Identitätspolitik: Woke und weltfremd
Wer sich heute politisch links einordnet, muss sich einer ernüchternden Realität stellen: Mit der Identitätspolitik zerstören Linke gerade ihr eigenes Wertefundament. Ein Kommentar
Ich war einmal ein Linker. Ich sage es ohne Scham und ganz unbefangen, so wie man über private Dinge spricht, wenn sie schon längst hinter einem liegen. Wenn man nichts mehr damit zu tun hat. Links sein, das bedeutete für mich, für soziale Gerechtigkeit einzustehen, für Chancengleichheit, für Gleichberechtigung und, wo es sein musste, für Umverteilung. Von oben nach unten, versteht sich.
Links standen für mich diejenigen, die in ihrem Gegenüber jenseits aller Distinktionsmerkmale wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder Kontostand erst einmal den Menschen sahen. Während Rechte in starren Hierarchien dachten, die sie im besten Fall durch wirtschaftlichen Erfolg und im schlimmsten Fall durch Rasse begründeten, sahen Linke nur unterschiedliche Personen mit gleichen Rechten. Dahinter stand die so triviale wie folgenreiche Einsicht, dass ein Mensch auch Jude oder Afghane, weiblich oder homosexuell, beeinträchtigt oder ungebildet oder auch alles zusammen sein kann, ohne dass dies seinen Wert als Menschen schmälern würde.
Linke Politik bestand folglich aus Maßnahmen und Visionen, die dieser humanistischen Grundhaltung entspringen. Gleichberechtigung und Chancengleichheit waren die zwei Hauptziele, denen Sozialdemokraten und gemäßigte Sozialisten entgegenarbeiteten. Mindestlöhne waren links, die Abschaffung von Schulgebühren war links, die gesetzliche Gleichstellung von Mann und Frau war links und so richtig links war auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Und heute?
Tribales Denken auf dem Vormarsch
Bemerkbar machte sich der Umbruch erst in den letzten fünf bis zehn Jahren. Vertritt man die obengenannten politischen Forderungen, reicht das inzwischen kaum noch aus, um als links durchzugehen. Man ist allenfalls altlinks. Einer oder eine, die beispielsweise stutzig wird, wenn die Diskussion um soziale Gerechtigkeit sich nicht mehr vordergründig um Mindestlöhne und Reichensteuern dreht, sondern darum, welche Begriffe und Bezeichnungen armen Menschen am ehesten gerecht werden, ohne herabwürdigend zu klingen. Unterprivilegiert, arm, sozial schwach, bildungsfern.
Ein Begriff wurde nach der Reihe eingeführt und wieder verworfen. Nur an der realen Not der Menschen änderte sich nichts. Handfeste Umverteilungsfragen, die zu Debatten über gerechte Löhne und Bildungschancen führen, spielen in linken Parteien der Gegenwart ohnehin kaum noch eine Rolle, am wenigsten bei den Sozialdemokraten. Gerhard Schröder in Deutschland, Tony Blair in Großbritannien und Matteo Renzi in Italien waren das Gesicht einer Wende im Mitte-Links-Lager, in deren Zuge soziale Gerechtigkeit zugunsten der Liberalisierung des Arbeitsmarkts und der Aushöhlung des Sozialstaats aufgegeben wurde.
Gleichzeitig schreiben sich links stehende und traditionell links verortete Parteien weiterhin den Wert der Gleichheit auf die Fahnen. Nur geht es jetzt nicht mehr um Gleichberechtigung und Chancengleichheit, sondern um gleiche Behandlung. Das ist ein großer Unterschied und hat die Art und Weise, wie linke Politik gemacht wird, radikal verändert. Am stärksten äußert sich die Wende in der aktuellen Rassismusdebatte. Ging es der Bürgerrechtsbewegung in den USA noch um gleiche Rechte für alle, steht jetzt, wo dieses Ziel zumindest für US-Bürger unabhängig von der Hautfarbe erreicht ist, die gleiche Behandlung im Alltag im Vordergrund. Gleiches gilt für europäische Länder.
Es geht um alltägliche Benachteiligungen bei Arbeits- und Wohnungssuche und um sogenannte Mikroaggressionen, also um Äußerungen, die womöglich gar nicht böse gemeint sind, aber als übergriffig und ausgrenzend wahrgenommen werden. Zum Beispiel "Wo kommen deine Eltern her?" oder "Wie gut du schon Deutsch sprichst!"
Dass über solche Diskriminierungen im Alltag aufgeklärt wird, ist freilich begrüßenswert. Das Problem entsteht dann, wenn aus dem zivilen Engagement gegen solche Ungleichbehandlungen im Alltag ein umfassendes politisches Programm gemacht wird. Genau das ermöglicht die Identitätspolitik, die heute bei den meisten Mitte-Links- und Linksparteien in westlichen Ländern betrieben wird.
Neuauflage einer gefährlichen Illusion
Identitätspolitik gründet auf dem eigentlich noblen Gedanken, die gesellschaftliche Position und den Einfluss historisch benachteiligter Gruppen zu verbessern, ob Frauen, Einwanderer, Homosexuelle oder People of Color. Identitätspolitik ist die Forderung nach gleicher gesellschaftlicher Teilhabe für alle Gruppen und äußert sich beispielsweise im Ruf nach Frauenquoten, gendergerechter Sprache oder im Engagement gegen Alltagsrassismus.
Das Problem liegt im fast ausschließlichen Fokus auf tatsächlich oder vermeintlich oder benachteiligte Gruppen. Dieses Gruppendenken, das teilweise schon ins Tribale umschlägt, wie im Falle der niederländischen Übersetzung der afroamerikanischen Dichterin Amanda Gorman, als einer weißen Übersetzerin aufgrund fehlender "Erfahrungswelt" die Fähigkeit und Berechtigung abgesprochen wurde, ein Gorman-Gedicht ins Niederländische zu übertragen, zieht zwischen mutmaßlich Privilegierten und Benachteiligten klare Grenzen.
Das ausschlaggebende Kriterium, ob jemand benachteiligt ist und daher besondere politische Vertretung braucht, war für Linke traditionell der sozioökonomische Status einer Person, der sich aus verschiedenen Faktoren, wie formalen Bildungsabschlüssen, Beruf und Einkommen, kultureller Praxis, Möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Teilhabe, Wohnort und Eigentumsverhältnissen ergibt. In der Identitätspolitik sind die Trennlinien aber klarer, das vordergründige Kriterium für Benachteiligung ist hier die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, die sich meistens schnell an äußerlichen Merkmalen erkennen lässt.
Das erleichtert die Einordnung einer viel zu komplexen Welt ungemein: Privilegiert, wenn nicht sogar Ausbeuter und Unterdrücker, sind automatisch weiße heterosexuelle Männer, benachteiligt sind dagegen unter anderem Frauen, Afroamerikaner, Migranten, LGBT-Personen und alle intersektionalen Gruppen, die sich daraus ergeben können. Identitätspolitik perpetuiert auf diese Weise die gefährliche Illusion, Unterdrücker und Unterdrückte anhand äußerlicher Merkmale schnell und unkompliziert erkennen zu können - eine "linke" Wahnvorstellung, die mit der Eliminierung von Brillenträgern unter Pol Pot einst ihren traurigen Höhepunkt erreicht hat.
Der weiße Mann: privilegiert und moralisch minderwertig
Wenn die Frage, wer von linken Parteien repräsentiert werden soll, sich hauptsächlich durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheiten entscheidet, fallen automatisch unzählige Menschen durch das grobmaschige Netz dieser neuen linken "Awareness" hindurch: beispielsweise die Millionen weißer männlicher Arbeiter, die sich in den meisten westlichen Staaten politisch nicht mehr vertreten fühlen und als Konsequenz in Scharen rechten Populisten zulaufen.
Der Unmut ist einigermaßen nachvollziehbar: Warum sollte ein schwarzer Homosexueller, der beruflich erfolgreich ist und ein hübsches Einfamilienhaus mit Garten bewohnt, allein aufgrund seines Minderheitsstatus mehr politische Aufmerksamkeit verdienen als ein weißer unterbezahlter Arbeiter, der nebenan im Plattenbau wohnt?
Doch für die Gerechtigkeitsdebatten der neuen Linken spielt das sozioökonomische Prekariat kaum eine Rolle mehr. Was die großen Konzerne am meisten freuen dürfte. Eine Marketing-Abteilung nach der anderen hat in den letzten Jahren die linke Identitätspolitik und die neue "Woke"-Kultur, also das Bewusstsein für die politischen Anliegen vermeintlich oder tatsächlich benachteiligter Minderheiten, für sich entdeckt. Das Ergebnis sind Werbe-Spots, die politische Positionen transportieren, indem Black-Lives-Matter-Slogans benutzt werden oder toxische Männlichkeit verurteilt wird.
Die Kritik daran ist nicht von der Hand zu weisen: Warum gaben sich dieselben Konzerne nicht genauso aufgeklärt und vom Guten überzeugt, als es noch um faire Löhne und menschenwürdige Arbeitsbedingungen ging? Sollte es nicht zu denken geben, wenn ein Jeff Bezos die linksliberale Washington Post aufkauft? Nicht um sie auf Kurs zu bringen, sondern weil sie mit ihren Inhalten bereits einen Kurs vertritt, der für einen Multimilliardär, der immer wieder mit Vorwürfen der Ausbeutung und Steuerflucht konfrontiert ist, kein Problem mehr darstellt.
Vor "Mikroaggressionen" kann kein Gesetz schützen
Allein schon der Anspruch der neuen Linken, durch Politik zu bewirken, dass alle Menschengruppen im Alltag gleichbehandelt werden und keine "Mikroaggressionen" erfahren, ist irreführend. Im Gegensatz zur Diskriminierung, gegen die ein Martin Luther King ankämpfte, lässt sich die Alltagsdiskriminierung kaum durch legislative Eingriffe, sondern durch gesellschaftliche Sensibilisierung bekämpfen.
Der Handlungsspielraum der Gesetzesgeber ist hier also beschränkt - ganz im Gegensatz zu sozioökonomischen Benachteiligungen, die nicht durch Sensibilisierung, sondern nur durch politische Maßnahmen der Umverteilung oder bessere Bildungschancen beseitigt werden könnten.
Es gibt eben kein Gesetz, das Menschen vor Kommentaren wie "Und wo kommen deine Eltern her?" schützt und es gibt - zum Glück - auch kein Gesetz, das fragwürdige "Indianerkostüme" verbietet. Aus diesem Grund muss Identitätspolitik auf neue Disziplinierungsmaßnahmen zurückgreifen: Shitstorms, öffentliches Ächten und anonymes Melden bei der Personalabteilung oder beim Universitätsrektorat - die Konsequenzen sind auch als "Cancel Culture" bekannt.
In den USA, die in diesem politischen Trend Vorreiter sind, wurden Studenten bereits aus Universitätskursen entfernt weil sie festgestellt haben, dass Homosexualität in der Bibel als Sünde gilt, und ein Journalist bereits gefeuert, weil er in einer Diskussion über Rassismus beispielhaft das N-Wort ausgesprochen hatte.
An deutschsprachigen Universitäten bleibt es vorerst nur bei Ausladungen und Protestaktionen – zum Beispiel Niederbrüllen – gegen umstrittene Vortragende, aber auch hier konstatierte das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit im März dieses Jahres ein zunehmend einschüchterndes Klima für abweichende Positionen.
Befeuert wird diese Welle öffentlicher Anklagen durch eine gesellschaftliche Entwicklung, die unter Soziologen als "victimhood culture" bekannt ist. Während in archaischen Gesellschaften - sogenannten "honour cultures" - das Opfer eines Übergriffs durch das widerfahrene Unrecht auch an moralischem Status einbüßt und diesen Ehrverlust nur dadurch wiedergutmachen kann, dass es selbst zum Täter wurde, etwa durch einen Akt der Blutrache, haben moderne Gesellschaften mit einem funktionierenden Rechtsstaat eine sogenannte "dignity culture", in der Recht und Unrecht Sache der Justiz ist und der moralische Status des Opfers weder erhöht noch geschmälert wird.
Die "victimhood culture" ist dagegen eine Gesellschaft, die der "honor culture" diametral entgegensteht: Hier gewinnt das Opfer an moralischem Status, während der Täter ihn verliert. Menschen, denen ein tatsächliches oder vermeintliches Unrecht widerfahren ist, haben in einer solchen Gesellschaft den Anreiz, sich mit ihrer Unrechtserfahrung nicht (nur) an ein Gericht, sondern an die Öffentlichkeit wenden und den Täter öffentlich anklagen zu können: Public Shaming. Das sichert dem Opfer allgemeine Aufmerksamkeit, Gehör und Zuwendung.
Da sich in einem identitätspolitisch aufgeladenen Umfeld die Frage nach Privilegien und Schuld nicht durch Lebensumstände und persönliches Handeln, sondern bereits durch unveränderliche Zugehörigkeiten entscheidet, steht der weiße und heterosexuelle Mann zwangsläufig in einer Position der moralischen Bringschuld. Wie kann er seinen von vorneherein niedrigeren moralischen Status verbessern?
Die identitätspolitisch geprägte Linke kennt darauf eine eindeutige Antwort: Woke sein. In anderen Worten: Schweigen. Den Kampf von historisch benachteiligten Minderheiten um immer neue Rechte zwar unterstützen, sich selbst aber zurücknehmen und die tatsächlich oder vermeintlich Benachteiligten für sich selbst sprechen lassen.
Keine Stimme und keine Fürsprecher
Wenn Minderheiten mit sich selbst beschäftigt sind und die Mehrheit, die moralisch anständig sein will, nichts weiter tun kann, als diesen Minderheiten Gehör zu schenken, geht etwas Wichtiges verloren: das Fürsprechen.
Für diejenigen einzutreten, die selbst keine Stimme haben, war einst die wichtigste Funktion linker Kräfte. So ernüchternd diese Tatsache auch ist, aber es waren in Europa nicht von den Unterprivilegierten geplante Revolutionen, die den Arbeitern mehr Rechte verschafft und den Adel entmachtet haben. Es waren vermögende und einflussreiche Adelige und Bürger selbst, die sich der Sache der Ausgebeuteten angenommen haben und ihnen im Schulterschluss mit Arbeiter- und Bauernführern durch Reformen und den nötigen intellektuellen Unterbau zu besseren Lebensbedingungen verholfen haben. Man denke nur an Marx und Engels, die beide keine Arbeiter waren.
Fürsprechen ist unschön und hat immer etwas Überhebliches, etwas moralisch Anrüchiges. Solange aber Menschen existieren, die keine Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen und daher auch keine Sprache haben, ist Fürsprechen eine unschöne Notwendigkeit.
Wer sind diese Sprachlosen? Es sind nicht die Frauen, Afroamerikaner, Migranten oder LGBT-Personen, die in westlichen Ländern heute Bürgerrechte genießen und dort, wo sie Unrecht erfahren, eine Stimme haben, um dieses Unrecht an die Öffentlichkeit zu tragen.
Die Sprachlosen sind die Millionen afrikanischen Bürger, die aufgrund von Überfischung ihrer Meere und Ausbeutung ihrer Länder im 21. Jahrhundert Hunger leiden müssen und keinen Zugang zu Bildung haben, die aber unter dem Hashtag #BlackLivesMatter meist keine Erwähnung fanden. Es sind die Millionen Fabrikarbeiter im Globalen Süden, die sich für einen Hungerlohn zwölf Stunden an Produkten abarbeiten, die im Nachhinein mit antirassistischen oder feministischen Slogans beworben werden.
Es sind die Millionen Frauen, die von ihren ultrakonservativen Männern unterdrückt werden, die aber unter Berufung auf den Respekt vor der jeweiligen Kultur von westlichen Feministinnen und Feministen weitgehend ignoriert werden. Die Liste der am meisten Benachteiligten, jener Menschen, für deren Unrecht es keinen Verhandlungssaal und keine Öffentlichkeit gibt, ließe sich noch weiter fortführen. Es wird aber kaum jemanden interessieren.
Das linke Lager, das sich einst die Beseitigung solcher unmenschlichen Ausbeutungs- und Unterdrückungssysteme auf die Fahnen geschrieben hatte, ist heute zu sehr damit beschäftigt, moralisch unantastbar zu sein und ausschließlich denen zuzuhören, die bereits eine Stimme haben und diese nutzen, um laut und öffentlichkeitswirksam über Alltagsdiskriminierungen und die Privilegien des weißen heterosexuellen Mannes zu klagen.
Die Konsequenz ist eine traurige Lücke in der linken Debattenlandschaft von heute: Menschlichere Produktionsbedingungen, gerechte Löhne, Ressourcenausbeutung und Überfischung durch westliche Konzerne im Globalen Süden, gerechtere Handelsbeziehungen oder Maßnahmen gegen Kindesmisshandlung sind Themen, die kaum noch vorkommen. Diejenigen, die keine Stimme haben, haben ihren wichtigsten Fürsprecher verloren.
Der Dichter Bertolt Brecht, nach heutigen Maßstäben ein wahrer Altlinker, mahnte seine Gesinnungsgenossen frühzeitig vor solchen Entgleisungen: "Sorgt doch, dass ihr, die Welt verlassend, nicht nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt!"