Wir sind nicht informiert. Der Journalismus bietet keine Antworten auf die substantiellen Fragen. Kennt er sie nicht oder verschweigt er sie uns?

Ich glaube, wir müssen uns damit abfinden: In Österreich (und auch anderswo?) ist (fast) jede öffentliche Information das Ergebnis einer interessengesteuerten Wirklichkeitskonstruktion. Jede/r, der was sagt, hat parteipolitische und/oder wirtschaftliche Motive, das so und nicht anders zu sagen. Politiker wie Journalisten.

Ist ein Projekt wie "Addendum" [6] eine rühmliche Ausnahme? Immerhin werden dort zumindest richtige (Forschungs-)Fragen gestellt, es werden Hintergründe beleuchtet, Komplexitäten und Zusammenhänge dargestellt, es wird Datenjournalismus betrieben. Ich vermisse dort wohltuender Weise meistens den typischen "Spin".

Und bin ich selbst eine Ausnahme? Oder merke ich nicht, dass ich selbst interessengesteuert kommuniziere? Mein Interesse ist hic et nunc etwa nur, diesen meinen Gedanken Gehör zu verschaffen. Mich zahlt keine Partei im Hintergrund. Ich schreibe das hier auch sicher nicht wegen des Honorars. Und ich zahle keine Parteispende ein, damit ich später das X-fache an öffentlicher Förderung zurückerhalte oder einen neuen Job bekomme. Solche Tauschgeschäfte aus Steuergeldern scheinen in Österreich Usus zu sein. Ist es auch anderswo so? Schauen wir derzeit nur in Österreich genauer hin? Dann hätte "Ibiza-Gate" ja wirklich Gutes bewirkt.

Datenjournalismus müsste den "Eine Hand wäscht die andere"-Filz darstellen

Datenjournalismus ist nötig: Wer von allen nun bekannt gewordenen Parteispendern hat im Anschluss öffentliche Förderungen erhalten, wer einen Job in einem Aufsichtsrat, welche Verwandte der Spender wurden mit Förderungen und/oder Jobs belohnt, wer bekam öffentliche Aufträge? Einzelmeldungen geisterten in den vergangenen Tagen immer wieder durch die Medien, ich vermisse bislang eine systematische Darstellung. Deshalb hier nur zwei markante Beispiele, es waren schon mehr:

Drittgrößter Spender [der ÖVP, Anmerkung Telepolis] ist Pierer [Chef des oberösterreichischen Motorrad-Herstellers KTM, Anmerkung Telepolis] mit seinen 436.000 Euro im Wahljahr, 2018 und 2019 gab es von ihm keine Spenden. In diesen Jahren hat er pikanterweise Geld bekommen, und zwar 1,8 Millionen Euro an Kulturförderung vom schwarz-blau regierten Land Oberösterreich.

ORF.at [7]

Der Immobilienunternehmer Siegfried Stieglitz hat 2017/18 an den FPÖ-nahen Verein "Austria in Motion" gespendet. Obmann Markus Braun habe eine Spende von 20.000 Euro bestätigt. Stieglitz wurde vom Ex-FPÖ-Minister Norbert Hofer im März 2018 in den ASFINAG-Aufsichtsrat entsendet.

krone.at [8]

Und dann gibt es natürlich auch "Zufälle": Die Milliardenerbin Heidi Goess-Horten spendete der ÖVP in den vergangenen Jahren fast eine Million Euro. Im November 2018 erhielt sie vom damaligen ÖVP-Minister Gernot Blümel das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst überreicht, allerdings gab es dafür einen Schenkungsanlass [9].

Zwei Aspekte der Empörung: Fallensteller und deren Beutetiere

Beide Seiten zu beleuchten und sie nicht gegeneinander auszuspielen, scheint im Moment die aufklärerische Hauptaufgabe zu sein. Fassen wir noch einmal Ibiza-Gate, Schredder-Gate und Casinos-Gate zusammen:

Der Sachverhalt wird komplexer, wenn man bedenkt, dass das eine und das andere zwar immer zusammenhängen, aber auch analytisch getrennt voneinander betrachtet werden müssen: Ich kann die dummdreisten und bedrohlichen Aussagen von Strache und Gudenus moralisch bewerten, ohne dass ich den Entstehungskontext mit ins Kalkül ziehe. (So wie ich die Schwere eines Plagiatsfalls unabhängig davon beurteilen kann, welche Motive jene Person hatte, die mir den Fall gemeldet hat.)

Eine Wahrheit, viele Versionen der Wirklichkeit? Oder nur (noch) Versionen?

Es bleibt ein tiefes Unbehagen mit den vielen Versionen. Vielleicht haben wir eben nicht viele Versionen der einen Wirklichkeit, sondern überhaupt nur die vielen Versionen - wie dies Nelson Goodman, Josef Mitterer und wenige andere erkenntnistheoretische Radikalisten behaupten. Die eine Wirklichkeit wäre dann auch nicht unerkennbar wie bei Kant, ja selbst die Behauptung, dass es sie gibt oder nicht, wäre schon zu viel gesagt. Wir könnten sie schlichtweg aus unserem Vokabular streichen.

Der Unterschied zwischen sozialistisch und kapitalistisch organisierten Medien wäre dann der, dass sozialistische Medien nur eine Version, nur eine Wirklichkeitskonstruktion präsentieren, während kapitalistische Medien eine bunte Vielfalt an Versionen, viele verschiedene Wirklichkeitskonstruktionen servieren. Und das Geld bestimmt in der kapitalistischen Variante, welche Wirklichkeiten die hegemonialen sind. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Mir ist das immer noch lieber als die sozialistische Variante mit all ihren exekutierten Unmenschlichkeiten, aber wohl fühle ich mich mit den derzeitigen Verhältnissen auch ganz und gar nicht.

Ich war lange Zeit (Radikaler) Konstruktivist. Heute sehne ich mich nach Wahrheit und Erkenntnis, in einem strikt empirischen Sinne. Ich sehe im Moment nicht, dass ich die irgendwo her bekomme. Wir bräuchten, wenn wir an Wahrheit und Erkenntnis festhalten wollen, an der einen Wirklichkeit, eine Art "empirischen Journalismus", wie immer der auszusehen hat: datengetrieben, statistisch fundiert. Aber auch Statistiken können manipulieren. Wir kommen aus dem Problem offenbar nicht heraus.

Anmerkung: Für alle hier namentlich genannten oder indirekt angeführten Personen gilt, sofern es um den Verdacht von Straftaten geht, die Unschuldsvermutung.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externer Inhalt geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung [11].

Stefan Weber ist Universitätslektor, Medienwissenschaftler und Plagiatsgutachter in Österreich.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4504405

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.eu-infothek.com
[2] https://zoom.institute
[3] https://zoom.institute/das_ist_zoom.html
[4] https://www.kremayr-scheriau.at/bucher-e-books/titel/kurz-kickl/
[5] https://www.arminwolf.at
[6] https://www.addendum.org
[7] https://orf.at/stories/3134564/
[8] https://www.krone.at/1983107
[9] https://diepresse.com/home/innenpolitik/5676683/Heidi-Horten-groesste-Spenderin-der-OeVP
[10] http://www.eu-infothek.com/wp-content/uploads/2019/08/Sachverhaltsdarstellung-CASAG-WKStA.pdf
[11] https://www.heise.de/Datenschutzerklaerung-der-Heise-Medien-GmbH-Co-KG-4860.html