Identitätspolitik: Woke und weltfremd

Seite 3: Keine Stimme und keine Fürsprecher

Wenn Minderheiten mit sich selbst beschäftigt sind und die Mehrheit, die moralisch anständig sein will, nichts weiter tun kann, als diesen Minderheiten Gehör zu schenken, geht etwas Wichtiges verloren: das Fürsprechen.

Für diejenigen einzutreten, die selbst keine Stimme haben, war einst die wichtigste Funktion linker Kräfte. So ernüchternd diese Tatsache auch ist, aber es waren in Europa nicht von den Unterprivilegierten geplante Revolutionen, die den Arbeitern mehr Rechte verschafft und den Adel entmachtet haben. Es waren vermögende und einflussreiche Adelige und Bürger selbst, die sich der Sache der Ausgebeuteten angenommen haben und ihnen im Schulterschluss mit Arbeiter- und Bauernführern durch Reformen und den nötigen intellektuellen Unterbau zu besseren Lebensbedingungen verholfen haben. Man denke nur an Marx und Engels, die beide keine Arbeiter waren.

Fürsprechen ist unschön und hat immer etwas Überhebliches, etwas moralisch Anrüchiges. Solange aber Menschen existieren, die keine Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen und daher auch keine Sprache haben, ist Fürsprechen eine unschöne Notwendigkeit.

Wer sind diese Sprachlosen? Es sind nicht die Frauen, Afroamerikaner, Migranten oder LGBT-Personen, die in westlichen Ländern heute Bürgerrechte genießen und dort, wo sie Unrecht erfahren, eine Stimme haben, um dieses Unrecht an die Öffentlichkeit zu tragen.

Die Sprachlosen sind die Millionen afrikanischen Bürger, die aufgrund von Überfischung ihrer Meere und Ausbeutung ihrer Länder im 21. Jahrhundert Hunger leiden müssen und keinen Zugang zu Bildung haben, die aber unter dem Hashtag #BlackLivesMatter meist keine Erwähnung fanden. Es sind die Millionen Fabrikarbeiter im Globalen Süden, die sich für einen Hungerlohn zwölf Stunden an Produkten abarbeiten, die im Nachhinein mit antirassistischen oder feministischen Slogans beworben werden.

Es sind die Millionen Frauen, die von ihren ultrakonservativen Männern unterdrückt werden, die aber unter Berufung auf den Respekt vor der jeweiligen Kultur von westlichen Feministinnen und Feministen weitgehend ignoriert werden. Die Liste der am meisten Benachteiligten, jener Menschen, für deren Unrecht es keinen Verhandlungssaal und keine Öffentlichkeit gibt, ließe sich noch weiter fortführen. Es wird aber kaum jemanden interessieren.

Das linke Lager, das sich einst die Beseitigung solcher unmenschlichen Ausbeutungs- und Unterdrückungssysteme auf die Fahnen geschrieben hatte, ist heute zu sehr damit beschäftigt, moralisch unantastbar zu sein und ausschließlich denen zuzuhören, die bereits eine Stimme haben und diese nutzen, um laut und öffentlichkeitswirksam über Alltagsdiskriminierungen und die Privilegien des weißen heterosexuellen Mannes zu klagen.

Die Konsequenz ist eine traurige Lücke in der linken Debattenlandschaft von heute: Menschlichere Produktionsbedingungen, gerechte Löhne, Ressourcenausbeutung und Überfischung durch westliche Konzerne im Globalen Süden, gerechtere Handelsbeziehungen oder Maßnahmen gegen Kindesmisshandlung sind Themen, die kaum noch vorkommen. Diejenigen, die keine Stimme haben, haben ihren wichtigsten Fürsprecher verloren.

Der Dichter Bertolt Brecht, nach heutigen Maßstäben ein wahrer Altlinker, mahnte seine Gesinnungsgenossen frühzeitig vor solchen Entgleisungen: "Sorgt doch, dass ihr, die Welt verlassend, nicht nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt!"